Eine altbekannte Flüssigkeit dient einer modernen Welt
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Kanada
EINE Flüssigkeit für Verpackungsindustrie und Baugewerbe, für Technik und Kunst, benötigt für Auto, Radio, Fernsehen und für Satelliten, unentbehrlich in Krankenhäusern, Fabriken und Wohnungen; manchmal so fest wie Stahl, hart wie Edelstein, schwer wie Eisen, aber auch zerbrechlich wie Eierschalen, weich wie Seide, leicht wie Kork; so reichlich vorhanden wie nur wenige andere Stoffe — das ist die uralte Flüssigkeit: das Glas.
„Das Glas — eine Flüssigkeit?“ fragst du vielleicht ungläubig. Ja, denn wenn Glas aus einem weißglühenden Gemisch geschmolzener Bestandteile gebildet wird, geht das unfeste Strukturbild einer Flüssigkeit, die unregelmäßige Anordnung der Atome und Moleküle, nicht verloren, selbst dann nicht, wenn es starr wie ein gewöhnlicher fester Körper wird. Eine Flüssigkeit, die aussieht, sich anfühlt und sich verhält wie ein fester Körper, erscheint einfach phantastisch, aber die besonderen Requisiten seines einzigartigen Standes machen das Glas zu einem deiner vielseitigsten und wertvollsten Diener.
Die Herstellung von Glas ist eine der ältesten Industrien. Sie ist aber trotzdem sehr modern. Seit mehr als fünfunddreißig Jahrhunderten gebraucht der Mensch Glas, aber erst seit ungefähr fünfundsiebzig Jahren kennt er seine vielseitige Verwendung. Tatsächlich wurde erst im Jahre 1903 eine Glasflasche vollautomatisch hergestellt, und erst etwa 1916 begann die maschinelle Herstellung von gezogenem Flachglas. Seit dieser Zeit wuchsen die Kenntnisse, und man hatte bessere Möglichkeiten, um diese erstaunliche Flüssigkeit zu verwerten. Das ermöglichte eine Massenerzeugung, die ihrerseits das Glas, früher ein unschätzbarer Luxusartikel, in eine Unzahl von Gebrauchsgegenständen umwandelte.
Der kontinuierliche Herstellungsvorgang
Die Grundbestandteile des Glases sind seit Tausenden von Jahren unverändert geblieben. Etwa 90 Prozent des Glases, das in der Welt erzeugt wird, werden noch aus Quarzsand, Kalk und Soda hergestellt, aber die Produktion ist beachtenswert angestiegen, um den heutigen Bedarf decken zu können. Die Glashersteller wählen heute gewissenhaft viele Tonnen reine Rohmaterialien aus, wiegen sie bis auf das Gramm genau ab, mischen sie gründlich und legen dann das Gemenge in riesige Glasschmelzwannen ein, die ungefähr 1 000 t Glasschmelze fassen können. Obwohl beigefügtes Bruchglas oder Glasbruchstücke, denen dasselbe Rezept zugrunde liegt, mitverarbeitet werden und den Schmelzbeginn beschleunigen, muß der Schmelzofen bis auf eine Temperatur von etwa 1 500 °C gebracht werden. Bei dieser Temperatur hat die Glasschmelze eine so zerstörende Wirkung, daß der Vorgang mit dem Schmelzen eines Eisblocks in einem Zuckerbehälter verglichen wird. Die hitzebeständigen Wände des Schmelzofens müssen gewöhnlich alle zwei bis vier Jahre erneuert werden.
Wenn der Vorgang jedoch einmal in Tätigkeit gebracht worden ist, so hält er Tage, ja Wochen an, bis Reparaturen oder Änderungen der Rezepte es notwendig machen, den Ofen außer Betrieb zu setzen. Das Gemenge wird beständig an einem Ende des Schmelzofens eingegeben, während des Schmelzprozesses zu einer Flüssigkeit mit einheitlicher Viskosität gemischt, durch Zutaten geläutert und als Glas, das frei von Blasen und Unreinheiten ist, aus dem anderen Ende zur Weiterverarbeitung herausgezogen. Die heiße rötliche Flüssigkeit ist dann fertig für den Ziehvorgang, für das Pressen oder Blasen und kann anschließend in deinen Dienst gestellt werden.
Fensterglas
Obwohl während des ersten Jahrhunderts u. Z. einige modern eingerichtete Häuser der Römer schon mit fast durchsichtigen Glasfenstern ausgestattet waren, wurden sie etwas mehr als ein Jahrhundert später noch als eine Kostbarkeit angesehen. Heute würde sich die jährliche Produktion von Fensterglas über Tausende von Kilometern erstrecken, da diese altbekannte Flüssigkeit gezogen, geschnitten und geformt wird, um für Licht zu sorgen, Lärm zu verringern, Wärme zu halten und vor Kälte zu schützen.
Gewöhnliches Fensterglas wird aus dem Ziehherd, einem kleinen Anbau an dem Schmelzofen, gezogen. Zu Beginn des Ziehvorgangs wird in die Schmelze ein Streifen Drahtnetz oder Blech getaucht und langsam hochgezogen. Die Glasschmelze ist flüssig genug, um fließen zu können, doch ist sie auch zäh genug, um dem „Fangblech“ anhaften zu können, so daß sie in vertikaler Richtung zu einem zusammenhängenden Band anwächst. Das Fangblech wird hinweggetan, da jetzt elektrisch angetriebene Rollen oder Walzen die erstarrte Flüssigkeit etwa neun Meter geradewegs weiter hochziehen zu einem Obergeschoß, wo das feuerpolierte Glasband auf handliche Längen abgeschnitten wird.
Die Glasflächen des nach diesem Verfahren hergestellten Tafelglases sind nicht vollkommen planparallel, was leichte optische Verzerrungen verursacht. Um optisch einwandfreie Glasscheiben für Fenster und Spiegel zu erhalten, wird Flachglas aus der Arbeitswanne gezogen und in waagerechter Richtung als ein zusammenhängendes Band auf dreihundert Metern durch riesige Schleifmaschinen hindurch weiterbewegt. Es wird auf beiden Seiten gleichzeitig zu einer nahezu vollkommenen Fläche geschliffen. Das Tafelglas wird dann in Teile geschnitten und poliert und kann so einem Autofahrer eine unverzerrte Sicht der Straße ermöglichen oder ein kleines Kind durch das fehlerlose rosigwangige Spiegelbild in dem Glas begeistern.
Float-Glass-Verfahren
Ein revolutionierendes neues Verfahren zur Herstellung von Flachglas von hoher Qualität wurde im Jahre 1959 angekündigt. Es wird das Float-Glass-Verfahren genannt und schaltet die mit hohen Kosten verbundenen Schleif- und Polierverfahren vollständig aus.
Die Glasschmelze fließt von dem Schmelzofen in einem zusammenhängenden Band auf die Oberfläche eines anschließenden Beckens, das mit geschmolzenem Zinn gefüllt ist. Das Glas wird heiß genug gehalten, um alle Unebenheiten selbst ausgleichen zu können, und so wird die Oberfläche vollständig flach und gleich stark. Das Glas wird sorgfältig gekühlt, während es dem Float-Bad entlanggeführt wird, damit man eine harte feuerpolierte Oberfläche, frei von jeglicher Verzerrung, bekommt.
Float-Glass wurde begeistert aufgenommen, besonders von der Automobilindustrie, die ungefähr 50 Prozent der jährlichen Flachglasproduktion verbraucht.
Viele Verwendungsmöglichkeiten
Jedes Jahr werden aus Glas etwa 29 000 000 000 Behälter hergestellt, die für alles, von der Nahrung von Kleinkindern angefangen, bis zu ätzenden Säuren, verwandt werden. Kein anderes bekanntes Material kann diesen Dienst besser ausführen, der durch die Entdeckung im Altertum ermöglicht wurde: daß heiße Glasmasse zu fast jeglicher Form geblasen werden kann. Die moderne Technik setzte diese Entdeckung in eine Massenerzeugung phantastischen Ausmaßes um.
Wenn Flaschen oder Gläser hergestellt werden, fallen Glasposten aus der Schmelzwanne so schnell in leere Formen, daß sie fast unsichtbar sind. Ein Preßstempel zwingt der flüssigen Glasmasse die Gestalt der Vorform auf, und diese Glasmasse wird dann in eine Hauptform (Fertigform) gebracht, wobei komprimierte Luft das Glas in die endgültige Form bläst. Die Metallform öffnet sich, und zum Vorschein kommt der Behälter, noch glühend rot, ungefähr sechs Sekunden nachdem die Glasmasse die Schmelzwanne verlassen hat.
Eine alte Kunst
So eindrucksvoll diese komplizierten Maschinen auch sein mögen, ist es doch der Glasbläser, der den Beobachter anzieht. Er gebraucht nur ein paar einfache Werkzeuge und herkömmliche Kunstgriffe eines alten Handwerks, und doch bringt dieser Kunsthandwerker aus der Flüssigkeit Waren von solcher Kompliziertheit und Schönheit hervor, die durch die Automation kaum erreicht werden können.
Kunstglas und schönes Eßgeschirr sind die Produkte des „Freihandblasens“. Die Technik dieses klassischen Berufes ist schon Hunderte von Jahren alt. In Venedig, das im vierzehnten Jahrhundert die Metropole der Glasindustrie war, konnten die Glasbläser mit dem Tode bestraft werden, wenn sie die Geheimnisse dieser Kunst verrieten. Später, ungefähr in der Mitte des 17. Jahrhunderts, wurde ein glänzendes, durchsichtiges Glas in England entwickelt, das besonders zum Mundblasen geeignet war. Dieses Glas, bekannt als Bleikristall, wird am häufigsten für moderne Kostbarkeiten aus Glas verlangt.
Die Glasbläser arbeiten mit sechs oder sieben Mann in einem „Stuhl“ zusammen. Zuerst nimmt der „Glasmacher“ den benötigten Glasposten auf das Ende seiner Glasbläserpfeife. Dieses hohle Eisenrohr ist ungefähr 150 cm lang und hat an einem Ende einen Handgriff und ein Mundstück. Für den Uneingeweihten ist die Glasbläserpfeife ein langes, plumpes Rohr, aber für den Glasmacher ist sie das unentbehrliche Werkzeug eines Kunsthandwerkers und seines Handwerks.
Der Glasmacher formt das heiße Glas, indem er es auf einem „Marbeltisch“ oder auf einer Eisenplatte wälzt. Ein Hauch durch die Pfeife zwingt dem Glas eine anfängliche Form auf. Verschiedene Arbeiter helfen durch geschickte Handgriffe das Glas zu formen, drehen und schwenken die Glasbläserpfeife ständig, um die weiche Form des Glases vor dem Zusammensacken zu bewahren. Das Schwenken der Glasbläserpfeife nach unten formt das Glas länglich; schnelle Drehung glättet es. Eigens für die Formgestaltung gebrauchte Werkzeuge dehnen die Öffnung aus oder gestalten einen schmalen Hals, begradigen Ecken, runden den Posten und schneiden überschüssiges Glas weg. Größe, Form und Dicke hängen von der Luft ab, die in das Glas hineingeblasen wird, von dem Winkel, in dem die Glasbläserpfeife gehalten wird, und davon, in welchem Maße man das Glas abkühlen läßt. Von Zeit zu Zeit muß das Glas erneut in der „Auftreibmuffel“ erwärmt werden — ein Ofen, der für die Erwärmung benutzt wird —, um das Glas heiß genug, das heißt auf ungefähr 1 000 °C, zu halten, damit es bearbeitet werden kann. Während des ganzen Vorganges führt das wachsame Auge des „Vorarbeiters“ das Kunstwerk zu seiner endgültigen Schönheit. Als der Meisterbläser seines „Stuhles“ verrichtet er die schwierigeren Arbeiten selbst, da er auf viele Jahre zurückblicken kann, in denen er die notwendige Geschicklichkeit erworben hat, die anmutige Bewegung des flüssigen Glases auszunutzen, um saubere, fließende Konturen zustande zu bringen. Seine Kenntnisse darüber, wo und wie das Glas sich bewegen wird, sind fast unglaubhaft. Wenn die künstlerische Arbeit des „Vorarbeiters“ ausgeführt und er gewiß ist, daß das Stück fehlerlos ist, wird es in den Kühlofen gestellt, in dem es allmählich abkühlt.
Während der endgültigen Formgebung wird das Glas mit einem langen, festen „Hefteisen“ gehalten, das eine Narbe am Boden zurückläßt. Diese Bruchstelle wird glattgeschliffen und ist auf einigen Stücken als seichte Vertiefung zu erkennen, die anzeigt, daß es echtes mundgeblasenes Glas ist.
Das Glas kann durch Einschnitte verziert werden oder durch die schwierige Kunst des Gravierens, die mit Hilfe von Kupferrädchen ausgeführt wird. Der Graveur kann bis zu fünfzig rotierende Rädchen von verschiedenem Durchmesser benutzen, denen Öl mit Schmirgelpuder zugeführt wird, um ein seichtes Muster einzuschneiden, das dem Auge als niedriges Relief erscheint. Dadurch, daß das Glas glänzt, wird das Licht eingefangen, und das Meisterwerk des Graveurs verleiht der Glasoberfläche eine brillante Lichtwirkung. Diese Kunstwerke aus der altbekannten Flüssigkeit können Tausende von Dollar wert sein, was uns daran erinnert, daß Glas an Wert auch heute noch den Edelsteinen gleichkommt, geradeso, wie es vor 3 500 Jahren der Fall war. — Hiob 28:15-19.
Das Ausmaß, in dem die Eigenschaften des Glases variieren, ist so groß, daß über 100 000 Glasrezepte für den verschiedenen Gebrauch entwickelt worden sind. Mannigfaltige Abwandlungen des Bleikristallglases werden für Isolatoren für elektrische Vorrichtungen gebraucht, für Neonleuchten und genaue optische Linsen. Reines Quarzglas wird für Spiegel für Satellitenteleskope und Laserstrahlenreflektoren verwandt. Eine besondere Art des Glases, das der ungeheuren Reibungswärme, die sich beim Wiedereintritt in die Atmosphäre entwickelt, und auch der Kälte, die im Weltraum herrscht, widersteht, wird für Fenster der Raumfahrzeuge benutzt.
Aus Kombinationen von besonderen Rezepten und durch eine besondere Behandlung werden Farbglastäfelung, Bausteine und wärmedämmende Baustoffe hergestellt, und diese Glaserzeugnisse verschönern oder schützen moderne Gebäude. Getempertes und chemisch zäh gemachtes Glas trägt zu deiner Sicherheit bei. Farbgläser schützen deine Augen. Heute erscheinen die neuen Familien der Glasfasern und der Glaskeramiken, und sie sind schon fast so vielseitig verwendbar wie die altbekannte Flüssigkeit, von der sie abstammen.
Diese erstaunliche Flüssigkeit des Altertums ist tatsächlich dein neuzeitlicher Diener in tausendfacher Hinsicht, und er verlangt nur dafür, daß du ihn ab und zu einmal reinigst, so daß der strahlende Glanz auch weiterhin hell leuchten kann.