Kann Lima je vergessen?
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Peru
ES WAR der 9. Januar 1570! An diesem Tag geschah etwas, was im ganzen Kolonialreich Peru Schrecken verbreitete, und bei der Erinnerung daran überläuft die Menschen dort noch heute ein Grauen. Paradoxerweise war es ein warmer sonniger Tag, an dem ein Schiff, das die Flagge Philips II., des Königs von Spanien, führte, den Hafen von Callao anlief und zwischen Barken und Briggschonern aus vielen fernen Ländern Anker warf. Die Besatzung zog die Segel ein, und die Fahrgäste wurden in einem kleinen Boot an Land gerudert.
Unter den Fahrgästen befand sich der Spanier Servan de Cerezuela; unter dem Arm trug er ein amtliches Dokument, dessen Inhalt unter den Kolonisten bald eine Sensation hervorrufen sollte. Es war ein königliches Schriftstück, unterzeichnet und versiegelt vor fast einem Jahr, ein Schriftstück, durch das eine dreihundertjährige Schreckenszeit, eine Zeit der Einschüchterung und ständigen Furcht für die Bewohner dieses Landes, anbrach. Die gefürchtete Inquisition, auch Heiliges Offizium genannt, wurde damit in Peru eingeführt.
Die europäischen Bewohner Perus verfolgten diese Entwicklung mit größter Besorgnis, und das mit Recht. Sie kannten die Schrecken der Inquisition aus ihrem Heimatland. In ihnen wurden Erinnerungen an furchtbare Foltern, die bis zur Verstümmelung fortgesetzt wurden, und an qualvolle Hinrichtungsarten wach, sei es, weil sie selbst Zeuge davon gewesen waren, sei es, daß sie nur davon gehört hatten.
Die Inquisition
Die Inquisition war eine furchtbare Waffe der Einschüchterung, die zu Anfang des 13. Jahrhunderts geschmiedet worden war. Ihr Zweck bestand im Aufspüren und Bestrafen von Ketzern und Ungläubigen. Papst Gregor IX. machte sie 1232 zu einer festen Einrichtung, indem er Richter ernannte, die später unter der Bezeichnung „Inquisitoren“ bekannt waren. Jeder, der in einem „christlichen“ Land lebte, sollte zum Gehorsam gegenüber der Kirche gezwungen werden. Man duldete keine abweichende Meinung, kein persönliches Urteil, kein Anzweifeln der Lehren der Kirche.
Die Vertreter der Kirche behaupteten, sie würden diese Untersuchungen, auch die Folterungen, aus Liebe zu den Opfern durchführen. Für den Tod zahlloser Personen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt würden, sei die Kirche nicht verantwortlich, da die Strafe von der weltlichen Obrigkeit vollzogen würde.
Wir können jedoch besser beurteilen, wer für den grausamen Tod der vielen Opfer der Inquisition verantwortlich ist, wenn wir erfahren, daß in dem Werk Catholic Encyclopedia folgendes zugegeben wird: „Es kann kaum bezweifelt werden, daß die Inquisition vorwiegend eine kirchliche Einrichtung war. ... Die Päpste verpflichteten die weltliche Obrigkeit bei Strafe der Exkommunikation, die Strafe — Tod auf dem Scheiterhaufen —, die über verstockte Ketzer verhängt wurde, zu vollstrecken“ (Bd. 8, S. 34, 37). Im Jahre 1252 gestattete Papst Innozenz IV. die Anwendung der Folter, und später wurden die Inquisitoren ermächtigt, die Folterungen selbst durchzuführen, damit niemand etwas darüber erfahre.
Diese angeblich christlichen Inquisitoren unterwarfen ihre Opfer den entsetzlichsten Martern, um Geständnisse zu erpressen. Viele dieser Inquisitoren waren Mönche, Angehörige des Dominikanerordens; das asketische Leben, das diese Männer führten, und ihr Fanatismus hatte sie so gefühllos gemacht, daß sie die Leiden anderer nicht mehr mitempfinden konnten und daher nicht zögerten, die grausamsten Foltermittel anzuwenden.
Lima unter der Geißel
Kein Wunder, daß Limas Bevölkerung bestürzt war. Nun würde kein Geheimnis mehr heilig sein. Jede Äußerung konnte ein Anklagegrund werden. Die eigene Frau, der eigene Mann, das eigene Kind oder der eigene Vater und die eigene Mutter konnten einen anzeigen. Darauf zielte der „Ketzererlaß“ ab, ein Dokument, das an jedem dritten Sonntag während der österlichen Fastenzeit nach der „heiligen Messe und Predigt“ verlesen wurde. Folgende Auszüge, übersetzt aus den „Annalen der Inquisition in Lima“, sprechen für sich selbst:
„Wir, die Inquisitoren gegen die Ketzerei und den Abfall vom Glauben in den Königreichen von Peru, entbieten allen Mitbewohnern der Stadt der Könige jeden Ranges, jeden Standes, allen Männern in Amt und Würden unseren Gruß in Christo.
Es sei Euch kundgetan, daß es zur Förderung des Glaubens dienlich erscheint, den schlechten Samen von dem guten zu trennen, und um unseren Herrn vor jedem Schaden zu bewahren, gebieten wir jedem einzelnen von Euch, es uns mitzuteilen oder zu offenbaren, wenn Ihr jemand — er mag lebend, anwesend, abwesend oder verstorben sein — kennt oder jemand seht, der ketzerische, verdächtige, irrige, unbesonnene, schlechte, skandalöse oder gotteslästerliche Worte oder Meinungen äußert oder glaubt, oder von jemand hört, daß er das tut.
Wir gebieten Euch, uns jeden anzuzeigen, von dem Ihr wißt oder gehört habt, daß er den im Gesetz Mose gebotenen Sabbat hält. ... oder der nicht glaubt, daß Jesus Christus Gott ist ... oder daß er von der Muttergottes, die vor der Geburt, in der Geburt und nach der Geburt Christi unversehrte Jungfrau geblieben ist, geboren wurde. ... oder daß der Papst oder die Diener des Altars nicht die Macht haben, Sünden zu vergeben, ... oder daß es kein Fegfeuer gibt und daß in den Kirchen keine Heiligenbilder sein sollten oder daß man nicht für die Toten beten sollte. ...
Wir gebieten Euch, es uns anzuzeigen, wenn Ihr erfahren habt oder wißt, daß jemand eine Bibel [in Spanisch] besitzt. ...
Aufgrund des Inhalts dieser Belehrung raten wir Euch daher dringend, ja wir fordern unter Strafe der Exkommunikation, ... wir gebieten jedem einzelnen von Euch, der von den erwähnten Dingen weiß oder der irgendeines davon getan hat, daß er im Laufe von sechs Tagen nach Veröffentlichung dieses Erlasses oder nachdem er davon Kenntnis erlangt hat, vor uns erscheine, und zwar persönlich, und es uns mitteile und offenbare.“
Zielte dieser Erlaß nicht offensichtlich darauf ab, daß einer den anderen anzeigte? Ermutigte er nicht die Leute, sich gegenseitig nachzuspionieren?
Die „Calesa Verde“ (der „grüne Wagen“) konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Straßen Limas erscheinen. Da dieser Wagen von den Inquisitoren ausgeschickt wurde, um den Angeklagten abzuholen, verbreitete dieser Wagen, wo er hinkam, tödlichen Schrecken. Wenn er langsam die Straße entlangrollte, fragte sich sogar der gewöhnliche Bürger voller Angst: Was habe ich mir zuschulden kommen lassen? War ich in irgendeiner Weise leichtsinnig? Wer hat mich angezeigt? Und wenn es mitten in der Nacht an die Tür klopfte, erstarrten die Bewohner des Hauses vor Schrecken. Stand vielleicht der grüne Wagen vor der Tür?
Die Opfer
Aus den Berichten ist zu erkennen, daß in Peru allein in der Kolonialzeit neunundfünfzig Personen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Diesen Opfern hatte man u. a. Gotteslästerung, Zauberei, Bigamie, den Besitz einer Bibel in der Volkssprache, Abfall vom Glauben und Zugehörigkeit zu einer nichtkatholischen Konfession zur Last gelegt. Sogar hochgestellte Geistliche wurden nicht verschont. Am 13. April 1578 wurde der Ordensmönch Francisco de la Cruz auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er den Kauf und Verkauf von geistlichen Ämtern in der Kirche angeprangert und gelehrt hatte, die Ohrenbeichte sollte abgeschafft werden, Mönche und Geistliche sollten heiraten und die Heilige Schrift sollte in der Sprache des Volkes herausgegeben werden.
Am 29. Oktober 1581 wurden der englische Freibeuter Kapitän John Oxnem und zwei seiner Schiffsleute auf dem Scheiterhaufen verbrannt; nein, nicht wegen Freibeuterei, sondern weil sie Lutheraner waren. Am 17. November 1595 wurden vier Portugiesen verbrannt, darunter Juan Fernando de las Heras; man hatte ihnen vorgeworfen, „judaisierende Juden“ zu sein. Sie hatten den Sabbat gehalten.
Die Hinrichtung der Verurteilten wurde zu einem öffentlichen Anlaß gemacht, der mit großem Pomp gefeiert wurde. Das Autodafé (Glaubenshandlung) dauerte vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Die Geistlichen und hochgestellten Bürger nahmen die „besten“ Plätze ein, um den Ketzer, der lebendig verbrannt wurde, in seinen letzten Qualen besser beobachten zu können. Das Stöhnen der Opfer ging häufig unter in den Schmährufen, die der Pöbel gegen sie ausstieß.
Lima, Sitz der Inquisition
Nur wenige Besucher von Lima kennen die Geschichte des Giebelhauses mit den sechs Säulen in griechisch-römischem Stil am Plaza Bolívar neben einer der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Man kann die stillen Räume dieses Hauses besuchen und die Bibliothek des Abgeordnetenhauses besichtigen; dort sind die verblichenen Dokumente aufbewahrt, die die Unterschrift berühmter Männer aus den Anfängen der Republik tragen wie von Simón Bolívar, José de la Mar und anderen; man kann auch die wunderbar geschnitzte Zimmerdecke aus Mahagoni bewundern und dennoch keine Ahnung haben, wozu dieses Gebäude ursprünglich gedient hat.
Im September 1813 war der Bevölkerung von Lima alles über den Sitz der Inquisition in Peru bekannt. Damals machte Vizekönig Abascal den amtlichen Gerichtserlaß, der am 22. Februar des gleichen Jahres in Cadiz unterzeichnet worden war, bekannt, einen Erlaß, durch den die Inquisition aufgehoben wurde. Die Bevölkerung machte ihrem Haß und ihrem Abscheu Luft, indem sie in das Gebäude eindrang und es plünderte. Dabei stieß man auch auf Gegenstände, die die Gerüchte von den Greueln, die darin geschahen, bestätigten.
So fand man ein lebensgroßes Kruzifix, dessen Kopf man mit Hilfe eines Strickes hinter einem grünen Samtvorhang bewegen konnte. Manch ein leichtgläubiger Angeklagter mußte gedacht haben, Christus selbst zeuge gegen ihn.
Ferner stand da ein etwa zweieinhalb Meter langer und etwas mehr als zwei Meter breiter Tisch mit einer von einem Rad angetriebenen Winde. Die Opfer wurden auf den Tisch gelegt und gestreckt, bis die Gelenke und Bänder dem Zug nicht mehr widerstehen konnten.
An einer Wand befanden sich Stöcke, in die Kopf und Hände des Opfers gelegt würden, während dieses von hinten, so daß es seinen Peiniger nicht sehen konnte, ausgepeitscht wurde. An der Wand hingen Peitschen aus geknoteten Seilen und Draht.
Auch eine Foltertunika gab es da aus geflochtenem Draht mit Hunderten von winzigen Spitzen, die den Träger bei jeder Bewegung ins Fleisch stachen.
Weitere Marterwerkzeuge waren Zangen, um die Zunge herauszureißen, Schrauben zum Zusammenpressen der Finger usw.
Man kann immer noch die Stelle sehen, an der der bestürzte Angeklagte starr vor Grausen vor den Inquisitoren stand; ferner die dicke Holztür mit dem winzigen Guckloch, durch das man lediglich das Auge des unbekannten Anklägers sehen konnte; die ursprüngliche Mauer im Gefängnis, an der man die Unschuldsbeteuerungen der Opfer, ihren Schrei nach Recht und Gerechtigkeit, geschrieben mit der geübten Hand des Gebildeten oder der schwerfälligen Hand des Armen, lesen kann.
Warum man es nicht vergessen sollte
Gehört das nicht alles der Vergangenheit an? Ist es nicht ein böser Traum, den man besser vergißt? Seit der Einführung der Inquisition in Peru sind zwar vierhundert Jahre vergangen, doch Lima hat diese Zeit nicht vergessen. La Prensa, eine der führenden Zeitungen Limas, veröffentlichte vor kurzem einen Artikel, der die Bewohner der „Stadt der Könige“ wieder daran erinnerte.
Wenn wir den Bericht über diese furchtbaren Ketzergerichte lesen, erkennen wir deutlich, daß hauptsächlich die Mißachtung der Lehren der Bibel dazu geführt hat. Man kann Menschen unmöglich zum Glauben an Gott zwingen. Man muß sie lehren, die Gebote Christi, wie sie in der Bibel zu finden sind, zu halten. (Röm. 10:17) Selbst wenn ein Mensch, der sich zum Christentum bekennt, ein Unrecht begeht, muß eine Untersuchung, wie sie in der Bibel empfohlen wird, durchgeführt werden. Und seine Schuld muß von zwei glaubwürdigen Zeugen bestätigt werden. (Matth. 18:16; Joh. 18:17) Wird der Betreffende der Schuld überführt und bereut er nicht, dann mag er aus der Gemeinschaft wahrer Gläubiger ausgestoßen werden. (1. Kor. 5:11, 13) An keiner Stelle erlaubt die Bibel die Anwendung der Folter, um belastende Geständnisse oder andere Zeugnisse zu erpressen.
Aus dem Bericht der Bibel geht hervor, daß die Apostel Christi Jesu nicht zu Einschüchterung, Zwang und Gewalttat Zuflucht nahmen, als im ersten Jahrhundert viele vom Glauben abfielen. (Joh. 6:66) Warum nicht? Weil sie nur den Auftrag hatten, ‘Jünger zu machen aus Menschen aller Nationen, indem sie sie lehrten’, und zwar ebenso geduldig wie Jesus, ihr Vorbild. — Matth. 28:19, 20.
Wir haben gesehen, daß die Geringschätzung der Bibel und die Vernachlässigung des Bibelstudiums zu den Schrecken der Inquisition geführt haben. Und wie ist es heute? Die Vernachlässigung des Bibelstudiums hat zur Folge gehabt, daß in Kriegen und Revolutionen Katholik gegen Katholik gekämpft und seinen Glaubensbruder getötet hat. In der New York Times vom 21. Dezember 1966 konnte man lesen: „Der katholische Episkopat der verschiedenen Länder hat fast immer die Kriege unterstützt, die sein Land führte, er hat die Truppen gesegnet und um den Sieg gebetet, während der Episkopat der ,feindlichen‘ Länder ebenfalls öffentlich um den Sieg seines Landes gebetet hat.“
Überall in der Christenheit wird die Bibel geringgeschätzt. Eine Frucht davon ist die Welle der Gewalttat gewesen, die vor kurzem über viele Länder hinweggerollt ist. Ehrlichgesinnte Personen mögen sich fragen: Soll ich in einer Kirche bleiben, die versäumt, die Wahrheit der Bibel durch Wort und Tat zu lehren? Solange den Lehren der Bibel nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird, dürfen ehrlichgesinnte Personen das, was uns die Inquisition lehrt, nicht vergessen. Und aus dem gleichen Grund kann Lima nicht vergessen!
[Bild auf Seite 21]
Ein Autodafé (nach einem zeitgenössischen Bild)