Ist der Text unserer Bibel zuverlässig?
OBWOHL es mit den Kirchen der Christenheit abwärtsgeht, besteht immer noch ein starkes Verlangen nach der Bibel. Das zeigt die Tatsache, daß sozusagen jedes Jahr neue Bibelübersetzungen herausgebracht werden. Einige davon erreichen schnell eine Verbreitung von Hunderttausenden von Exemplaren, ja in einigen Fällen sogar von Millionen.
Doch mag jemand fragen: „Warum kommen ständig neue Übersetzungen heraus? In der deutschen Sprache haben wir die Luther-Bibel, die Allioli-Bibel und andere ältere Übersetzungen. Wozu benötigen wir neue?“
Gründe für neue Übersetzungen
Es gibt eine ganze Anzahl triftiger Gründe, doch drei stechen ganz besonders hervor. Erstens befindet sich die Sprache ständig in einer Umwandlung. Das bewirkt, daß die älteren Übersetzungen mit der Zeit schwer verständlich werden, ja der eine oder andere Text kann sogar irreführend sein.
Als Beispiel könnten wir den Text aus der alten Luther-Bibel herausgreifen, in dem der Engel Maria mit den Worten anspricht: „Gegrüßet seist du, Holdselige!“ (Luk. 1:28) Heute versteht man unter dem Wort „holdselig“ äußere Anmut und Lieblichkeit; diese Anrede würde also nur bedeuten, Maria sei ein anmutiges, entzückendes Mädchen gewesen. Doch zu Luthers Zeiten drückte dieses Wort eine Haltung leutseligen Herabneigens aus; daher lesen wir in neueren Bibelübersetzungen sowie in der revidierten Luther-Bibel nicht mehr „Holdselige“, sondern „Begnadete“ oder „Hochbegünstigte“.
Es könnten noch viele ähnliche Beispiele angeführt werden. Da also im Laufe der Jahre gewisse Wörter eine neue Bedeutung bekommen, sind neuzeitliche Übersetzungen wertvoll.
Zweitens sind neue Bibelübersetzungen notwendig, weil in den letzten Jahren Tausende alte Schriftdokumente gefunden worden sind. Und diese weltlichen Urkunden vermitteln ein besseres Verständnis der Sprachen, in denen die Bibel ursprünglich geschrieben wurde: Hebräisch, Aramäisch und Griechisch.
Es ist noch nicht lange her, da glaubte man, daß viele Wörter in den Christlichen Griechischen Schriften sozusagen ausschließlich biblische Wörter seien. Jetzt hat man aber diese Wörter auch im Schriftverkehr aus biblischen Zeiten gefunden: in Verträgen, amtlichen Dokumenten und sogar in Empfangsbescheinigungen. Dadurch, daß man sah, wie diese Wörter in weltlichen Dokumenten verwendet wurden, war es möglich, in gewissen Fällen Bibeltexte genauer wiederzugeben.
Der dritte wichtige Grund für neue Bibelübersetzungen ist die Entdeckung weiterer alter Bibelhandschriften. Jetzt sind allein von den Christlichen Griechischen Schriften über 4 600 griechische Handschriften — vollständige oder Teile davon — bekannt, ferner über 8 000 Handschriften der lateinischen Übersetzung und etwa 1 000 von Übersetzungen in andere Sprachen. Besonders wertvoll für die neuzeitlichen Bibelübersetzungen sind drei bedeutende Manuskriptfunde, die man in den vergangenen rund vierzig Jahren gemacht hat.
Der erste dieser Funde war eine Anzahl von Papyrushandschriften aus dem zweiten bis vierten Jahrhundert, die der verstorbene Sir Alfred Chester Beatty im Jahre 1930 erwarb. Vom Jahre 1947 an wurden in verschiedenen Höhlen nahe des Toten Meeres über 40 000 Handschriftenbruchstücke gefunden, darunter etwa 100 Bibelhandschriften. Sie schließen Teile aller Bücher des hebräischen Kanons ein mit Ausnahme des Buches Esther. Am berühmtesten von diesen Handschriften ist die Jesaja-Handschrifta. Bei dem dritten Fund handelt es sich um einige Papyri, die aus der Zeit um 200 u. Z. stammen sollen. Diese Handschriften hat die Bodmer-Bibliothek in Genf (Schweiz) erworben.
Nicht, daß wir mit diesen Funden einen Text erhalten hätten, der wesentlich besser wäre als der Text der bereits bekannten Handschriften, so daß eine grundlegende Änderung des Textes der Bibel erforderlich würde; nein, darin liegt die Bedeutung dieser Funde nicht. Im Gegenteil, die Abweichungen sind nur geringfügig. Doch angenommen, du wärest ein Shakespeare-Enthusiast. Dann würde es dir bestimmt schon wichtig erscheinen, wenn in „Hamlet“ ein einziges Wort geändert wäre, obwohl sich das auf die Personen, die Handlung und den Ausgang der Tragödie nicht auswirken würde. Ähnlich ergeht es einem Erforscher der Bibel; die Änderung eines einzigen Wortes kann den Sinn eines Bibelverses verändern, aber die Lehren und das grundlegende Verständnis der Bibel bleiben dadurch unberührt.
Doch manch einer mag sich nun fragen: „Wie kann ein Bibelübersetzer, der alle diese Handschriftenfunde ausnützen möchte, jeden Vers in den vielen verschiedenen Handschriften nachprüfen? Würde das nicht mehr Jahre beanspruchen, als ein Mensch lebt?“
Die Erstellung eines Textes
Glücklicherweise muß der Bibelübersetzer nicht selbst jede Handschrift nachprüfen. Fachgelehrte wie B. F. Westcott und F. J. A. Hort, D. Eberhard Nestle und Rudolf Kittel haben die besonderen Merkmale und die Varianten jeder wichtigen Handschrift verglichen und einen „Text“ in den Ursprachen der Bibel erstellt. Sie haben in den „Texten“, die sie herstellten, die besten Lesarten aller Handschriften, die ihnen zur Verfügung standen, berücksichtigt. In den Fußnoten sind häufig Abkürzung und Name der Handschriften und Übersetzungen angegeben, auf die sich die Lesart stützt, gefolgt von Einzelheiten über alle übrigen wichtigen Lesarten. Solche Gelehrte übersetzen die Bibel nicht in die deutsche oder in eine andere Sprache, sondern sie befassen sich nur mit dem Text in seiner Originalsprache.
Dann tritt der Bibelübersetzer auf den Plan. Seine Aufgabe besteht darin, den Urtext in eine andere Sprache zu übersetzen. Er richtet sich nach dem, was die Textkritiker gesammelt haben.
Die Textkritik
Die textkritische Arbeit besteht darin, einen Text in der Originalsprache herzustellen, der den Bibelübersetzern dann als Grundlage dient. Die Textkritik darf nicht mit der Bibelkritik verwechselt werden, denn da der Zweck der Textkritik darin besteht, den Urtext wiederherzustellen, ist sie nicht destruktiv, sondern konstruktiv.
Als Beispiel textkritischer Arbeit sei auf den Bibeltext 1. Timotheus 3:16 verwiesen. In der alten Luther-Bibel lautete dieser Text: „Gott ist offenbart im Fleisch.“ Neuere Übersetzungen sagen dagegen: „Er wurde offenbar gemacht im Fleisch.“ Warum der Unterschied? Und warum sagen moderne Übersetzungen „er“ anstatt „Gott“? Weil die Textkritiker herausgefunden haben, daß der ursprüngliche Text des Bibelschreibers so gelautet haben muß.
Die alte Kontraktion für „Gott“ wurde im Griechischen so dargestellt: [Abbildung: Griechische Schriftzeichen]; die beiden Unzialbuchstaben des griechischen Alphabets OC bedeuteten dagegen „der“. Man kann ohne weiteres sehen, wie leicht es ist, aus „der“ den Titel „Gott“ zu machen, indem man in das „O“ einen kleinen waagerechten Strich einfügt und über die beiden Buchstaben einen Strich zieht. In einigen alten Handschriften wurde diese Änderung vorgenommen.
Textkritiker haben diese Änderung festgestellt. Westcott und Hort zeigen in ihren Notes on Select Readings, daß sich die Änderung in keinen Handschriften findet, die vor dem Ende des vierten Jahrhunderts u. Z. hergestellt wurden. Eine mikroskopische Untersuchung hat gezeigt, daß sogar in dem berühmten Codex Alexandrinus, der aus dem fünften Jahrhundert stammt und im Britischen Museum aufbewahrt wird, jemand viel später die beiden Striche hinzugefügt hat!
Textkritiker können auch aufgrund verschiedener Anhaltspunkte andere Änderungen oder Fehler feststellen, zum Beispiel Verwechslung ähnlich aussehender Buchstaben, Auslassung oder Doppellesung einiger Wörter, weil das Auge der falschen Zeile folgt, oder die Aufnahme einer Randglosse in den Text.
Größte Sorgfalt beim Abschreiben
Da solche Fehler möglich sind, mag jemand fragen: „Wie häufig sind solche Fehler oder Varianten in den Handschriften? Was gibt uns die Garantie, daß die alten Bibelhandschriften, mit denen die Gelehrten arbeiten, zuverlässig sind, da es sich bei keinem dieser Texte um die von den Bibelschreibern selbst verfaßte Urschrift handelt?“
Es stimmt, daß sich leicht Fehler einschleichen können, wenn etwas immer wieder abgeschrieben wird. Doch ist es wichtig, zu beachten, mit welch peinlicher Genauigkeit die Abschriften von den Abschreibern durchgesehen und korrigiert wurden.
Die jüdischen Gelehrten, die die Hebräischen Schriften abschrieben, waren tief religiös. In Verbindung mit dem Text waren sie äußerst gewissenhaft und sorgfältig. Sie hatten ein besonderes Prüfsystem; sie zählten zum Beispiel die Buchstaben der einzelnen Bücher, ja sie zählten sogar nach, wie oft bestimmte Buchstaben darin vorkamen. Aus dem Gedächtnis durfte kein Wort geschrieben werden. Selbst wenn ein König den Schreiber ansprach, während er gerade den Namen Gottes, Jehova, schrieb, mußte der Schreiber den König ignorieren. Wenn eine Abschrift fertig war, wurde sie von Korrektoren durchgesehen oder geprüft.
Griechische Handschriften lassen erkennen, daß sie korrigiert worden sind. Ein Beispiel ist der berühmte Codex Sinaiticus, eine griechische Bibelhandschrift des vierten Jahrhunderts, die einen großen Teil der Septuaginta enthält. Der Korrektor hat auf dem oberen Rand eine Stelle eingefügt, die der Abschreiber in 1. Korinther, Kapitel 13 aus Versehen weggelassen hatte. Durch einen Pfeil hat der Korrektor angedeutet, wo diese Worte in dem Text stehen sollten.
Über das Ergebnis dieser Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt schreibt Dr. Hort: „Die Arbeit der Textkritiker hat ergeben, daß es für die meisten Wörter des Neuen Testaments keine Variante gibt, sie können nur abgeschrieben werden. Abgesehen von den verhältnismäßig unbedeutenden Abweichungen ... machen die Wörter, die nach unserer Meinung immer noch zweifelhaft sind, höchstens ein Tausendstel des ganzen Neuen Testaments aus.“
Der verstorbene Sir Frederic Kenyon, klassischer Phylologe und Papyrologe, schrieb im Vorwort zu seinen sieben Bänden über die „Chester-Beatty-Papyri der Bibel“: „Die erste und wichtigste Schlußfolgerung, die man aus der Untersuchung dieser [damals kurz vorher entdeckten, aus der Zeit des zweiten bis vierten Jahrhunderts stammenden] Papyri ziehen kann, ist folgende: Der Bibeltext ist zuverlässig überliefert worden. Weder im Alten noch im Neuen Testament sind wesentliche oder grundlegende Abweichungen zu finden. Weder wichtige Weglassungen noch Zusätze oder Abweichungen sind vorhanden, die wichtige Tatsachen oder Lehren verändern würden. Die Textvarianten betreffen Geringfügigkeiten wie eine andere Wortfolge oder daß nicht genau die gleichen Wörter verwendet wurden.“
Auch die vor einigen Jahren entdeckte Jesaja-Handschrifta, die um 100 v. u. Z. entstanden sein soll, läßt erkennen, daß die Sorgfalt, die beim Abschreiben angewandt wurde, Fehler praktisch ausschloß. Diese Rolle ist etwa tausend Jahre älter als die Jesaja-Handschrift in Hebräisch, die bis dahin als die älteste gegolten hatte. Und doch bestehen zwischen dem Text dieser beiden Handschriften wenig Unterschiede, so daß Professor Millar Burrows in seinem Buch Die Schriftrollen vom Toten Meer schrieb: „Es ist zum Verwundern, daß der Text durch ein Jahrtausend so wenig Veränderungen erfahren hat.“
Sind sie wirklich so alt?
Doch mag jemand fragen: „Woher weiß man denn, daß diese Schriftrollen vom Toten Meer und andere Handschriften, die man gefunden hat, so alt sind? Gibt es denn wirklich Beweise dafür?“
Ja, die gibt es. Die Paläographie, die Lehre von den alten Formen der Buchstabenschrift und von der Entzifferung alter Schriftwerke, unterbreitet beachtenswerte Beweise. Die Schriftformen und -stile haben sich im Laufe der Zeit geändert wie die Stile der Mode und wie die Sprachen. Die Zeit der Niederschrift alter Dokumente wird oft mit Hilfe der Paläographie bestimmt. Beachte folgendes Beispiel:
In der Jesaja-Handschrifta vom Toten Meer sehen die beiden hebräischen Buchstaben Wau und Jod ähnlich aus. So schrieb man im ersten und zweiten Jahrhundert v. u. Z., aber später machte man das Jod bedeutend kleiner als das Wau. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die vergleichende Untersuchung der Schriftformen helfen kann, festzustellen, aus welcher Zeit eine Handschrift stammt.
Natürlich besteht die Möglichkeit, daß jemand betrügt und versucht, Handschriften älter erscheinen zu lassen, als sie sind. Im neunzehnten Jahrhundert gab es ein oder zwei solche Betrüger. Einer war Konstantin Simonides. Aber er wurde von Gelehrten als Betrüger entlarvt. Heute wendet man für die Altersbestimmung die Radiokarbonmethode an; obwohl sie nicht genau ist, wäre es doch möglich, damit einen Schwindel aufzudecken. Die sorgfältige Erforschung der Handschriften ist aber immer noch das beste Mittel, ihr Alter zu ermitteln und Betrüger zu entlarven.
Eine Hilfe für den Handschriftenforscher ist heute die Mikroreproduktion alter Handschriften, die stark verkleinerte Reproduktion auf Mikrofilmen, oder die Herausgabe von Faksimiles (originalgetreue Wiedergaben alter Handschriften). Dann können Fachgelehrte in der ganzen Welt diese Handschriften eingehend studieren. Es ist daher kaum möglich, daß ein Betrug nicht aufgedeckt würde. Es wäre viel leichter, Banknoten zu fälschen, denn dafür sind keine paläographischen, sondern nur technische Kenntnisse erforderlich.
Berechtigtes Vertrauen
Die Erforschung alter Handschriften ist somit eine echte Wissenschaft, die Jahr um Jahr genauer wird. Und jede neue Bibelübersetzung, die sich die Forschungsergebnisse unvoreingenommen zunutze macht, gibt den Sinn des Urtextes deutlicher und genauer wieder. Dank der heutigen Handschriftenforschung können wir somit volles Vertrauen haben, daß die Bibel uns im wesentlichen unverändert überliefert worden ist.
Natürlich sollte man das eigentlich erwarten. Denn Gott, der Allmächtige, hat zweifellos dafür gesorgt, daß sein Wort all die Jahre hindurch mit großer Sorgfalt bewahrt worden ist. Die Zuverlässigkeit des biblischen Textes ist über jeden Zweifel erhaben, ganz gleich, welche Prüfungsmethode man anwendet.
[Kasten auf Seite 8]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Die hebräische Schrift hat sich im Verlauf der Zeit geändert. Die Verschiedenheit der Schriftformen ermöglicht es den Gelehrten, Handschriften zu datieren. Beachte den Unterschied zwischen diesen beiden Beispielen.
[Abbildung: Griechische Schriftzeichen]
Göttlicher Name aus der Jesaja Handschrifta (ca. 100 v.u. Z.)
Göttlicher Name aus einer Handschrift aus dem Jahr 895 u. Z.