Nonnen heute — Und morgen?
WAHRSCHEINLICH zeigt sich die Krise, die in der katholischen Kirche aufgetreten ist, nirgends deutlicher als bei den weiblichen Orden und Kongregationen. Die Nonnen verlassen die Ordensgemeinschaften in großer Zahl. Und die Unzufriedenheit unter den Zurückgebliebenen wächst.
In der Presse erscheinen immer wieder Artikel, deren Überschriften diese Krise widerspiegeln. Beispielsweise konnte man lesen: „IM LETZTEN JAHR GABEN IN DEN USA 9 000 NONNEN AUF‘“a1. „KLOSTER OHNE NONNEN“b2. „NONNEN IM SOG DER FRAUENBEFREIUNGSBEWEGUNG“c3. „ABWANDERUNG DER NONNEN: KRISE IN DEN SCHULEN“d4. „AUS MANGEL AN ORDENSSCHWESTERN MUSS KATHOLISCHES KRANKENHAUS SCHLIESSEN“e5.
Vor kurzem arbeitete Mary Modde, eine Franziskanerin, an einer großangelegten Untersuchung, die 70 Prozent der Nonnen in den USA betraf. Sie schrieb, die Studie habe den Zweck, „zu beweisen oder zu widerlegen“, ob es heute, wie allgemein geglaubt werde, nicht mehr um die Frage gehe: „Wo sind die Ordensschwestern geblieben?“, sondern daß man jetzt sagen müsse: „ALLE Ordensschwestern SIND FORT.“
Ist die Lage wirklich so ernst? Gefährdet die heutige Entwicklung tatsächlich den Fortbestand der Orden und Kongregationen der Kirche?
Es gibt katholische Autoritäten, die diese Frage bejahen. Anita Caspary, die früher Generaloberin (Vorsteherin einer Klostergemeinschaft) war, schrieb, daß die Kirche „ihre sämtlichen Ordensfrauen“ verliere, wenn das Ordensleben nicht erneuert werde.
Gabriel Moran, Vorsteher der Schulbrüder vom heiligen Johannes B. de la Salle (Bezirk Long Island und New England) schrieb: „Etwas vom Tragischsten in der jüngeren Geschichte der katholischen Kirche ist der Zerfall der geistlichen Orden. ... es gibt Zehntausende von Menschen, die sich in zusammengebrochenen Organisationen umsonst abmühen.“ Moran schloß mit dem Satz: „Das Gesamtbild ist niederschmetternd, und das ist der Grund, warum es fast nie ehrlich gezeichnet wird.“
Das Ausmaß der Abwanderung
Es ist schwierig, zuverlässige Statistiken über die Abwanderung der Nonnen zu erhalten. Katholische Quellen vermitteln indessen einen Begriff von ihrem Ausmaß. Daraus geht zum Beispiel hervor, daß es 1965 in der ganzen Welt 1 201 159 Nonnen gab, im Jahre 1971 dagegen nur noch 879 939 — 321 220 Nonnen weniger in nur sechs Jahren! In einigen Gebieten ist der Rückgang besonders stark gewesen. So schrumpfte in Südamerika die Zahl der Nonnen in einem Jahr von 87 593 auf 52 163 zusammen. Das ist ein Rückgang von 40 Prozent.
Auch anderswo ist ein starker Rückgang zu beobachten. In Kanada gab es im Jahre 1960 über 59 000 Nonnen, im Jahre 1972 dagegen nur noch 45 000. Mitte der 1960er Jahre betrug in den USA die Zahl der Ordensfrauen noch 180 000, im vergangenen Jahr waren es indessen nicht einmal mehr 140 000. Doch was für Nonnen und Schwestern die Ordensgemeinschaften verlassen, fällt noch mehr ins Gewicht als die Zahl der Austritte.
Der Redakteur einer katholischen Zeitung schrieb: „In den letzten Jahren hat eine noch nie dagewesene Zahl bestausgebildeter Schwestern die Ordensgemeinschaften verlassen.“ Die Franziskanerin Mary Modde drückte sich noch deutlicher aus. Sie schrieb, daß es sich bei den austretenden Ordensschwestern um „junge Frauen und um Frauen in mittleren Jahren“ handle, „die größtenteils sehr gut ausgebildet“ seien und zum „Kerntrupp der apostolischen Gemeinschaft“ gehört hätten.
Was bedeutet das? Gabriel Moran, der Vorsteher der Schulbrüder vom heiligen Johannes B. de la Salle, schrieb ganz offen: „Der größte Teil der jungen, tatkräftigen Ordensschwestern hat die Ordensgemeinschaften verlassen.“
Werden sie ersetzt?
Zukunftsaussichten
Die Antwort darauf gibt uns der 32seitige Bericht „Studie über Eintritte und Austritte bei den weiblichen Orden und Kongregationen in den Vereinigten Staaten von 1965 bis 1972“. Mary Modde, die aus dieser Studie zitierte, schrieb, daß alle Orden und Kongregationen, die in der Studie erfaßt seien, 1965 noch 4 110 Novizinnen gehabt hätten, 1972 jedoch nur noch 553. Während also Tausende von Nonnen die Ordensgemeinschaften verlassen, treten immer weniger junge Mädchen in einen Orden ein. Wie wirkt sich das aus?
Vor allem die katholischen Schulen leiden darunter, denn es stehen immer weniger Nonnen als Lehrerinnen zur Verfügung. Und da die Beschäftigung weltlicher Lehrerinnen teuer ist, müssen ständig viele katholische Schulen schließen — täglich ungefähr eine. Die Zahl der Grund- und Mittelschüler in katholischen Schulen ist von 1967 bis 1971 um 1 700 000 zurückgegangen — ein Rückgang von 30 Prozent. Und die Lage verschlimmert sich weiter. In der katholischen Zeitschrift Commonweal (Ausgabe vom 2. Februar 1973) konnte man unter der Überschrift „Die Abwanderung der Nonnen“ lesen:
„Um diese Jahreszeit schreiben die Ordensschwestern ihrem Pastor, wenn sie im Herbst nicht mehr in seine Schule zurückkehren wollen. Und in diesem Jahr sind die Briefe besonders zahlreich.“
In dem Artikel werden dann Dutzende von Schulen in den Staaten New York, Massachusetts und Minnesota erwähnt, aus denen sich die Ordensschwestern zurückziehen. Abschließend wird darin gesagt:
„Wie ist die Lage? Wahrscheinlich ist sie bei keinem Orden so schlimm wie bei den Schwestern des heiligen Joseph zu Boston. Aber ihr Nachwuchsproblem vermittelt einen Begriff von den Schwierigkeiten, mit denen heutzutage die Ordensgemeinschaften im allgemeinen in dieser Hinsicht zu kämpfen haben. In der Zeit von 1966 bis 1971 betrug die Zahl der Novizinnen zwanzig; in der gleichen Zeit schieden wegen Tod, Alter oder aus anderen Gründen 563 Schwestern aus. Das entspricht einem Verhältnis von 28 zu 1.“
Was für Nonnen bleiben in den Ordensgemeinschaften? Diese Frage kann für zuständige katholische Stellen niederdrückend sein. In den Vereinigten Staaten ist jede dritte Nonne 60 Jahre alt oder älter. Das Durchschnittsalter der Nonnen des bedeutendsten Ordens für Erziehung und Unterricht in der Erzdiözese Boston ist nahezu 60 Jahre. Wie der Leiter der Zentralstelle für kirchliche Statistik des Erzbistums Seattle, James Eblen, schrieb, „lag noch vor zwanzig Jahren das Alter der meisten Nonnen zwischen 20 und 40 Jahren“.
Ist es da verwunderlich, daß manch einer befürchtet, die geistlichen Orden würden bald aussterben? Es sieht so aus, als würden auch jetzt viele Nonnen nur auf eine Gelegenheit warten, ihre Ordensgemeinschaft zu verlassen, und weitere würden das ebenfalls tun, wenn sie könnten. Gabriel Moran ließ das in seinem Artikel durchblicken, der in der Zeitschrift National Catholic Reporter erschien:
„Einige bleiben in ihrer Ordensgemeinschaft, weil sie alt, krank oder hilflos sind. Sie haben keine andere Wahl, als sich verzweifelt an das zu klammern, was noch übrig ist. Es gibt aber auch andere, die ohne weiteres gehen könnten, doch sie sind sich nicht schlüssig, ob sie dann ein besseres Leben hätten.
Was ist die Ursache des Niedergangs der geistlichen Orden? Warum „fühlen sich“ — wie die Katholiken sich ausdrücken — so viele Nonnen „zum Ordensleben nicht mehr berufen“?
[Fußnoten]
a 1. Chicago Daily News, 19. Januar 1970.
b 2. San Francisco Chronicle, 29. Mai 1972.
c 3. The Sioux City Journal, 28. Januar 1970.
d 4. St. Louis Post-Dispatch, 7. Januar 1972.
e 5. South African Sunday Tribune, 28. Mai 1972.
[Übersichten auf Seite 8]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Zahl der Nonnen in der ganzen Welt
1 201 159
11
10
9
879 939
8
7
6
5
1965 1971
in 100 000
[Übersicht]
Zahl der Novizinnen in US-Ordensgemeinschaften
4 110
4
3
2
1
553
0
1965 1972