Die verschiedenen Formen der Geisteskrankheit
ES GIBT viele verschiedene Formen der Geisteskrankheit. Man könnte sie mit einem Schauspieler vergleichen, der verschiedene Kostüme trägt oder sich verkleidet, je nach der Rolle, die er verkörpert.
Über diese Leidenszustände tappt man noch so sehr im dunkeln, daß bekannte Psychiater sogar behaupten, es gebe keine Geistes„krankheit“. Nach ihrer Meinung handelt es sich jeweils lediglich um ein abnormes Verhalten. Aber es ist nachgewiesen, daß jemand vorübergehend geisteskrank werden kann, wenn man ihm Blut eines Schizophrenen einspritzt. Das sowie die Tatsache, daß dieses Leiden erblich ist, widerlegt die Behauptung, es gebe keine Geisteskrankheit.
Es gibt aber auch Fachleute, die dagegen sind, daß man psychische Leidenszustände als „Schizophrenie“ und „manisch-depressive Krankheit“ bezeichnet. Sie sagen, die Verwendung dieser Bezeichnungen, die in vielen Menschen eine irrationale Furcht wecke, verschlimmere nur alles.
Aber ein Patient und seine Angehörigen sollten sich nicht durch eine Diagnose oder einen Namen, den man einer Krankheit gibt, angst machen oder sich entmutigen lassen. Die Symptome und die Ursachen der Geisteskrankheiten sind tatsächlich selten eindeutig zu bestimmen. Deshalb ist die Diagnose ungenau und keine gezielte Behandlung möglich. Das ist der Grund, warum die Meinungen der Fachärzte manchmal weit auseinandergehen. Sie stimmen nicht einmal darin überein, welche Bezeichnung man welcher Störung geben soll.
„Organische Krankheiten“
Es ist üblich, alle Geisteskrankheiten in zwei Gruppen zu unterteilen, in „organische“ und in „funktionelle“. Zu den organischen zählen alle Geisteskrankheiten, die angeboren sind oder kurz nach der Geburt entstehen, z. B. Gehirnlähmung, Mongolismus, Kretinismus und andere Formen geistiger Behinderung.
Andere organische Geisteskrankheiten treten erst später im Leben auf, z. B. Senilität, die mit verschiedenen Verhaltensstörungen — häufig einem kindischen Wesen — verbunden ist. Dieser Zustand erinnert an den Ausspruch Shakespeares, daß man nur einmal Mann, aber zweimal Kind sei.
Neurosen
Die zweite der beiden Gruppen von Geisteskrankheiten ist die der funktionellen Geisteskrankheiten. Eine weitverbreitete und milde Form einer solchen Geisteskrankheit ist die Neurose. Personen, die an dieser psychischen Störung leiden, nennt man „Neurotiker“, und gewöhnlich will man — allerdings irrtümlich — damit ausdrücken, der Betreffende sei kaum, wenn überhaupt, krank.
Ein Neurotiker ist noch in Kontakt mit der Realität, aber er wird durch mangelndes Vertrauen, durch Mißtrauen oder durch Spannungen behindert. Ein Neurotiker ist übertrieben ängstlich in bezug auf seine Arbeit, seine Familie oder seine Gesundheit. Er hat eine übermäßige Furcht vor Menschen oder vor Orten. Er mag sich zum Beispiel davor fürchten, einen Aufzug zu benutzen. Ferner mag ein Zwang zum Essen vorhanden sein; oder er mag ständig gereizt sein oder wegen der kleinsten Kleinigkeit „in die Luft gehen“. Ein Neurotiker ist sich im allgemeinen seines Problems bewußt, aber er kennt die Ursache nicht und scheint unfähig zu sein, seines Problems Herr zu werden.
Wer denkt, eine Neurose sei leicht zu erkennen, täuscht sich, denn Neurosen können unter verschiedenen Erscheinungsbildern auftreten. Wieso? Weil sie zufolge des psychosomatischen Prinzips häufig körperliche Krankheitszeichen auslösen. Man versucht dann, die körperliche Krankheit zu behandeln anstatt die eigentliche Ursache davon. Körperliche Symptome einer Neurose können Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden, Atemnot und Hautausschläge sein.
Der Psychotiker, das heißt eine wirklich geisteskranke Person, hat mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als der Neurotiker. Er verliert den Kontakt mit der Realität. Er handelt und reagiert völlig anormal. Daher wurde der Satz geprägt: „Der Neurotiker baut Luftschlösser, der Psychotiker wohnt darin, und der Psychiater zieht die Miete ein.“
Depression
Der Neurotiker mag bis zu einem gewissen Grad schwermütig sein, doch der psychotisch depressive Patient leidet gewöhnlich an einer sehr schweren Depression — Symptom eines besonders ernsten psychischen Leidens. In den USA soll die Depression mit ihren verschiedenen Schweregraden die „hauptsächliche Geisteskrankheit“ sein. Die Weltgesundheitsorganisation der UN bezeichnete sie als Weltgesundheitsproblem Nr. 1. Das jetzige Jahrzehnt ist das „Zeitalter der Melancholie“ genannt worden, weil die Depression so verbreitet ist.
Verbunden mit der Depression ist das Gefühl des Einsamseins, vor allem aber das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Nutzlosigkeit. Zweifellos ist das die Ursache, warum unter diesen Patienten so viele ihrem Leben ein Ende machen. Die Zahl der Selbstmörder unter ihnen ist 36mal höher als unter der Bevölkerung im allgemeinen. Depressive Patienten glauben oft, völlig wertlos zu sein oder sich schwer verschuldet zu haben. Sie sind weder an Nahrung noch an Kleidung, noch an dem anderen Geschlecht interessiert. Oftmals sind das auch die Symptome eines Zustandes, der im Volksmund die Bezeichnung „Nervenzusammenbruch“a führt. Bei Frauen treten Depressionen häufiger auf als bei Männern.
Die schwerere Form der Depression wird „depressive Psychose“ genannt. Viele dieser Patienten wechseln zwischen Phasen, in denen sie in gehobener Stimmung und rastlos tätig sind, und Phasen tiefer Niedergeschlagenheit. Dieses „Auf und Ab“ nennt man „manisch-depressiv“. Die Patienten neigen dazu, aggressiv und zerstörungswütig zu sein. Während der „manischen Phase“ kommt es bei ihnen gelegentlich zu einer Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit.
Die Schizophrenien
Die Schizophrenie ist eine der schwersten und am weitesten verbreiteten Geisteskrankheiten. Auch von dieser Krankheit gibt es viele Formen. Deshalb sprechen die Psychiater oft von Schizophrenien. In den Vereinigten Staaten handelt es sich bei den hospitalisierten psychisch Kranken größtenteils um Schizophrene. Treffend hat jemand das Wort geprägt: „Herzversagen verursacht die meisten Todesfälle, die Schizophrenie das meiste Herzeleid.“
Etwa drei Prozent der Weltbevölkerung werden sich irgendeinmal während ihres Lebens — vorwiegend zwischen dem 16. und 30. Lebensjahr — mehr oder weniger schizophren verhalten. Mit Recht gilt die Schizophrenie als eine Krankheit, die wie kaum eine andere „den Zerfall der psychischen Persönlichkeit und Lebensuntauglichkeit zur Folge hat“. Auch soll sie „eines der fürchterlichsten Erlebnisse sein, die ein Mensch haben kann“.
Viele Schizophrene meiden die Umwelt und ziehen sich in eine innere Phantasiewelt zurück. Es treten Halluzinationen auf und/oder andere Täuschungen. Die Funktion ihrer Sinne und Gefühle sowie ihre Verhaltensweise verändern sich. Menschen und Gegenstände mögen dem Patienten merkwürdig erscheinen; die Nahrung mag komisch schmecken; Gerüche mögen ihn anwidern; Geräusche mögen ihm unerträglich laut oder kaum hörbar erscheinen. Der Schizophrene mag auch unter Depressionen, Spannungen und Müdigkeit leiden. Eine der schweren Formen von Schizophrenie ist die paranoide Schizophrenie. Diese Form von Geistesgestörtheit ist verbunden mit Wahnideen, wie Größenwahn und Verfolgungswahn, ferner ist der Patient oft feindselig. Eine weitere Form der Schizophrenie ist die Katatonie. Bei diesem Typ kommt es zu dem sogenannten Stupor: Der Patient kann nicht mehr sprechen und/oder seine Glieder nicht mehr bewegen.
Wer an einer Form von Schizophrenie leidet, ist gewöhnlich für die Menschen seiner Umgebung eine weit geringere Gefahr als für sich selbst. So erklärte ein Psychiater, daß es in einem Stadtviertel, in dem nur Schizophrene wohnen würden, zu weit weniger Gewalttätigkeiten kommen würde als in einem Wohnviertel mit „normaler“ Bevölkerung. Aber unter den Schizophrenen ist die Zahl der Selbstmorde zwanzigmal höher als unter der übrigen Bevölkerung. Schätzungsweise heilt bei einem Drittel der an Schizophrenie Leidenden die Krankheit spontan, bei einem Drittel bleibt der Zustand unverändert, und bei einem Drittel verschlimmert er sich.
Es muß jedoch erwähnt werden, daß der Schizophrene im allgemeinen während des größten Teils seines Lebens nicht wirklich geistesgestört ist. Schizophrene haben schon Hervorragendes geleistet.
Überaktive und autistische Kinder
Geistige und psychische Störungen treten auch schon bei kleinen Kindern auf. Ein modernes Leiden, von dem immer mehr Kinder befallen werden, ist die Hyperkinese (Überaktivität). Kinder, die daran leiden, wollen sich immer betätigen. Sie sind unstet, schwierig und können sich nur ganz kurze Zeit konzentrieren; sie springen immer von einer Sache zur anderen. Fünf Prozent der amerikanischen Kinder — über eineinhalb Millionen —, meist Knaben, leiden an dieser psychischen Störung.
Ganz gegenteilig verhalten sich autistische Kinder. Autismus wird wie folgt definiert: ein Zustand, bei dem durch Hingabe an die eigenen Phantasie- und Vorstellungsinhalte der Kontakt zur Umwelt gestört ist. Diese Störung tritt bei Jungen viermal so häufig auf wie bei Mädchen. Noch vor dreißig Jahren war der Autismus sowohl als Begriff als auch als Leiden verhältnismäßig unbekannt. Aber heute ist er ziemlich verbreitet. In Amerika, Großbritannien, Deutschland und Japan (alles hochindustrialisierte Länder, in denen die Menschen unter Streß und Belastungen leiden) gibt es sogar Gesellschaften für autistische Kinder.
Im vorliegenden Aufsatz sind nur die bekannteren und häufig vorkommenden Geisteskrankheiten behandelt worden. Es gibt tatsächlich viele verschiedene solche Leiden; außerdem gibt es noch zahlreiche Abstufungen davon — von einer ganz milden bis zu der schwersten Form. Und kein Fall gleicht genau dem anderen, ganz gleich, wie man diese Störungen und Leiden nennen mag.
Warum gibt es jedoch Menschen, die für Geisteskrankheiten oder psychische Störungen und Leiden anfälliger sind als andere? Was sind die eigentlichen Ursachen von Geisteskrankheiten?
[Fußnote]
a Eine Abhandlung über dieses Thema findet der Leser in Erwachet! vom 8. Dezember 1974.