Von Sorge erfüllt, doch in vieler Hinsicht gesegnet
UNVORHERGESEHENE Krankheiten, Unfälle oder Naturkatastrophen — wie schnell können solche Ereignisse unser ganzes Leben verändern! Das kommt auch in der Bibel zum Ausdruck: „Ihr [wißt] nicht ..., was euer Leben morgen sein wird“ (Jak. 4:14). Aber wie wirst du reagieren, wenn eine solch einschneidende Veränderung eintritt? Ich möchte dir gern berichten, was sich in unserer Familie zutrug.
David, mein Mann, wurde im Jahre 1919 in Saskatoon (Kanada) geboren. Als er ein junger Mann war, ließ er sich als Zeuge Jehovas taufen und nahm bald den Vollzeitpredigtdienst auf. David erhielt das Vorrecht, die Wachtturm-Bibelschule Gilead zu besuchen, und wurde Missionar in Singapur. Später kam er hierher nach Australien, wo wir uns kennenlernten.
Nach unserer Heirat im Jahre 1950 war mein Mann als reisender Aufseher tätig, und wir besuchten zusammen Versammlungen der Zeugen Jehovas. Aber im März 1954 wurde unser Sohn Shannon geboren. Das brachte eine Veränderung mit sich. David wurde Aufseher in einer Ortsversammlung. Seine liebevolle Führung in seiner Rolle als Ehemann, Vater und Aufseher brachte für meinen Sohn und mich immer Segnungen mit sich. Als Shannon in die Schule kam, ermunterte mich David, den Vollzeitpredigtdienst wiederaufzunehmen. Nach dem Schulabschluß schloß sich David mir an, wodurch er uns allen viel Freude bereitete.
Davids Mutter, die noch in Kanada lebte, war jetzt über achtzig und hatte eine angegriffene Gesundheit. Daher reiste David im Mai 1972 nach Kanada, um sie zu besuchen. Dort traten Ereignisse ein, die unser Leben vollständig veränderten. Mein Mann wurde plötzlich krank. Innerhalb von achtundvierzig Stunden war er völlig gelähmt. Sein Leben wurde durch eine Notoperation gerettet, bei der man einen Schlauch in seine Luftröhre einführte, so daß er mit Hilfe eines Atemgerätes atmen konnte. Welch ein Schreck doch Shannon und mir in die Glieder fuhr, als wir durch ein Telegramm über Davids Zustand unterrichtet wurden! Dennoch bedeutete es für uns eine Stärkung, zu wissen, daß Jehova Gott unserer Besorgnis Aufmerksamkeit schenkte und uns helfen würde.
Als wir in Kanada ankamen, brachten uns Davids Verwandte gleich zum Krankenhaus. Es war erschütternd, ihn so krank daliegen zu sehen. Seine Augenlider waren das einzige, was er noch bewegen konnte. Aber er erkannte uns, und als wir den Ausdruck der Erleichterung in seinen Augen sahen, waren wir sehr froh, daß wir bei ihm waren. Wir waren als Familie zusammen und beteten um Gottes Hilfe, damit wir das, was uns noch bevorstand, bewältigen und ertragen könnten.
Die nächsten sechs Monate waren hart und erwiesen sich für uns sowohl in physischer als auch in seelischer Hinsicht als Prüfung. David war wochenlang auf der Intensivstation. Da der Vormittag mit Untersuchungen ausgefüllt war, konnten wir ihn jeweils erst ab 13.30 Uhr besuchen. Seine Krankheit war anscheinend auf eine Art Virusinfektion ähnlich der Kinderlähmung zurückzuführen. Shannon und ich verbrachten den Vormittag im Predigtdienst, konnten jedoch jeden Nachmittag und Abend bei David sein. Das trug zu seinem Herzensfrieden bei. Versuche dir einmal vorzustellen, was es bedeutet, jahraus, jahrein kräftig und gesund zu sein und dann eines Tages plötzlich von einer Krankheit befallen zu werden und nichts mehr tun zu können, außer zu denken.
David war geistig rege, konnte aber nicht sprechen. Daher schrieb Shannon das Alphabet auf Karten, und jedesmal, wenn wir auf den richtigen Buchstaben zeigten, zwinkerte David. Wir reihten die Buchstaben geduldig aneinander, um Worte zu bilden. Nach einigen Wochen konnte er allmählich wieder seine Gesichtsmuskeln bewegen und mit seinen Lippen Worte bilden. Wir lernten, wie man von den Lippen abliest, mußten jedoch oft über unsere Mißverständnisse lachen. Davids Sinn für Humor half ihm über manches Tief hinweg.
Uns war bewußt, daß er sein schreckliches Leiden ertragen könnte, wenn wir ihm helfen würden, seine geistige Stärke und seinen Frohsinn zu bewahren. Aus diesem Grund stellten wir ein tägliches Studienprogramm auf. Es umfaßte biblischen Stoff aus dem Jahrbuch der Zeugen Jehovas und aus den Artikeln der Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! David sagte uns später, daß es ihm nur gelang, geistig gefaßt zu bleiben, weil er sich die Vorkehrungen Jehovas zunutze machte. Auch die vielen Briefe, die wir von unseren geistigen Brüdern in Australien und Kanada erhielten, waren eine Quelle großen Trostes und großer Ermunterung.
Er machte einige Fortschritte, wurde aber durch das Atemgerät beim Sprechen und Essen behindert. Und die Ärzte hielten es für unwahrscheinlich, daß er jemals wieder laufen könnte. Im November flogen wir mit David in Begleitung eines ausgezeichneten kanadischen Spezialisten nach Australien zurück.
Dank einer hervorragenden Behandlung in den Krankenhäusern konnte David im Laufe der Zeit wieder die Finger seiner rechten Hand gebrauchen. Daher war er in der Lage, einen besonderen elektrischen Rollstuhl zu bedienen. Er lernte es, mit seiner Hand, die an einer Vorrichtung hing, auf einer elektrischen Schreibmaschine zu schreiben. Wie war ich doch gerührt, als ich von ihm einen schönen Strauß Blumen bekam, zusammen mit einer kleinen maschinegeschriebenen Notiz, in der er seine Wertschätzung für unsere Fürsorge zum Ausdruck brachte!
Er wurde jeden Nachmittag zum Gymnastikunterricht gebracht, damit sich sein Körper kräftigen konnte. Das war gut und äußerst notwendig, aber Davids beste seelische Therapie bestand darin, daß er mit anderen über Jehova und die Segnungen sprach, die sein Königreich mit sich bringen wird. Er machte einige wunderbare Erfahrungen und begann sogar eine Anzahl Bibelstudien. Sein Glaube war für alle, mit denen er in Berührung kam, ein Beispiel und gereichte Jehova zur Ehre.
Niemand von uns hatte es leicht in dieser Zeit. Unser ganzes Leben war verändert. Shannon und ich gingen morgens immer zuerst in den Dienst und waren dann, sobald die Therapie beendet war, mit David zusammen. Wir gaben ihm etwas zu essen und lasen gemeinsam. Schließlich durfte er samstags nach Hause kommen. Dadurch wurde der Samstag zum schönsten Tag der Woche. Es kamen so viele Familienangehörige wie möglich zu Besuch, und wir führten unser regelmäßiges Familienstudium an Hand des Wachtturms durch. Wenn wir so an diese Monate zurückdenken, können wir sagen, daß wir, obwohl wir von Sorge erfüllt waren, in vieler Hinsicht gesegnet wurden und vieles erlebten, wofür wir dankbar sein konnten. Zu erwähnen wäre die Fürsorge und Freundlichkeit des Krankenhauspersonals und die Liebe, die unsere Angehörigen und unsere geistigen Brüder und Schwestern zum Ausdruck brachten. Wir sind für die vielen glücklichen Stunden dankbar, die wir täglich mit David verbringen konnten. Er war immer noch unser liebevolles Familienhaupt.
Aber was für eine Prüfung das für David doch bedeutete! Er war immer so kräftig und gesund gewesen. Dennoch diente er weiterhin Jehova, wobei er daran dachte, daß viele andere Christen noch mehr gelitten hatten. Am 30. August 1973, fünfzehn Monate nach dem Eintritt seiner Lähmung, verstarb schließlich unser lieber David, und zwar nur vier Stunden nachdem meine Mutter gestorben war. Das war wirklich ein trauriger Tag, denn der Tod ist einer unserer größten Feinde. Niemand kann uns jedoch die Freude nehmen, die das Bewußtsein mit sich bringt, daß David bis zu seinem Tode Gott gegenüber die Lauterkeit bewahrt hat. Er hat in Treue als Diener Jehovas gelebt, und er wird angesichts der bevorstehenden Auferstehung lediglich eine kurze Zeit schlafen. Wir sind Jehova dankbar für die Kraft, die er ihm gab, damit er seine Krankheit ertragen und als Anlaß benutzen konnte, vielen Personen, die bis dahin noch nie mit einem Zeugen Jehovas gesprochen hatten, Zeugnis zu geben.
Shannon und ich haben viel Wertvolles in dieser Zeit der Prüfung gelernt. Wir sind uns der Notwendigkeit bewußt geworden, kranken Personen Liebe und Mitgefühl zu erweisen, denn das ist für sie in seelischer und geistiger Hinsicht ziemlich wichtig. Wir konnten auch sehen, wie sehr wir unsere lieben Angehörigen benötigen. Und wir haben eine tiefere Wertschätzung für das Vorrecht zu beten und für die Kraft, die man daraus schöpfen kann.
Ich hoffe, daß dir das Lesen dieser Erfahrung in gewisser Hinsicht hilft auszuharren, wenn persönliche Schwierigkeiten eintreten, ob du nun der Patient bist, der unter körperlichen Schmerzen und seelischen Qualen leidet, oder ob du zu den nahen Verwandten gehörst, die mit der Sorge und der Belastung leben müssen, die sich ergeben, wenn man einen lieben Angehörigen leiden sieht. (Eingesandt.)