Warum mißhandeln sie kleine Kinder?
„ES LIEST sich wie ein Lehrbuch für KZ-Folterknechte oder für Experten in der Ausübung von Unmenschlichkeit.“ Worauf bezog sich der Zeitungsreporter, der diese Worte schrieb?
Auf Kindesmißhandlung. Berichte aus neuerer Zeit zeigen, daß Kindesmißhandlungen in den Vereinigten Staaten und anderen Teilen der Welt jetzt „epidemische“ Ausmaße erreicht haben.
Wie schlimm ist diese Epidemie? „KINDESMISSHANDLUNG — DIESE ,SEUCHE‘ KOSTET TÄGLICH ZWEI KINDERN DAS LEBEN“, so lautete eine Schlagzeile in der Zeitschrift American Medical News vom 21. April 1975. Einen Monat später wurde in der Zeitschrift The Journal of Legal Medicine berichtet: „Die häufigste Todesursache bei Kindern mag heute auf Kindesmißhandlung zurückzuführen sein. Nach Ansicht eines Kommentators ist die Zahl der Todesfälle aufgrund von Kindesmißhandlung größer als die Gesamtzahl der Todesfälle aufgrund von Unfällen und infektiösen Krankheiten zusammengenommen.“
Gegen Ende 1975 hieß es in einer Meldung der United Press International: „Jährlich werden über eine Million amerikanische Kinder körperlich mißhandelt oder vernachlässigt.“ In dem Bericht wurde dann auf Informationen Bezug genommen, die Douglas Besharov, ein Beamter des amerikanischen Ministeriums für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt, genannt hatte. Weiter hieß es: „Nach vorsichtigsten Berichten sterben, wie er sagte, jährlich 2 000 Kinder zufolge von Umständen, die mit Mißhandlung oder Vernachlässigung zusammenhängen.“ Statistiken zeigen, daß mißhandelte Kinder gewöhnlich unter fünf Jahre alt und oft jünger als ein Jahr alt sind. In der Bundesrepublik ist die Zahl der aufgeklärten Kindesmißhandlungen auf über 2 000 angewachsen; die Dunkelziffer wird auf 6 000 bis 400 000 geschätzt. Vermutlich sterben 200 bis 700 Kinder im Jahr an den Folgen von Mißhandlungen.
Erschütternde Grausamkeiten an Kindern
Berichte über Kindesmißhandlung sind herzzerreißend. Der Spiegel berichtete in seiner Ausgabe vom 21. Juli 1975 über folgende Fälle:
● In München schlug eine Mutter ihre siebenjährige Tochter wegen Nahrungsverweigerung und Bettnässens mit Riemen und Besen blutig, verbrühte ihr Kopf und Füße und gab dem Kind dessen eigenen Kot und Urin ein.
● In Hamburg folterte ein Trinker einen Zweijährigen, mit dessen Mutter er zusammen lebte, mit Scheuerbürste, Kochlöffel, Holzschuhen, Zollstock, die Herkunft einer 9 cm breiten Brandwunde des Kindes, das vor Qualen nicht mehr weinen konnte, blieb vor Gericht ungeklärt.
● In Heidelberg starb ein Zweijähriger an einer Kopfverletzung. Sein Körper war mit Blutergüssen und Wunden übersät.
In einem anderen Fall fand man einen achtzehnmonatigen Jungen, der an einem Busch am Rande eines Felsabhangs hing, neunzig Meter über einer tosenden Brandung. Er war dort ausgesetzt worden. Virginia Coigney schrieb in ihrem Buch Children Are People Too (Auch Kinder sind Menschen): „Eltern haben Händchen abgehackt und haben ihre Kleinen verbrüht, verstümmelt, geprügelt, ausgehungert, gefesselt, eingesperrt und ermordet.“ Kinder werden nicht nur körperlich mißhandelt, sondern häufig werden sie auch angeschrien, seelisch gequält und sexuell mißbraucht.
Was für Eltern oder andere Erwachsene setzen Kinder solchen Grausamkeiten aus? Sind es hauptsächlich geistig entartete oder wirtschaftlich verarmte Menschen, oder ist es eine andere unglückliche Kategorie von Personen?
„Keine Klischeevorstellung“
Kindesmißhandlungen findet man in allen Gesellschaftsschichten, ungeachtet der Rasse, der wirtschaftlichen oder der sozialen Stellung. „Es sollte ... keine Klischeevorstellung von mißhandelnden Eltern geben“, schrieb Virginia Coigney. „Wenn das Problem in Baltimore studiert wird, werden es hauptsächlich schwarze Eltern sein; wenn es in Salt Lake City studiert wird, werden es weiße sein. Rassische Faktoren hängen von der Zusammensetzung der beobachteten Gruppe ab.“ Die gleiche Autorin erklärt weiter:
„Kindesmißbrauch ist selten die Folge davon, daß jemand Kinder nicht mag oder sie sogar haßt. Mit wenigen Ausnahmen geben Sachverständige zu, daß die Eltern das Kind lieben, das sie mißhandeln. Und wenn nicht dieses Kind, dann doch wenigstens andere Kinder. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß derjenige, der Kinder mißhandelt, in Wirklichkeit anders handeln möchte, und bei der großen Mehrheit der Fälle ist es der Mißhandelnde selbst, der die zuständigen Behörden auf sein Verhalten aufmerksam macht, offensichtlich in der Hoffnung, das Kind vor seiner Krankheit [der des Vaters oder der Mutter] zu schützen. Es ist tatsächlich eine Krankheit. Kindesmißhandlung ist als eine chronische Krankheit mit akuten traumatischen wiederkehrenden Episoden beschrieben worden.“
Was verursacht diese „Krankheit“? Wie kann man es verhindern, ihr zu verfallen?
Unbeherrschter Zorn — Warum?
Es sind viele Nachforschungen angestellt worden, um die Ursachen der Kindesmißhandlung aufzudecken. In fast jedem Fall ist ein Faktor vorhanden. Welcher? In einem Interview sagte Dr. C. Henry Kempe, ein Sachverständiger auf dem Gebiet der Kindesmißhandlung, daß über 90 Prozent der Eltern ihre Kinder aus unbeherrschtem Zorn mißhandeln. Wie kommt es dazu?
Oft kommt es zu Zornausbrüchen, wenn Umstände eintreten, auf die ein oder beide Elternteile nicht vorbereitet sind. Oft ist dieser neue Umstand leider das erste Kind des Paares. „Viele junge Mädchen haben keine Vorstellung davon, was es bedeutet, für ein Kind zu sorgen“, erklärt Dr. Jane Gray, eine Mitarbeiterin von Dr. Kempe. „Keiner sagt ihnen, daß sie Windeln wechseln, Fieber bekämpfen, ausgespuckte Nahrung aufwischen und nachts aufstehen müssen.“ Einige Eltern, die mit Begeisterung für ihr hilfloses Kleinkind sorgen, geraten in Verzweiflung und Wut, wenn das Kleine anfängt zu laufen, aus seinem Laufställchen klettert und „überall seine Finger hat“. Andere kommen gut mit älteren Kindern zurecht, aber werden nicht mit Kleinkindern fertig.
Eine wichtige Rolle bei der Kindesmißhandlung spielt das Stadtleben. Überbevölkerte Städte mit ihrer Luft- und Wasserverschmutzung und ihrem Lärm erzeugen eine Spannung, mit der viele Erwachsene nicht fertig werden. Nur allzuoft müssen hilflose Kinder darunter leiden, wenn solchen Erwachsenen „der Kragen platzt“.
Auf einen anderen Faktor, der zur Kindesmißhandlung beiträgt, wurde in einem Artikel der Detroit News hingewiesen: „Sachverständige befürchten, daß eine starke Zunahme der Fälle von Kindesmißhandlung eine Nebenwirkung der zunehmenden Arbeitslosigkeit im Stadtgebiet von Detroit sein mag.“ Arbeitslose Väter kommen sich nicht nur nutzlos vor, sondern sind auch längere Zeit am Tag mit ihren Kindern zusammen als nur die ein oder zwei Stunden, die sie früher mit ihnen verbrachten, als sie noch beschäftigt waren. Männern fällt es im allgemeinen schwer, mit dem Geschrei, dem Gestrampel und der Rastlosigkeit von Kleinkindern fertig zu werden.
Die Ursachen der Kindesmißhandlung liegen jedoch gewöhnlich tiefer und sind mehr im persönlichen Bereich zu suchen. Wieso?
Eltern fühlen sich als „Versager“
Personen, die sich bemühen, der Kindesmißhandlung Einhalt zu gebieten, fordern Eltern auf, einmal über sich selbst nachzudenken. Diese Eltern hegen oft unrealistische Erwartungen hinsichtlich ihrer Kinder. Warum? Carole Bowdry, Leiterin eines Vereins zur Bekämpfung der Kindesmißhandlung in Dallas (Texas), erklärte: „Viele Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, haben nur wenig Selbstachtung, und es ist in ihnen das Gefühl geweckt worden, Versager zu sein und den Erwartungen ihrer eigenen Eltern in keiner Hinsicht gerecht werden zu können. Als sie dann erwachsen waren und selbst Kinder hatten, begannen sie sich so zu benehmen, als hätten sie nicht versagt, und erzählten ihren Kindern: ,Ich bin kein Versager, aber du.‘“
Diese Eltern, die als Kinder mißhandelt wurden und sich vergeblich nach Liebe sehnten, erwarten oft von ihren eigenen Kindern Unmögliches. Über eine Studie, die unter der Leitung Dr. Kempes angestellt wurde, gab der Autor Edward Edelson folgenden Kommentar:
„Natürlich ist jeder Fall anders. Aber wie Dr. Kempes Gruppe feststellte, ist in fast jedem Fall ein konstanter Faktor vorhanden, nämlich daß ein mißhandeltes Kind aufwächst und später selbst Kinder mißhandelt. Von ihren eigenen Eltern abgelehnt, von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt, fällt es ihnen schwer, zu anderen Menschen ein normales Verhältnis herzustellen, und sie setzen große Erwartungen in ihre Kinder. Diese Erwartungen gehen nie in Erfüllung, denn kein normales Kind kann so vollkommen sein, wie es diese Eltern wollen. Daher wird das Kind geschlagen, und so fängt alles wieder von vorn an.“
Ähnlich waren die Untersuchungsergebnisse der in Massachusetts ansässigen „Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern“. Diese Gruppe untersuchte Fälle von Kindesmißhandlung in 115 Familien mit 180 Kindern. Es stellte sich heraus, daß neun von zehn Kinderquälern „schwere soziale Probleme“ hatten. Meistens handelte es sich um Einzelgänger, die nur einen kleinen oder überhaupt keinen Freundeskreis hatten. Viele dieser Eltern suchen nahezu alle ihre Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Zuneigung durch ein Kind (oder Kinder) zu befriedigen. Sie betrachten Kinder als „kleine Erwachsene“ und erwarten von ihnen, daß sie Zuneigung, Beweggründe und Selbstbeherrschung genauso zum Ausdruck bringen wie Erwachsene. Natürlich kann kein Kind solchen Erwartungen entsprechen. Doch dieses anscheinende Versagen wird als willentlicher Ungehorsam gedeutet, und das Kind wird dann dementsprechend bestraft.
Auswirkung der „neuen Moral“
Die Einstellung zur Geschlechtsmoral hat sich in den letzten Jahren radikal geändert. Heute ist es gang und gäbe geworden, daß Männer und Frauen je nach Laune ihren Geschlechtspartner wechseln. Du magst darüber denken, wie du willst. Aber hast du erkannt, daß dies zu der Zunahme an Kindesmißhandlungen beigetragen hat? Inwiefern?
Dr. Peggy Ferry, eine Kinderneurologin an der Medizinischen Fakultät der Universität von Oregon, erklärte: „Häufig regt sich der neue Liebhaber über das kleine, reizbare Kind auf. Das Kind mag ihn an den früheren Geliebten der Mutter erinnern, oder es mag bei der Freizeitplanung des Paares im Wege sein.“ Ein solcher „Liebhaber“ war es auch, der in dem zu Beginn des Artikels angeführten Fall aus Hamburg ein kleines Kind folterte.
Die sich häufenden Berichte über das Verprügeln, Foltern und Ermorden hilfloser Kinder sind wirklich erschütternd. Wir haben nur einige der Hauptursachen für Kindesmißhandlungen untersucht. Wie können Erwachsene das Übel an der Wurzel packen und die Neigung, kleine Kinder zu mißhandeln, überwinden?