Unaufhaltsamer Anstieg der Kriminalität
IN Italien fuhr ein Mann mit dem Auto von der Arbeit nach Hause. Unterwegs stieg er kurz aus, um in einem Laden etwas abzuholen. Unvorsichtigerweise ließ er den Zündschlüssel stecken. Als er wenige Minuten später das Geschäft verließ, war das Auto weg.
Er verbrachte eine schlaflose Nacht, doch am Morgen erlebte er eine freudige Überraschung: Sein Auto stand vor dem Haus auf dem Platz, auf dem er es sonst immer stehen hatte. Unter dem Scheibenwischer steckte ein Zettel mit der Notiz: „Es tut mir leid, Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet zu haben, aber es war ein Notfall. Ich möchte mich herzlich bedanken und hoffe, daß Sie auf meine Kosten einen vergnügten Abend haben werden.“ An dem Zettel hingen zwei Theaterkarten — die besten Plätze im ganzen Haus — für die Vorstellung an jenem Abend. Sein Vertrauen zu den Menschen war wiederhergestellt.
Nach einem genußreichen Theaterabend kehrte er mit seiner Frau nach Hause zurück, suchte nach seinem Hausschlüssel, öffnete die Tür und betrat — eine vollkommen leere Wohnung! Alles, aber auch alles, hatten die Einbrecher mitgehen lassen. Erneut verlor er sein Vertrauen zu den Menschen, das er erst kurz zuvor wiedererlangt hatte.
Das ist zwar ein ganz besonders krasser Fall, doch könnten noch viele weitere Fälle angeführt werden als Beweis dafür, mit welcher Unverschämtheit heute Verbrechen begangen werden. Das Ausräumen einer Wohnung ist im Vergleich zu anderen Straftaten verhältnismäßig harmlos, zu Straftaten, die von einer solchen Brutalität und Bestialität zeugen, daß man ungläubig den Kopf schüttelt. Man braucht sich daher nicht zu wundern, daß viele Leute das Vertrauen zu ihren Mitmenschen verloren haben und ständig in Furcht leben.
Jeder einzelne hat irgendwie unter der Kriminalität zu leiden. Es kommt vor, daß die ganze Bevölkerung eines Landes von der Verbrecherwelt geschröpft wird. So schätzen Chicagoer Experten, daß der Durchschnittsamerikaner wegen der erpresserischen Machenschaften der Mafia sowie der Kosten, die die Diebstahlversicherungen und der größere Personalaufwand zur Sicherung von Gebäuden vor Einbrechern verursachen, für jeden Dollar, den er ausgibt, zwei Cent zusätzlich zahlt.
Firmendiebstähle und Ladendiebstähle zwingen die Geschäftsleute, höhere Preise zu verlangen, um die Verluste wettzumachen. Der Kunde zahlt für die Unehrlichkeit anderer. Zum Beispiel wird der jährliche Verlust, der auf diese Weise der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland zugefügt wird, auf über eine Milliarde Mark geschätzt. Die Kriminalität ist kostspielig; sie kann es für den Täter sein, auf jeden Fall ist sie es für das Opfer, denn das Opfer zahlt immer.
Beunruhigende neue Trends
Die Kriminalität ist nichts Neues. Aber in jüngster Zeit zeigt sie ganz neue Dimensionen. Ihr unaufhaltsamer Anstieg — eine Erscheinung, die sich keineswegs auf ein bestimmtes Land oder ein bestimmtes Gebiet beschränkt — hat Polizei- und Justizbehörden sowie Leute, die nicht vom Fach sind, veranlaßt, der Kriminalität größere Aufmerksamkeit zu schenken und sich Gedanken darüber zu machen, wie sie erfolgreich zu bekämpfen ist.
Immer häufiger werden „sinnlose“ Straftaten, d. h. Straftaten ohne Motiv, verübt. Zum Beispiel werden öffentliche Gebäude beschmiert, und aus Telefonbüchern in Fernsprechzellen werden Seiten herausgerissen.
Oft handelt es sich jedoch um schwere Delikte, um Delikte, die eine unerhörte Brutalität verraten. Am Rande einer deutschen Großstadt zum Beispiel fielen zwei 17jährige Burschen über einen 33jährigen Passanten her und stachen abwechselnd auf ihn ein. Im Polizeibericht hieß es dann, der Tote habe mehr als 80 Messerstiche aufgewiesen. Nach dem Motiv befragt, antworteten die beiden Täter: „Wir wollten eben nur mal einen alle machen.“ In Cherbourg (Frankreich) schlugen junge Leute (19 bis 20 Jahre alt) einen Notar derart zusammen, daß er drei Tage im Koma lag und dann an seinen Verletzungen starb. Warum hatten sie das getan? „Aus Spaß.“
Ein weiterer beunruhigender Trend ist der Anstieg des weiblichen Anteils an der Kriminalität. Typisch dafür ist die deutsche Terroristenszene: Ein großer Teil der bekannten Mitglieder dieser Szene sind Frauen. Bei 13 der 18 im November 1979 dringend gesuchten Terroristen handelte es sich um Frauen.
Was Gerichte und Politiker jedoch am meisten beunruhigt, ist die stark ansteigende Kinder- und Jugendkriminalität. Über die Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika konnte man in der Zeitschrift Time lesen: „Es hat schon immer geheißen: ,Kindern läßt man sogar einen Mord durchgehen.‘ Das ist jetzt buchstäblich so. Die Verbrechensszene im ganzen Land ist erschütternd, ja erschreckend. Viele Jugendliche rauben, vergewaltigen, verstümmeln und morden mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie ins Kino oder auf den Fußballplatz gehen.“
Dieser Trend unter den jungen Leuten läßt für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Im Hamburger Abendblatt hieß es über die Lage in Deutschland: „Nach der neuen Kriminalstatistik ist die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren seit 1975 um 25,1 Prozent gestiegen. Bei Kindern bis zu 14 Jahren erhöhte sich diese Rate sogar um 30,8 Prozent ... Gleichzeitig weisen sie [die Experten der Bonner Parteien] darauf hin, daß ein Ende des Trends noch nicht abzusehen sei. Es müsse damit gerechnet werden, daß die Zahl straffälliger Jugendlicher und Kinder weiter zunimmt.“
Zweifelsohne ist die Kriminalität ein Problem, das wir sehr ernst nehmen sollten. Die französische Regierung hielt es für ratsam, eine Elferkommission mit der Untersuchung der Kriminalität zu beauftragen. Nach 16monatiger Tätigkeit unterbreitete das Expertengremium einen 700seitigen Bericht mit 103 Empfehlungen für die Lösung des Problems.
Die Vereinten Nationen maßen dem Kriminalitätsproblem ebenfalls eine so große Bedeutung bei, daß sie eine aus 15 Mitgliedern bestehende Expertenkommission für Verbrechensverhütung und -kontrolle bildeten, die alle fünf Jahre einen Weltkongreß veranstaltet, auf dem Methoden zur weltweiten Bekämpfung der Kriminalität besprochen werden. Das Hauptthema des Kongresses von 1975 lautete: „Verbrechensverhütung und -bekämpfung — die Herausforderung des letzten Viertels unseres Jahrhunderts“. Der sechste dieser Kongresse findet 1980 in Sydney (Australien) statt.
Was bedeutet der unaufhaltsame Anstieg der Kriminalität? Verschlimmert sich die Situation in einem solchen Maße, daß man mit einer Besserung nicht mehr rechnen kann? Oder wird das Problem übertrieben? Ist es wirklich so gravierend? Was ist deine Meinung?
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
„Es hat schon immer geheißen: ,Kindern läßt man sogar einen Mord durchgehen.‘ Das ist jetzt buchstäblich so.“