„Künstliches Blut“ im Kommen
Der Zweck dieses Artikels ist nicht, den Blutersatz PFC (Perfluorchemikalien) zu empfehlen, sondern lediglich über seine Entwicklung und über die Vorteile zu berichten, die er gegenüber anderen Blutersatzstoffen hat. Ferner wird darauf hingewiesen, daß noch sehr viel Forschungsarbeit erforderlich ist, bis die PFC als vollkommen ungefährliche Mittel gelten können. Sie befinden sich immer noch im Versuchsstadium, und ihre Anwendung ist mit Risiken verbunden. Über die Gefahr von Spätschäden herrscht bisher auch noch völlige Unkenntnis.
SEIT Anfang vergangenen Jahres strömt durch die Adern bestimmter Krankenhauspatienten, die große Blutverluste erlitten hatten, eine neue Flüssigkeit. Dieser erstaunliche, Sauerstoff transportierende Blutersatz wurde zuerst in Japan und dann auch in den Vereinigten Staaten in Notfällen angewandt, entweder weil es sich um Patienten mit seltener Blutgruppe handelte oder um Patienten, die aus religiösen Gründen eine herkömmliche Bluttransfusion ablehnten. Einige dieser Patienten waren Zeugen Jehovas, die sich kein Blut übertragen ließen, weil die Bibel gebietet, sich ‘des Blutes zu enthalten’ (Apg. 15:20, 29)a.
Ein 67jähriger Zeuge aus Minnesota erhielt, wie die Zeitschrift Science News berichtete, „zwei Liter der Chemikalien. Das entsprach ungefähr 25 % seines gesamten Blutvolumens. Danach besserte sich sein Zustand. Sein Körper schied das künstliche Blut langsam aus ..., und das Knochenmark erzeugte genügend natürliches Blut, um den anämischen Zustand zu überwinden.“ Das letzte, was man von ihm hörte, war, daß er sich sehr gut fühlte. In Kalifornien erhielt ein 65jähriger Mann 1,4 Liter von diesem „künstlichen Blut“, als er sich einer großen Magenoperation unterziehen mußte. Fünf Tage danach durfte er das Krankenhaus verlassen.
Im Laufe des Jahres wurden in Japan und in den Vereinigten Staaten Dutzende von Notfallpatienten mit dem neuen Blutersatz behandelt. In der ganzen Welt brachten die Tageszeitungen und Fachzeitschriften Schlagzeilen über diese Entwicklung. Warum gilt dieses Mittel als großer medizinischer Durchbruch? Um das zu verstehen, muß man einige der Probleme kennen, die in Verbindung mit der Übertragung von Menschenblut auftauchen.
In der ganzen Welt werden in Krankenhäusern und an medizinischen Forschungsstätten jährlich Tausende von Tonnen Menschenblut gebraucht. Allein die Krankenhäuser in Schweden, einem Land mit nur 8 Millionen Einwohnern, verbrauchen jedes Jahr etwa 220 000 Liter Blut. Die Beschaffung dieser riesigen Menge Blut ruft überall große Probleme hervor. Der Mangel an Spendern zwingt viele Länder, sehr viel Blut zu importieren, und das oft aus Entwicklungsländern. Die Spender dort mögen arm, unterernährt und sogar krank sein. Die Preise für Blut sind hoch.
Eine weitere Schwierigkeit sind die Schäden, die durch die Übertragung von Menschenblut entstehen können, z. B. Hepatitis und verschiedene immunologische Störungen. Außerdem besteht die Gefahr, daß das Blut bei der Gewinnung geschädigt wird. Ein weiterer Nachteil ist seine begrenzte Lagerfähigkeit: gewöhnlich etwa drei bis fünf Wochen. Rund ein Drittel des Konservenblutes muß weggeworfen werden, weil es überlagert ist.
Keine leichte Aufgabe
Wegen dieser Probleme sähen es die Fachleute gern, einen geeigneten Ersatz für das natürliche Blut zur Verfügung zu haben. Diese hochkomplizierte Flüssigkeit nachzuahmen ist aber nicht leicht. In der nachfolgenden Liste sind einige Blutbestandteile und ihre Funktionen verzeichnet:
Blutbestandteile und ihre Funktionen
Rote Blutkörperchen - Transportieren Sauerstoff in die Zellen und Kohlendioxyd zur Lunge
Weiße Blutkörperchen - Wehren Infektionen ab, bilden Antikörper
Blutplättchen - Fördern die Blutgerinnung
Proteine (etwa 30 Arten, z. B. Albumin, Globuline) - Tragen zur Aufrechterhaltung des Plasmavolumens bei; transportieren Fette und Fettsäuren, Antikörper usw.
Natrium, Kalium und andere Ionen - Sorgen für eine gleichbleibende Salzkonzentration
Enzyme - Fördern chemische Reaktionen
Hormone - Schwächen enzymatische Reaktionen ab
Gerinnungsfaktoren - Verhindern Blutverlust
Das sind nur einige wenige der vielen bekannten Bestandteile des menschlichen Blutes. Und nicht einmal von diesen Bestandteilen sind alle Funktionen bekannt. Es ist durchaus möglich, daß im Blut weitere Bestandteile vorhanden sind, die wir noch nicht kennen, denn seine genaue Zusammensetzung ist immer noch das Geheimnis unseres allweisen Schöpfers. Ein amerikanischer Forscher, der sich um die Entwicklung des „künstlichen Blutes“ verdient gemacht hat, gibt ohne weiteres zu, daß es niemals möglich sein wird, einen echten Ersatz für das menschliche Blut zu schaffen.
Trotz der Kompliziertheit des menschlichen Blutes haben die Wissenschaftler sich bemüht, einen Ersatz dafür zu entwickeln, der wenigstens vorübergehend die Funktionen des echten Blutes übernehmen kann. Blutersatzstoffe, mit denen man die Patienten jetzt behandelt, sind unter anderem Dextran, Haemaccel, Hydroxyäthylstärke, Ringerlactat und Kochsalzlösung. Solche Lösungen können aber nur wenige Funktionen des Blutes übernehmen. Sie dienen in erster Linie als Volumenexpander, das heißt, sie normalisieren nach einem Blutverlust das Blutvolumen und verhindern so die Blutschlammbildung in der Zeit, die der Körper braucht, um das verlorene Blut zu ersetzen.
Die Entwicklung des „künstlichen Blutes“
Der größte Nachteil der Plasmavolumenexpander besteht darin, daß sie im Gegensatz zu den roten Blutkörperchen des natürlichen Blutes keinen Sauerstoff zu den Körperzellen und kein Kohlendioxyd von den Körperzellen zur Lunge transportieren. In den vergangenen zehn Jahren haben indessen Wissenschaftler in Japan, Schweden und in den Vereinigten Staaten Stoffe entwickelt, die man Perfluorchemikalien (PFC) nennt. Sie können den Transport von Sauerstoff und von Kohlendioxyd übernehmen.
Die Fluorkohlenstoffe sind reaktionsträge. Sie gehen anscheinend keine Reaktion mit anderen Stoffen des menschlichen Blutes ein und werden vom Körper in relativ kurzer Zeit wieder ausgeschieden. Sie können nicht nur doppelt soviel Sauerstoff aufnehmen wie das Blut, sondern sie können auch Sauerstoff und Kohlendioxyd in wenigen Tausendstelsekunden aufnehmen oder abgeben.
Es ist den Wissenschaftlern gelungen, eine Lösung herzustellen, die man in begrenztem Maße als „künstliches Blut“ bezeichnen könnte. Da die Fluorchemikalien sich nicht mit Blut mischen, müssen Emulsionen hergestellt werden, indem winzige Tröpfchen von PFC (kleiner als 1/10 000 mm) in Wasser verteilt werden, ähnlich wie sich Sahne in homogenisierter Milch verteilt. Diese Flüssigkeit wird dann mit Antibiotika, Vitaminen, Nährstoffen und Salzen gemischt. Das Endprodukt enthält etwa 80 verschiedene Bestandteile, die anscheinend nicht wenige der wichtigen Funktionen des natürlichen Blutes übernehmen können.
In den vergangenen Jahren sind mit PFC-Emulsionen großangelegte Tierversuche durchgeführt worden. In Japan ersetzten die Forscher bei Ratten 90 % des Blutvolumens durch PFC, und die Ratten blieben am Leben. In Schweden und in den Vereinigten Staaten haben die Versuchstiere überlebt, obschon man ihr gesamtes Blutvolumen durch PFC ersetzt hat. Die japanischen Wissenschaftler berichteten, daß Affen, die nur noch 2 % Eigenblut hatten, mit diesem Blutersatzstoff überlebten. (Siehe Erwachet!, 8. November 1979, S. 31; 8. März 1980, S. 29.)
Viele Vorteile
Nach Auffassung der Wissenschaftler haben die PFC-Emulsionen viele Vorzüge. Im Gegensatz zu natürlichem Blut können sie leicht steril gehalten und monate- oder sogar jahrelang gelagert werden. Eine Blutgruppenbestimmung ist auch nicht nötig (was in Notfällen äußerst wertvoll ist), und soweit bisher bekannt ist, besteht die Gefahr der Übertragung von Infektionskrankheiten wie Hepatitis und Syphilis nicht.
Ein weiterer Vorzug besteht darin, daß die winzigen Fluorkarbonteilchen auch durch Schock verengte Kapillaren — bei Verbrennungen — erreichen. Die Teilchen sind ungefähr tausendmal kleiner als die roten Blutkörperchen, daher können sie Gebiete mit Sauerstoff versorgen, die vom Blut nicht mehr versorgt würden. Die Wissenschaftler haben auch festgestellt, daß die Fluorkarbone die weißen Blutkörperchen, die Krankheiten bekämpfen, aktivieren.
Vor kurzem gab Professor Lars-Olof Plantin vom Forschungsinstitut Karolinska (Huddinge-Universitätskrankenhaus, Schweden) ein Interview, in dem er folgende Verwendungsmöglichkeiten für PFC aufzählte: Notfallmedizin, Große Chirurgie, Kohlenmonoxydvergiftung, schwere Blutungen, Chemotherapie, Sepsis, Entfernung von Toxinen, Viren, Medikamenten usw., anaerobe Infektionen, Serumtherapie, Blutaustausch. Und der amerikanische Chemiker Robert E. Moore fügte noch hinzu: „[Fluorkarbone] könnten zur Behandlung verschiedener Anämien, auch der Sichelzellenanämie, verwendet werden. Ferner könnten sie zur besseren Überwindung der Folgen von Herzinfarkten eingesetzt werden. Weil sie chemisch träge sind, würden sie sich ausgezeichnet zu Forschungszwecken eignen, denn sie würden unbekannte Faktoren ausschalten.“
Bis dieses Blutersatzmittel in Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt werden kann, muß jedoch noch sehr viel geforscht werden. Lars-Olof Plantin und seine Mitarbeiterin Vera Novácová sagen, daß alle wichtigen Körperorgane sorgfältig untersucht werden müssen, um zu ermitteln, ob sie durch die PFC geschädigt werden oder nicht. Durch weitere Forschungen muß auch ermittelt werden, ob die PFC die verschiedenen Organsysteme des Körpers stören oder nicht. Wichtig ist ferner die Entwicklung der besten Formel für die Emulsion.
Unbekannt ist bisher noch, ob der Körper die PFC auf natürliche Art und Weise, durch Ausatmen und durch die Haut, ebenso schnell ausscheiden kann, wie er die roten Blutkörperchen bildet. Es wird angestrebt, stabile PFC-Emulsionen zu entwickeln, die der Körper innerhalb von 30 Tagen auszuscheiden vermag. Obwohl die Bemühungen, diese Probleme zu lösen, gegenwärtig stark intensiviert werden, kann es noch Jahre dauern, bis alle Möglichkeiten von Nebenwirkungen ausreichend untersucht sind. Die Verwendung des „künstlichen Blutes“ ist ein kalkuliertes Risiko.
Gegenwärtig erlauben die staatlichen Behörden sowohl in Japan als auch in den Vereinigten Staaten die Anwendung von fluorierten Kohlenwasserstoffen als „Blutersatz“ nur in Notfällen. Dr. Joseph Fratantoni von der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) soll erklärt haben, er könne sich nicht vorstellen, daß die Arzneimittelbehörde die Verwendung des „künstlichen Blutes“ gestatten werde, außer wenn Patienten — z. B. Zeugen Jehovas — aus religiösen Gründen die herkömmliche Blutübertragung ablehnten. Aber der Erfolg, mit dem die Fluorkarbone bei dem früher erwähnten Zeugen Jehovas aus Minnesota angewandt wurden, hat, wie die New York Times schrieb, „die amerikanische Forschung positiv beeinflußt“.
Fälle dieser Art vermitteln den Wissenschaftlern weiteren Aufschluß darüber, wie sich diese Chemikalien auf den menschlichen Körper auswirken. Die in Los Angeles erscheinende Zeitung Times wies darauf hin, daß die Zahl solcher Patienten ziemlich groß sein könnte, und schrieb: „Die Tatsache, daß viele von ihnen wahrscheinlich Zeugen Jehovas sein werden, bedeutet, daß ihre religiöse Überzeugung schließlich Personen aller Glaubensrichtungen von Nutzen sein wird.“
[Fußnote]
a Wie aus unterrichteten medizinischen Kreisen verlautet, steht dieses Mittel gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht zur Verfügung. Seine Verwendung wäre frühestens in zwei oder drei Jahren möglich.