Wenn man sich über jemand ärgert
EIN Tourist, der sich in einem asiatischen Land aufhielt, meldete dem Direktor seines Hotels, daß ihm die Uhr abhanden gekommen sei. Als einige Zeit verstrichen war, er seine Uhr aber immer noch nicht zurückerhalten hatte, dachte er, der Direktor habe die Sache auf sich beruhen lassen. In seinem Zorn warf er seine sämtlichen Kleidungsstücke, einen Papierkorb und ein Fernsehgerät aus dem Fenster seines Zimmers im 18. Stock ins Schwimmbecken.
Hast du dich auch schon über jemand so geärgert, daß du am liebsten losgetobt hättest? Viele haben schon einmal so reagiert. Aber es gibt auch Personen, die ganz still werden, wenn jemand sie beleidigt hat, und denken: „Mit dem werde ich kein Wort mehr reden!“ Das passierte in einer Kleinstadt auf den Philippinen, wo sich zwei Männer um ein Grundstück stritten. Lange Zeit redeten sie nicht mehr miteinander. Ist es aber förderlich, so zu reagieren, wenn man sich über jemand ärgert oder wenn man beleidigt wird?
Solche Reaktionen vergrößern das Problem nur noch. Trotz seines Wutanfalls erhielt der Tourist die Uhr nicht zurück, aber sehr wahrscheinlich mußte er für den ganzen angerichteten Schaden aufkommen. Und das Grundstücksproblem der beiden erwähnten Männer wurde dadurch, daß sie nicht mehr miteinander redeten, auch nicht gelöst; aber für ihre Angehörigen, Freunde und Nachbarn war die Sache unangenehm, ja peinlich. Sicherlich gibt es einen besseren Weg. Jesus wies uns einen solchen Weg. Wie wir, so war auch er von unvollkommenen Personen umgeben, und manchmal bereiteten ihm ihre Fehler und Schwächen Kummer. Gelegentlich reagierte er auf die Handlungen oder die Einstellung der Leute „unwillig“ oder „seufzte ... tief mit seinem Geist“ (Mark. 8:12; 10:14). Aber er wurde nicht gewalttätig und strafte auch niemand mit Verachtung. Vielmehr bemühte er sich, den Menschen zu helfen, ihre Schwierigkeiten zu erkennen und zu überwinden.
Jesus gelang dies sehr gut, weil er seine Mitmenschen, insbesondere seine Nachfolger, innig liebte. Er sagte zu ihnen: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebt, so, wie ich euch geliebt habe, daß auch ihr einander liebt.“ Diese Liebe kam besonders dann zum Ausdruck, wenn Jesus es mit menschlichen Schwächen zu tun hatte. Außerdem verlor er in solchen Situationen nie sein Gleichgewicht, weil er, wie er selbst sagte, „mild gesinnt und von Herzen demütig“ war. Wenn man Schwierigkeiten in den zwischenmenschlichen Beziehungen mit Sanftmut und Demut zu beheben sucht, ist man gewöhnlich erfolgreich (Joh. 13:34; Matth. 11:29).
Jesu Methode
Hat man dir schon einmal etwas versprochen, das Versprechen aber dann nicht gehalten? Oder hast du dich schon einmal mit jemand verabredet und dann vergeblich auf ihn gewartet? Solche Erlebnisse sind ärgerlich. Berechtigen sie jedoch dazu, in Zorn zu geraten oder sich in eisiges Schweigen zu hüllen?
Man denke daran, wie sich Jesus am Abend vor seinem Tod seinen Aposteln gegenüber verhielt. Jesus befand sich in einer schweren Prüfung. Er hatte mit seinen Aposteln den Garten Gethsemane aufgesucht und dann zu ihnen gesagt: „Meine Seele ist tief betrübt, ja bis zum Tode. Bleibt hier und wacht mit mir“ (Matth. 26:38). Darauf hatte er sich etwas von ihnen entfernt, um zu beten. Wie fand er die Jünger vor, als er zurückkehrte? Schlafend! Er weckte sie, bekundete aber Mitgefühl.
Jesus erkannte, daß die Ursache kein schlechter Beweggrund, sondern menschliche Unvollkommenheit war. Deshalb sagte er: „Der Geist ist zwar voller Eifer, das Fleisch aber ist schwach“ (Matth. 26:36-46). Auch nachher, als die Apostel ihn seinen Feinden überließen und Petrus ihn verleugnete, ließ Jesus seine Freunde nicht im Stich. Nach seiner Auferstehung unternahm er vielmehr Schritte, um sie zu stärken und ihnen zu helfen, ihre Schwächen zu überwinden.
Welch vorzügliche Haltung! Der Apostel Paulus schrieb: „Die Liebe ... hofft alles.“ Anstatt nicht mehr mit Personen zu reden, die uns enttäuscht haben, warum nicht — wie Jesus — anerkennen, daß sie es vielleicht aus menschlicher Unvollkommenheit heraus getan haben und nicht aus einem schlechten Beweggrund? Das würde von Liebe zeugen und könnte sie anspornen, sich zu bemühen, uns kein zweites Mal mehr zu enttäuschen (1. Kor. 13:4, 7).
Wie handeln, wenn der gleiche Fehler mehrmals begangen wird?
Natürlich läßt sich ein Problem oft nicht dadurch lösen, daß man jemand nur ein einziges Mal ermahnt. Wie Eltern wissen, muß man Kindern gewöhnlich das gleiche immer wieder sagen, bis sie es endlich begreifen. Ähnlich kann es bei Erwachsenen sein.
Mit Jesu ersten Nachfolgern verhielt es sich jedenfalls so. Zum Beispiel stritten sie sich einmal darüber, wer der Größere sei. Jesus hörte es und ergriff die Gelegenheit, ihnen zu erklären, daß es unter seinen Nachfolgern keine Stellung gebe, die zum Herrschen berechtige. Er sagte: „Wenn jemand der Erste sein will, so soll er der Letzte von allen und aller Diener sein“ (Mark. 9:35).
Trotz der deutlichen Worte Jesu baten ihn wenige Monate später zwei seiner Apostel ganz offen darum, ihnen im Königreich die beiden höchsten Ehrenplätze zu geben. Die anderen wurden unwillig. Jesus dagegen erklärte ganz geduldig noch einmal: „Ihr wißt, daß die Herrscher der Nationen den Herrn über sie spielen und die Großen Gewalt über sie ausüben. Unter euch ist es nicht so, sondern wer irgend unter euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer irgend unter euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein“ (Matth. 20:24-27).
Am Abend vor Jesu Tod kam die Frage noch einmal auf. Wie der Bericht sagt, entstand „ein hitziger Wortstreit unter ihnen darüber, wer von ihnen der Größte zu sein scheine“. Aber wiederum wiederholte Jesus geduldig seine Erklärung, daß es unter seinen Nachfolgern keine Stellung gebe, die zum Herrschen berechtige, sondern jeder verpflichtet sei zu dienen. Um ihnen das besser begreiflich zu machen, führte er es ihnen praktisch vor, indem er jedem der anwesenden Apostel die Füße wusch. Das war es, was er unter dem Wort „dienen“ verstand (Luk. 22:24-27; Joh. 13:3-5).
Endlich schienen die Apostel es begriffen zu haben. Viele Jahre später schrieb der Apostel Petrus an die Christenversammlungen einen sehr schönen Brief, in dem er diese Gedanken weitergab. Er ermahnte diejenigen, die in den Versammlungen führend vorangingen: „Hütet die Herde Gottes ... nicht als solche, die über die herrschen, die Gottes Erbe sind, sondern indem ihr Vorbilder für die Herde werdet“ (1. Petr. 5:2, 3).
Wenn wir wie Jesus reagieren, werden wir uns richtig verhalten. Wir sind dazu fähig, wenn wir uns bemühen, so liebevoll, sanftmütig und demütig wie Jesus zu sein.
Jesu Beispiel nachahmen
Jesus schärfte seinen Nachfolgern ein, ihren Glaubensbrüdern gegenüber liebevoll und versöhnlich zu sein und ihnen, wenn erforderlich, „bis zu siebenundsiebzigmal“ zu vergeben. Wie sollen wir uns indessen verhalten, wenn einer unserer Brüder ein schweres Unrecht begeht? Jesus ermahnte seine Nachfolger, mit einem solchen Bruder unter vier Augen zu sprechen. „Wenn er auf dich hört“, sagte Jesus, „so hast du deinen Bruder gewonnen“ (Matth. 18:15, 22).
Wenn wir uns mit solchen Fällen befassen müssen, dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß wir, im Gegensatz zu Jesus, nicht vollkommen sind. Wahrscheinlich ärgern nicht nur wir uns über andere, sondern andere sich manchmal auch über uns. Es wäre daher gut, wir würden uns, wenn wir uns mit den Fehlern anderer befassen müssen, so verhalten, wie wir möchten, daß andere sich uns gegenüber verhalten, wenn sie sich mit unseren Fehlern befassen müssen — liebevoll, sanftmütig und demütig. So setzt man Jesu Worte in die Tat um: „Alles daher, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, sollt auch ihr ihnen ebenso tun“ (Matth. 7:12).
Wenn wir anerkennen, daß wir selbst auch unvollkommen sind, hilft uns das noch in einer anderen Beziehung. Jesus besaß ein außergewöhnliches Wahrnehmungsvermögen und war imstande, die Motive und den Herzenszustand der Menschen zu beurteilen. Uns ist das nur in einem ganz beschränkten Maße möglich. Deshalb kann es sein, daß wir, wenn wir uns verletzt fühlen oder uns über jemand ärgern, die Lage falsch beurteilt haben. Vielleicht hatte man gar nicht beabsichtigt, uns zu beleidigen oder zu ärgern. Der Tourist, dessen Verhalten eingangs geschildert wurde, war beispielsweise im Irrtum. Der Hoteldirektor hatte die Polizei verständigt, und diese war der Sache nachgegangen.
Wir sollten jedoch unbedingt Demut bekunden, selbst wenn wir die Überzeugung haben, im Recht zu sein. Das erleichtert es dem anderen, etwas wiedergutzumachen. Jesus sagte, man solle mit demjenigen, der einem etwas angetan habe, sprechen, um ‘seinen Bruder zu gewinnen’. Verhält man sich bei der Behandlung des Problems sanftmütig und demütig, erreicht man sehr wahrscheinlich dieses Ziel.
So war es bei den beiden Männern, die wegen des Streites um das Stück Land nicht mehr miteinander sprachen. Nach einer längeren Zeit kamen sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel ganz unerwartet nebeneinander zu sitzen. Der eine war demütig genug, sich für sein falsches Verhalten zu entschuldigen. Damit war das Eis gebrochen. Die beiden Männer umarmten sich. Nun konnte ihr Problem in aller Ruhe durchdiskutiert werden, ohne daß es für ihre Umgebung unangenehm oder peinlich gewesen wäre.
Ja, die drei christlichen Eigenschaften — Liebe, Sanftmut und Demut — können sich auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen günstig auswirken. Wenn wir uns über andere ärgern, können diese Eigenschaften dazu beitragen, daß wir uns richtig verhalten, was sich dann gewöhnlich zum Segen auswirkt. Es sind Eigenschaften, auf die, wenn man es sich genau überlegt, keiner von uns verzichten kann.
„Indem ihr nichts aus Streitsucht oder aus Ichsucht tut, sondern in Demut die anderen höher achtet als euch selbst, indem ihr nicht nur eure eigenen Dinge im persönlichen Interesse im Auge behaltet, sondern im persönlichen Interesse auch die der anderen“ (Phil. 2:3, 4).