Warum es Eltern so schwer fällt, ihre Kinder gehen zu lassen
ZUM dritten Mal sagt er nun schon „Auf Wiedersehen!“ Zwischendurch hat er immer wieder alle möglichen Entschuldigungen gefunden, um den endgültigen Abschied etwas hinauszuzögern.
Doch dann ist es soweit. Er drückt die mit den Tränen kämpfende Mutter nochmals an sich, dem Vater schüttelt er kräftig die Hand und geht. Die Eltern schauen sich an — sie sind sich bewußt, daß ihr Sohn von nun an nicht mehr bei ihnen wohnen wird. Das Haus, das einst von seinem Erzählen und Lachen widerhallte, erscheint jetzt so leer.
Du hast viel Zeit, Mühe und Gefühl in deine Kinder investiert. Ungefähr 20 Jahre lang hast du dich tagtäglich intensiv um sie gekümmert. Erst „gestern“ machte dich das Geschrei deines Babys noch nervös. Ängstlich ranntest du zum Arzt, als dein Sechsjähriger fieberte. Du hieltest den Atem an, wenn du die Schulzeugnisse deiner Kinder anschautest, und atmetest erleichtert auf, wenn du feststelltest, daß sie versetzt wurden. Später protestiertest du energisch gegen die laute Musik deiner Halbwüchsigen, weintest aber, wenn sie erklärten, ausziehen zu wollen. Und nun ist ein Kind nach dem anderen „flügge“ geworden und aus dem Haus gegangen.
Es ist verständlich, daß viele Eltern es außerordentlich schwierig finden, sich an das „leere Nest“ zu gewöhnen. „Zum ersten Mal in meinem Leben“, gestand ein Mann, nachdem seine Tochter aus dem Haus gegangen war, „habe ich geweint und geweint und geweint.“
Whelan und Evelyn haben ihre Kinder zur Selbständigkeit erzogen. Dennoch mußten sie sich, als die Kinder weggingen, „ganz schön umstellen“, wie sie sagten. „Bis dahin hatte man immer alle Hände voll zu tun, doch dann, als sie aus dem Haus waren, mußten wir nur noch für uns selbst sorgen. Am schlimmsten ist es, heimzukommen und feststellen zu müssen, daß die Kinder nicht mehr da sind.“ Norma, Mutter einer erwachsenen Tochter, bekannte: „Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte, daß Lynn nicht mehr da war. Ich ließ die Tür zu ihrem Zimmer schon nicht mehr offenstehen, um nicht das Gefühl zu haben, sie sei da und ich könne mit ihr sprechen.“
Fast alle Eltern sehen der Zeit, wo ihre Kinder aus dem Haus gehen, mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freut man sich, daß das Kind jetzt volljährig ist und man mehr Zeit für sich selbst hat, aber andererseits wird man vielleicht auch von Zweifeln geplagt („Haben wir unsere Tochter richtig erzogen?“) oder von Angst („Kann unser Kind wirklich auf eigenen Füßen stehen?“); oder man ist enttäuscht („Warum hat unsere Tochter diesen Kerl geheiratet und nicht Hans, der doch viel netter ist?“). Ja der eine oder andere mag sogar Schuldgefühle haben. Aus einer neueren Studie geht hervor, daß besonders Männer es bedauern, ihren Kindern, als sie noch kleiner waren, nicht mehr Zeit gewidmet zu haben.
Das „leere Nest“ kann auch deine Ehe verändern. Einige Ehepaare verstehen sich nun besser, bei anderen geht die Ehe schlechter. „Heute kommt es oft vor, daß ein Ehepaar sich trennt oder sich scheiden läßt, wenn die Kinder aus dem Haus sind“, kann man in dem Buch Ourselves and Our Children (Wir und unsere Kinder) lesen.
Das Flüggewerden der Kinder fällt oft auch mit gewissen Krisen im Leben der Eltern zusammen. Bei der Frau setzt die Menopause ein, die sie, wie es in einem Buch heißt, „als eine überflüssige Betonung der Tatsache empfindet, daß sie keine Kinder mehr haben kann“. Für den Mann, der im Beruf steht, mag in dieser Zeit die Arbeitslast größer werden; vielleicht merkt er auch, daß ihn seine Arbeit nicht mehr befriedigt. Oder er wird sich bewußt, daß die Zeit herannaht, wo er in Rente gehen muß. Durch die Inflation kann das Familiensparkonto zusammengeschrumpft sein. Die Gesundheit mag bereits zu wünschen übriglassen. Ja, einige mögen sogar ihr Selbstwertgefühl verlieren, weil sie jetzt keine Kinder mehr zu betreuen haben.
Kein Wunder, daß es Eltern gibt, die ihre Kinder nicht gehen lassen wollen! Das Verlangen, sie an sich zu binden, mag unwiderstehlich sein. Doch wenn die Kinder aus dem Haus gehen, muß das nicht unbedingt bedeuten, daß die Eltern sie verlieren. Vielmehr erwächst den Eltern dadurch die Aufgabe, jetzt ein anderes Verhältnis zu ihnen aufzubauen und die durch ihren Weggang entstandene Leere auszufüllen.
Aber wie? Und warum kannst du nur ein gesundes Verhältnis zu deinen erwachsenen Kindern haben, wenn du sie nicht an dich bindest?
[Herausgestellter Text auf Seite 3]
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich geweint und geweint und geweint.“