Schokolade vor Gericht — Sind die Beweise bitter oder bittersüß?
DIE Beweisaufnahme war zu Ende. Die Vertreter der Anklage und der Verteidigung hatten ihre Plädoyers gehalten. Die Geschworenen waren entlassen worden, um die Beweise zu überdenken und ihr Urteil zu fällen. Stundenlang hatten die interessierten Beobachter im vollbesetzten Gerichtssaal zugehört, wie eine stetige Reihe von Zeugen ihre Beweise für und gegen die Angeklagte vorbrachten. Nun warteten sie auf die Urteilsverkündung.
Die Beschuldigte wartete mit ihnen. Entweder wegen der Hitze oder aus Angst — die Angeklagte sah aus, als würde sie dahinschmelzen. Während sie wartete, gingen ihr noch einmal die Stunden der Beweisaufnahme durch den Sinn. Sie dachte an ihre Schilderung der vergangenen Jahre.
Die Angeklagte sagt aus
Im Jahre 1519, so hatte sie dem Gericht erzählt, unternahm der spanische Forscher Hernán Cortés eine Expedition in das Herz von Mexiko, um die Gold- und Silberschätze der Azteken zu erbeuten. Kaiser Moctezuma und seine aztekischen Untertanen hielten Cortés und seine Soldaten für „weiße Götter, die aus dem Meer aufgestiegen sind“. Die Azteken hießen sie willkommen, hielten ein Festmahl ab und servierten ihnen einen kalten, bitteren Trank, der dort sehr beliebt war. Man nannte ihn cacahuatl.
Die Spanier erfuhren, daß die Azteken glaubten, einer ihrer Propheten habe die Samen des Kakaobaumes aus dem Paradies mitgebracht und sie in seinem Garten eingepflanzt. Der Saft aus diesen Samen habe ihm universelle Weisheit und Erkenntnis verliehen. Moctezuma glaubte seinerseits, der Saft gäbe ihm nicht nur Kraft und Energie, sondern würde auch seine schwindende Zeugungsfähigkeit beleben. Außerdem benutzte man die Kakaobohne als Währung.
Cacahuatl schmeckte den europäischen Konquistadoren zu bitter. Aber durch den Zusatz von ein wenig Zucker wurde der Geschmack des Getränks außerordentlich verbessert, so daß Cortés beschloß, diese süße Version, chocolatl genannt, am spanischen Hof einzuführen. In Spanien wurde es sofort zu einem Erfolg. Den Damen des Hofadels hatte es das Getränk so angetan, daß ihre Zofen ihnen Tassen mit heißer chocolatl in die Kirche bringen mußten. Die Nachfrage nach dem exotischen Getränk stieg sehr schnell, und bald brachten spanische Schiffe regelmäßig Lieferungen von Kakaobohnen aus den Äquatorländern, wo der Kakao angebaut wurde.
Die Herkunft und das Rezept dieses ungewöhnlichen und anregenden Tranks wurden streng geheimgehalten. Die Geheimhaltung wurde allerdings durchbrochen, als spanische Mönche das Rezept an Mönche in Italien weitergaben. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer — nach Italien, nach Frankreich, England, ja über ganz Europa. In jedem Land setzte man eigene Aromastoffe zu, um dem jeweiligen Geschmack Rechnung zu tragen. Die Angeklagte erinnerte sich daran, daß die Aussprache ihres Namens den Engländern Schwierigkeiten bereitete, so daß sie ihn auf chocolate abänderten.
Die Angeklagte hatte gesagt, daß in all den genannten Ländern — seit 1765 auch in den USA — Fabriken aus dem Boden schossen, die mit fortschrittlichen Methoden Kakaobohnen zu Schokolade verarbeiteten. Später stellte man Milchschokolade, Schokoladentafeln, Schokolade mit Nüssen oder mit Kirschen gefüllt und Schokoladenbonbons her. In Italien kennt man Schokoladencreme. In anderen Ländern reicht man Schokoladensoße zu Fleischspeisen. In Dänemark ißt man Schokoladensandwichs als Imbiß. Auch gibt es Schokoladentabak und Schokoladenpaprika. Man könne sogar mit Schokolade überzogene Bienen und Heuschrecken erhalten, hatte der Verteidiger lächelnd gesagt. Aber das war für den Richter unappetitlich, und er griff nach seinem Glas Wasser.
Die Angeklagte war mit den Worten zum Schluß gekommen: „Es ist offensichtlich, daß mir die Welt nachläuft. Aber das ist nicht meine Schuld. Wie die Tatsachen zeigen, liegt es an meinem guten Ruf.“
Die Beschuldigte erinnerte sich gut an das Beweismaterial der Anklage. Ihr gingen die Worte einer Zeugin durch den Sinn, eines 20 Jahre alten Mädchens, dessen Aussage die Anklagevertreter als besonders niederschmetternd für die Verteidigung betrachteten. Ihr Gesicht war von den Narben eines schlimmen Falls von Akne gekennzeichnet. Die Zeugin sagte aus, daß sie pro Woche drei bis vier Tafeln Schokolade gegessen habe. Eine Reihe von Zeugen, die alle unter den gleichen Hautproblemen litten, folgten ihr in den Zeugenstand, und einer nach dem anderen gab an, mehrere Tafeln Schokolade pro Woche verzehrt zu haben.
Die Angeklagte besann sich auch auf den Arzt, der aussagte, daß fast jeder Arzt, den er kenne, Schokolade auf die Liste der Allergien hervorrufenden Nahrungsmittel setze. Sie hatte das Gesicht jedes einzelnen vor Augen, der unter Eid versichert hatte, nach dem Genuß von Schokolade Nesselausschlag, migräneartige Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden bekommen zu haben.
Dann war da noch der Zahnarzt, der dem Gericht vortrug, Schokolade verursache Karies. Andere schlossen sich seiner Behauptung an. Ein weiterer Arzt sagte aus, Schokolade sei an erhöhten Cholesterinwerten im Blut schuld und steigere das Risiko für Herzkrankheiten. Diesem Zeugen folgte ein Experte, der behauptete, Schokolade enthalte Koffein in rauhen Mengen und es wäre besser, Tee oder Kaffee zu trinken. Mit dieser Bemerkung wurde die Anklage zum Abschluß gebracht.
Die Angeklagte dachte daran zurück, wie sehr sie sich über die erste Aussage der Verteidigung gefreut hatte. Ein bekannter Allergologe hatte folgendes ausgesagt: „Mit Ausnahme von Milch und Zucker ist Schokolade vermutlich das am meisten kritisierte Nahrungsmittel. ... Es ist an der Zeit, Wahrheit und Legende voneinander zu trennen. Das ist um so wichtiger, als Schokolade höchst nahrhaft ist und ihr hoher Wert dort anerkannt wird, wo großer Nährwert wünschenswert ist.“
Man fragte diesen Zeugen nach dem Zusammenhang zwischen Schokolade und Akne. „Jahrelang gehörte es zur Praxis, Schokolade als eine Hauptursache für das Auftreten von Akne anzusehen, weil man dachte, sie erhöhe die Blutfettwerte und beeinflusse somit die Absonderung der Talgdrüsen“, sagte er. Er bezog sich auf Forschungsarbeiten, durch die man „zu dem Schluß gekommen ist, daß der Genuß von Schokolade keinen besonderen Einfluß auf Akne hat“.
Es wurde eine neuere Studie zitiert, die an der Staatsuniversität von Pennsylvanien durchgeführt worden war. Ihr lagen Untersuchungen an 65 Akne-Patienten zugrunde. Sie erhielten täglich große Mengen Schokolade zum Verzehr. Bei 46 Patienten blieb die Akne unverändert, bei 10 trat eine Besserung ein, und in 9 Fällen war eine Verschlimmerung zu beobachten. Als dieselben Patienten gleich aussehende Süßigkeiten, die keine Schokolade enthielten, zu sich nahmen, zeigten 53 keine Veränderungen, bei 5 trat eine Besserung ein, und in 7 Fällen verschlimmerte sich das Krankheitsbild. Ferner wurde eine kürzlich von der US-Marine durchgeführte Studie zitiert, bei der eine Gruppe von Marinesoldaten, die unter Akne litten, über einen Zeitraum von vier Wochen jeden Tag mindestens eine Tafel Schokolade zu essen bekamen. Ihre krankhaften Hautveränderungen wurden dadurch nicht beeinflußt.
Was ist über Migräne, Magenbeschwerden und Nesselausschlag zu sagen, die, wie einige bezeugten, auf den Genuß von Schokolade zurückzuführen seien? Ja, die Beweise zeigen eindeutig, daß Schokolade bei manchen diese Reaktionen auszulösen vermag. Der Angeklagten fiel ein, daß sie bei diesem Zugeständnis nervös auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Der Arzt stimmte zu, daß „Schokolade an sich tatsächlich allergische, toxische ... Reaktionen auslösen kann“, wies aber auch darauf hin, daß angesichts des weitverbreiteten Schokoladengenusses die Häufigkeit allergischer Reaktionen relativ gering ist. Er vertrat auch die Ansicht, Schokolade werde oft aus Bequemlichkeit als Sündenbock benutzt, wenn eine Diagnose „schwierig oder unsicher“ sei, und sie „werde oft in ungerechtfertigter Weise beschuldigt und unterschiedslos mißbilligt“. Ferner seien „Reaktionen auf Schokolade weit seltener dokumentiert, als der Gesamteindruck, den Ärzte und auch Laien vermitteln, erscheinen läßt“.
Besonders aufmerksam verfolgte die Angeklagte die Verteidigung gegen den Vorwurf, Schokolade verursache Zahnschäden. Sie hörte den Berichten über Studien von drei Forschungszentren zu einschließlich des National Institute for Dental Research (Nationales Forschungsinstitut für Zahnheilkunde). Man kam zu dem Ergebnis, daß Schokolade einen Antikaries-Faktor — möglicherweise ihr Gehalt an Fett — aufweise, mit dem die Zähne überzogen würden und der sie gleichzeitig vor Karies schütze.
Milchschokolade enthält jedoch 55 Gewichtsprozente Zucker, und Zucker verursacht sicher Schäden an den Zähnen. Allerdings kann es sein, daß durch den Antikaries-Faktor in der Schokolade die Karies fördernde Eigenschaft des Zuckers bekämpft wird. Stärkehaltige Nahrung hingegen wie Kartoffeln haftet an den Zähnen länger als der gut lösliche Zucker und mag deshalb in noch größerem Maße für den Zahnverfall verantwortlich sein.
Die Angeklagte erinnerte sich auch mit Vergnügen an die Aussage einer Sachverständigen von der Staatsuniversität von Pennsylvanien, die sagte: „Unser Körper vermag den Zucker in Früchten, Gemüse, Milch und Honig nicht von dem in Schokolade und Pralinen zu unterscheiden.“ Auch konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken, als ihr einfiel, daß man in einer Studie der Staatsuniversität von Texas herausgefunden hatte, daß ihr Doppelgänger und Konkurrent, das Johannisbrot, wahrscheinlich fünfmal mehr Karies verursacht als Schokolade.
Die Verteidigung ging weiter. Nein, es stimmt nicht, daß Schokolade einen hohen Cholesterinspiegel im Blut verursacht. Einige Experten wiesen darauf hin, daß das Fett in der Schokolade zwar gesättigt ist, „aber nicht wie andere gesättigte Fette den Cholesterinspiegel im Blut erhöht. Als pflanzliches Produkt enthält Schokolade in reiner Form kein Cholesterin.“ In dem Artikel, auf den sich die Aussage stützte, wird weiter berichtet: „Wer Herzkrankheiten vorbeugen möchte, braucht Schokolade nicht zu meiden, es sei denn, er scheut die Schokolade als einen Lieferanten übermäßig vieler Kalorien.“ Wenn du auf Kalorien achtest, dann sei vorsichtig: Eine 100-Gramm-Tafel hat 2 170 Joule (520 Kalorien)!
Die Angeklagte tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, daß es sich dabei nicht, wie einige es nennen, um völlig „leere Kalorien“ handelt. In Schokolade sind geringe Mengen Eiweiß, Vitamin A, D, E und K, Linolsäure, Kalzium, Thiamin, Riboflavin, Phenyläthylamin und Eisen enthalten.
Es stimmt zwar, daß Schokolade etwas Koffein enthält, aber längst nicht soviel wie Tee oder Kaffee. Wieviel weniger? In 100 Gramm Zartbitterschokolade sind 20 bis 30 Milligramm Koffein enthalten, in einer Tasse Kaffee dagegen 100 bis 150 Milligramm.
Zuallerletzt gab ein Experte Moctezuma und seinen aztekischen Untertanen recht. Schokolade ist ein wirksames Mittel gegen Erschöpfung, und ihr Genuß verleiht Kraft und Energie. Athleten und Soldaten machen davon Gebrauch. Auf der Expedition, die Hillary unternahm, um den Mount Everest zu bezwingen, führte man einige Zentner Schokolade und Kakao mit. Die amerikanischen Gemini-Astronauten nahmen auf ihre Reise in den Weltraum ebenfalls Schokolade mit.
An dieser Stelle wurden die Erinnerungen der Angeklagten unterbrochen. Die Geschworenen nahmen ihre Plätze ein. Der Richter bat die Angeklagte aufzustehen. Stille setzte ein, als die dunkelbraune Angeklagte aufstand und sich den Geschworenen zuwandte. Darauf hatten alle gespannt gewartet. Die Stunde der Wahrheit war gekommen.
Der Richter fragte: „Meine Damen und Herren Geschworenen, haben Sie eine Entscheidung getroffen?“
Der Vorsitzende der Geschworenen sah den Richter ganz unglücklich an. „Nein“, sagte er einfach. „Wir sind zu keinem einstimmigen Urteil gelangt. Die Meinungen gehen auseinander. Einige hielten sie für schuldig, die übrigen meinten, sie sei unschuldig.“
Im Gerichtssaal brach Gemurmel aus. Die Geschworenen sind sich nicht einig. Wie geht es weiter? Das wollte der Richter später entscheiden. Aber wie steht es mit dem Publikum? Einstweilen muß sich jeder seine eigene Meinung über die Angeklagte bilden.
Und wie ging es Frau Schokolade? Wie fühlte sie sich? „Ich bin zufrieden. Ich bin längst nicht so schlecht, wie man mich oft macht, allerdings bin ich nicht ohne Fehler.“ Sie dachte einen Moment nach und sagte dann in zufriedenem Ton: „Aber welche Nahrung ist schon vollkommen, außer reiner Muttermilch?“
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Man kennt mich sogar als Schokoladenglasur von Bienen und Heuschrecken
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Bei einigen Menschen kann Schokolade allergische Reaktionen auslösen
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
Johannisbrot verursacht fünfmal mehr Karies als Schokolade
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
Vorsicht: Eine 100-Gramm-Tafel Schokolade hat 2 170 Joule (520 Kalorien)!
[Herausgestellter Text auf Seite 24]
Als Hillary den Mount Everest bezwang und Astronauten in den Weltraum flogen, nahmen sie Schokolade mit
Als Jehovas Volk bei einem Anlaß trauerte, wurde ihm geboten, ‘Fettspeisen zu essen und Süßigkeiten zu trinken’ und nicht traurig, sondern freudig zu sein (Nehemia 8:10). Man tut gut, daran zu denken, daß ‘das Königreich Gottes nicht Essen und Trinken bedeutet’ und daß von ‘Speisen, die Gott geschaffen hat, damit sie mit Danksagung genossen werden’, in Maßen Gebrauch gemacht werden sollte (Römer 14:17; 1. Timotheus 4:3, 4).