Die Radiokarbonuhr
Ein Altersanzeiger für Überreste früheren Lebens. Ist sie das wirklich?
ALLE bisher genannten Zerfallsprozesse laufen so langsam ab, daß sie für archäologische Untersuchungen allenfalls von geringem Wert sind. Um der Zeitskala der Menschheitsgeschichte gerecht zu werden, ist ein schnellerer Prozeß erforderlich. Dieses Erfordernis erfüllt die Radiokohlenstoffdatierung.
Bei Atomzertrümmerungsversuchen mit einem Zyklotron entdeckte man erstmals das radioaktive Kohlenstoffisotop 14C von gewöhnlichem Kohlenstoff 12. Später wies man es auch in der Atmosphäre nach. Es sendet Β-(Beta-)Strahlen aus, die mit einem Meßinstrument gezählt werden können. Kohlenstoff 14 hat eine Halbwertszeit von nur etwa 5 700 Jahren und eignet sich somit zur Datierung von Objekten, die mit der frühen Menschheitsgeschichte in Verbindung gebracht werden.
Die zuvor erwähnten radioaktiven Elemente sind, gemessen an dem Alter der Erde, langlebig. Sie existieren demnach schon seit der Schöpfung. Radioaktiver Kohlenstoff ist im Vergleich zum Erdalter kurzlebig. Man findet ihn nur deshalb, weil er durch einen bestimmten Prozeß ständig neu gebildet wird. Dabei handelt es sich um das Bombardement der Atmosphäre mit kosmischer Strahlung, wobei Stickstoff in radioaktiven Kohlenstoff verwandelt wird. Dieser Kohlenstoff wird als Kohlendioxyd von den Pflanzen bei der Photosynthese verwendet und in die verschiedenen organischen Verbindungen, die in den Zellen vorkommen, umgewandelt. Tiere und auch Menschen ernähren sich von Pflanzen, so daß der 14C-Gehalt aller Organismen dem der Atmosphäre entspricht. Solange ein Organismus lebt, werden die Kohlenstoffverluste, die zufolge des radioaktiven Zerfalls entstehen, durch Zufuhr von außen ersetzt. Sobald aber ein Organismus, beispielsweise ein Baum oder ein Tier, stirbt, wird die Versorgung mit frischem Radiokohlenstoff unterbrochen, und die 14C-Konzentration nimmt stetig ab. Wenn zum Beispiel ein Stück Holzkohle oder ein Tierknochen 5 700 Jahre überdauert, ist darin nur noch halb soviel radioaktiver Kohlenstoff enthalten wie zu der Zeit, als der Organismus noch lebte. Im Prinzip läßt sich also durch eine Messung des 14C-Gehalts eines ehemaligen Lebewesens der Zeitpunkt seines Todes ermitteln.
Die Radiokarbonmethode ist bei einer Vielzahl organischen Materials anwendbar. Bisher sind Tausende von Proben auf diese Weise datiert worden. Die faszinierende Vielfalt wird an nur einigen Anwendungsbeispielen deutlich:
Eine Holzprobe von dem Grabesschiff, das im Grab Pharao Sesostris’ III. gefunden wurde, konnte auf 1670 v. u. Z. datiert werden.
Das Kernholz einer Küstensequoie in Kalifornien, die 2 905 Jahresringe hatte, als man sie 1874 fällte, wurde auf 760 v. u. Z. datiert.
Die Leinentücher, in die die Schriftrollen vom Toten Meer eingewickelt waren, hatten nach dem Radiokohlenstoffgehalt ein Alter von 1 900 Jahren, während die Rollen nach der Art der Handschrift in das erste oder zweite Jahrhundert v. u. Z. datiert wurden.
Ein Stück Holz, das auf dem Ararat gefunden und von einigen als ein Teil der Arche Noah betrachtet wurde, ließ sich nur auf das Jahr 700 u. Z. datieren — zwar ein altes Stück Holz, doch bei weitem nicht so alt, daß es aus der Zeit vor der Flut stammen könnte.
Aus Schnüren geflochtene Sandalen, die in einer Höhle in Oregon (USA) in Bimsstein gefunden wurden, wiesen ein Alter von 9 000 Jahren auf.
Fleisch eines jungen Mammuts, das Tausende von Jahren in der sibirischen Sumpferde eingefroren war, wurde als 40 000 Jahre alt befunden.
Wie zuverlässig sind aber solche Datierungen?
Fehler der Radiokarbonuhr
Als die Radiokarbonuhr erstmals präsentiert wurde, erweckte sie den Eindruck, sehr einfach und unkompliziert zu sein. Heute ist sie als störanfällig bekannt. Nach 20jährigem Gebrauch der Uhr wurde 1969 in Uppsala (Schweden) eine Konferenz über Radiokarbonchronologie und verwandte Datierungstechniken abgehalten. Die Diskussionen zwischen Chemikern, die diese Methode anwenden, und Archäologen sowie Geologen, die die Ergebnisse verwerten, förderten einige Dutzend Schwachstellen zutage, die eine Datierung zunichte machen können. In den 17 Jahren seither ist wenig erreicht worden, was die Beseitigung dieser Fehlerquellen betrifft.
Es bereitete von jeher große Schwierigkeiten, zu gewährleisten, daß das Probenmaterial nicht mit jüngerem Kohlenstoff lebender Organismen oder mit älterem Kohlenstoff verunreinigt ist. Ein Stück Holz aus dem Kernholz eines alten Baumes kann Saft mit biologisch aktivem Kohlenstoff enthalten. Oder wenn der Saft mit einem organischen Lösungsmittel (aus biologisch inaktivem Petroleum hergestellt) extrahiert wird, können Lösungsmittelspuren in der zu analysierenden Probe zurückbleiben. Alte, unterirdisch lagernde Holzkohle kann von Wurzelwerk durchdrungen sein. Oder sie ist möglicherweise mit weit älterem Bitumen verunreinigt, das schwer zu entfernen ist. In lebenden Schalentieren hat man Karbonate gefunden, die aus Gestein stammen, das lange Zeit im Meeresboden lagerte und nach Tausenden von Jahren aus der Tiefe aufgestiegen war. Auf diesem Wege kann eine Probe älter oder jünger erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.
Der gravierendste Fehler in der Theorie der Radiokohlenstoffdatierung ist die Annahme, daß der Gehalt der Atmosphäre an 14C stets der gleiche war wie heute. Der 14C-Gehalt der Atmosphäre hängt hauptsächlich davon ab, wieviel Kohlenstoff durch die kosmische Strahlung gebildet wird. Die Intensität der Strahlung schwankt gelegentlich stark und unterliegt weitgehend den Änderungen des Magnetfeldes der Erde. Magnetische Stürme auf der Sonne intensivieren die kosmische Strahlung manchmal für Stunden um das Tausendfache. Ferner ist das Magnetfeld der Erde in den vergangenen Jahrtausenden sowohl stärker als auch schwächer gewesen. Zudem hat sich durch die Kernwaffenversuche die Menge an Kohlenstoff 14 wesentlich erhöht.
Das Verhältnis wird aber auch noch von der Menge des stabilen Kohlenstoffs der Luft beeinflußt. Gewaltige Vulkanausbrüche führen zu einer merklichen Erhöhung des stabilen Kohlenstoffs und verdünnen den radioaktiven Kohlenstoff. Aufgrund der vermehrten Verbrennung fossiler Brennstoffe — hauptsächlich Kohle und Öl — ist in den letzten hundert Jahren die Menge des Kohlendioxyds in der Atmosphäre wie nie zuvor gestiegen. (Weitere Einzelheiten und Unsicherheitsfaktoren in Verbindung mit der Radiokarbonuhr wurden in der Erwachet!-Ausgabe vom 22. Juli 1972 behandelt.)
Dendrochronologie — Datierung anhand von Jahresringen
Angesichts dieser fundamentalen Schwächen sind die Kohlenstoffdatierer dazu übergegangen, ihre Daten mit Hilfe von Holzproben zu eichen, vor allem mit Proben von Grannenkiefern aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten, die Hunderte oder Tausende von Jahren alt sind. Dieses Forschungsgebiet nennt man Dendrochronologie.
An der Radiokarbonuhr werden somit keine absoluten Daten abgelesen. Die Daten sind nur relativ. Um das echte Alter zu bestimmen, muß die Radiokohlenstoffdatierung mit Hilfe der Jahresringchronologie korrigiert werden. Zur Unterscheidung wird das Ergebnis einer Messung des radioaktiven Kohlenstoffs als „Radiokarbonalter“ bezeichnet. Das absolute Alter liest man an einer Eichkurve ab, die sich auf die Auswertung von Jahresringen stützt.
Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, wie die Jahresringzählung bei der Grannenkiefer zuverlässig ist. Das Problem hierbei ist, daß die Lebenszeit der ältesten Bäume nur bis 800 u. Z. zurückreicht. Um den Meßbereich zu erweitern, versuchen die Dendrochronologen, sich überschneidende Jahresringmuster aus schmalen und breiten Ringen von Proben subfossilen Holzes, das man in der Nähe gefunden hat, aneinander anzuschließen. Sie behaupten, auf der Grundlage von 17 zusammengestückelten Holzresten umgestürzter Bäume 7 000 Jahre zurückgehen zu können.
Doch die Eichung anhand von Jahresringen ist ebenfalls keine unabhängige Methode. Manchmal weiß man nicht genau, wo ein Stück subfossiles Holz anzuschließen ist. Wie behilft man sich in einem solchen Fall? Man bestimmt das Alter nach der Radiokarbonmethode und läßt sich von dem ermittelten Alter leiten, wenn man das Stück Holz anschließt. Das erinnert an zwei lahme Männer, denen nur eine Krücke zur Verfügung steht, so daß sich jeder eine Zeitlang auf seinen Partner stützen muß.
Das geheimnisvolle Überdauern herumliegender loser Holzstückchen ist an sich erstaunlich. Normalerweise hätten sie von einem starken Regen weggespült werden oder von jemandem als Feuerholz oder zu einem anderen Zweck aufgelesen werden können. Warum ist das Holz nicht verrottet, oder warum haben Insekten es verschont? Daß ein lebender Baum dem Zahn der Zeit und dem Wetter trotzt und hin und wieder tausend Jahre überdauert, ist noch zu glauben. Kann man aber davon ausgehen, daß abgestorbenes Holz 6 000 Jahre erhalten bleibt? Das ist unglaublich. Doch genau davon wird bei älteren Radiokohlenstoffdatierungen ausgegangen.
Dennoch ist es den Radiokarbonfachleuten und den Dendrochronologen gelungen, Zweifel wie diese beiseite zu schieben, die Lücken auszufüllen und Unstimmigkeiten beizulegen. Beide Seiten geben sich mit der Kompromißlösung zufrieden. Und wie steht es mit ihren Auftraggebern, den Archäologen? Sie sind über die Altersangaben, die sie zu den eingesandten Proben erhalten, nicht immer beglückt. Einer von ihnen brachte das auf der Konferenz in Uppsala wie folgt zum Ausdruck:
„Wenn eine Kohlenstoff-14-Altersbestimmung unsere Theorie stützt, setzen wir sie in den Haupttext. Wenn sie ihr nicht direkt widerspricht, fügen wir sie in einer Fußnote bei. Und wenn sie gar nicht damit übereinstimmt, lassen wir sie fallen.“
Manche Archäologen denken heute immer noch so. Einer schrieb kürzlich über eine Radiokohlenstoffdatierung, die die früheste Haustierhaltung markieren sollte:
„Die Archäologen ... [gehen dazu über], es sich reiflich zu überlegen, ob eine Radiokohlenstoffdatierung allein deshalb von unmittelbarem Nutzen ist, weil sie aus einem ‚wissenschaftlichen‘ Labor stammt. Je mehr die Unsicherheit in bezug auf die Frage zunimmt, welche Methode, welches Labor, welche Halbwertszeit oder welche Eichkurve am zuverlässigsten ist, desto weniger fühlen wir Archäologen uns sklavisch gebunden, irgendein ‚Alter‘, das uns angegeben wird, blindlings zu akzeptieren.“
Von seiten der Radiochemiker, die das Alter ermittelt hatten, wurde entgegnet: „Wir ziehen es vor, uns mit Tatsachen zu befassen, die auf vernünftigen Messungen beruhen — nicht mit Archäologie, die der Mode und dem Gefühl unterworfen ist.“
Ist es nicht verständlich, daß Nichtfachleute gegenüber Zeitungsmeldungen, die sich auf wissenschaftliche „Autoritäten“ stützen, wie sie am Anfang der Artikelserie zitiert werden, skeptisch sind, wenn unter Wissenschaftlern solch gravierende Unstimmigkeiten in bezug auf die Richtigkeit von Daten herrschen, die in die graue Vorzeit zurückreichen?
Direkte Zählung der Kohlenstoff-14-Atome
Eine neuere Entwicklung in der Radiokohlenstoffdatierung ist ein Analysenverfahren, bei dem nicht die Β-Strahlen, die beim Zerfall der Atome entstehen, gemessen werden, sondern alle 14C-Atome einer kleinen Probenmenge. Das ist vor allem bei der Datierung sehr alter Proben vorteilhaft, in denen nur noch ein winziger Bruchteil des 14C vorhanden ist. Von einer Million 14C-Atomen zerfällt durchschnittlich nur jeden dritten Tag eines. Dadurch gestaltet sich die Messung alter Proben sehr zeitraubend, denn es wird eine Mindestanzahl von Impulsen benötigt, um die gemessene Radioaktivität von den Impulsen, die von der kosmischen Strahlung herrühren, unterscheiden zu können.
Wenn aber alle 14C-Atome sogleich gezählt werden können, also bevor sie zerfallen sind, läßt sich die Nachweisempfindlichkeit millionenfach steigern. Das ist durch ein Verfahren gelungen, bei dem man einen Strahl positiv geladener Kohlenstoffatome beim Durchlaufen eines Magnetfelds in 14C-Atome und 12C-Atome aufspaltet. Die leichteren 12C-Atome werden auf eine stärker gekrümmte Bahn abgelenkt, und die schwereren 14C-Atome gelangen durch einen Spalt in einen Detektor.
Der Vorteil dieser Methode liegt in der tausendmal geringeren Probenmenge, wenngleich das Verfahren komplizierter und kostspieliger ist als die Messung der Β-Strahlen. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, seltene alte Manuskripte und andere Artefakte zu datieren, zu deren Untersuchung bisher keine Proben in der Größenordnung von einigen Gramm entnommen werden konnten, weil diese Proben dabei zerstört worden wären. Solche Objekte können jetzt mit nur wenigen Milligramm Probenmenge datiert werden.
Eine Anwendungsmöglichkeit wäre die Datierung des Turiner Grabtuches, von dem einige glauben, der Leichnam Jesu sei darin eingehüllt gewesen. Wenn die Radiokohlenstoffdatierung niedriger als erwartet ausfiele, würden die Zweifel derer bestätigt, die das Grabtuch als Fälschung hinstellen. Bisher hat der Erzbischof von Turin unter dem Hinweis, das erforderliche Stück sei zu groß, keine Erlaubnis erteilt, eine Probe zur Altersbestimmung zu entnehmen. Nach der neuen Methode wäre ein Quadratzentimeter genug, um herauszufinden, ob der Stoff aus der Zeit Christi stammt oder lediglich aus dem Mittelalter.
Aber die Versuche, den Meßbereich zu erweitern, sind belanglos, bevor nicht die großen Probleme gelöst sind. Je älter eine Probe ist, desto schwieriger ist es, Spuren jüngeren Kohlenstoffs völlig auszuschließen. Und je weiter man über die wenigen Jahrtausende hinausgeht, für die eine verläßliche Eichkurve zur Verfügung steht, desto weniger ist über den Gehalt an 14C in der Atmosphäre jener Zeit bekannt.
Zur Datierung weit zurückliegender Ereignisse sind noch verschiedene andere Methoden erarbeitet worden. Manche beruhen indirekt auf dem radioaktiven Zerfall, wie zum Beispiel die Kernspaltungsspurenmethode. Bei anderen macht man sich Vorgänge wie die Ablagerung von Warven (Bändertonschichten) zunutze, die durch Gletscherwasser entstehen, oder auch die Hydratation von Gegenständen aus Obsidian.
Die Razemat-Methode
Eine weitere Methode zur Altersbestimmung hat die Razemisierung von Aminosäuren zur Grundlage. Was ist unter „Razemisierung“ zu verstehen?
Aminosäuren gehören zu einer Gruppe von Kohlenstoffverbindungen, bei denen vier verschiedene Atomgruppen mit einem zentralen Kohlenstoffatom verbunden sind. Die tetraedrische Anordnung der Gruppen macht das Molekül als Ganzes asymmetrisch. Solche Moleküle existieren in zwei Formen. Obwohl sie chemisch identisch sind, ist, physikalisch gesehen, die eine Form das Spiegelbild der anderen. Als einfache Veranschaulichung könnte ein Paar Handschuhe dienen. Die Handschuhe sind zwar gleich groß und sehen auch gleich aus, doch der eine paßt nur zur rechten Hand und der andere nur zur linken.
Ein Strahl polarisierten Lichtes, der eine Lösung einer der beiden Formen durchläuft, erfährt beispielsweise eine Drehung der Polarisationsebene nach links, wohingegen er bei der anderen Form eine Drehung nach rechts erfährt. Bei der Herstellung einer bestimmten Aminosäure aus einfacheren Verbindungen entstehen beide Formen zu gleichen Teilen. Die Wirkungen der beiden Formen auf polarisiertes Licht heben sich auf. Hierbei handelt es sich um ein razemisches Gemisch — linkshändige und rechtshändige Moleküle der Aminosäure sind zu gleichen Teilen gemischt.
In lebenden Pflanzen oder Tieren wird nur eine Form von Aminosäuren gebildet, gewöhnlich die linkshändige, die L-Form. Wird eine solche Verbindung erwärmt, so werden durch die Temperaturbewegung der Moleküle einige Aminosäuren sozusagen umgestülpt, so daß die L-Form in die D-Form übergeht. Diese Umwandlung wird als Razemisierung bezeichnet. Wenn sie lange genug anhält, entstehen die L- und die D-Form zu gleichen Teilen. Das ist von besonderem Interesse, da dies wie die Radiokarbonmethode in Beziehung zu Lebewesen steht.
Bei niedrigeren Temperaturen verläuft die Razemisierung langsamer; um wieviel langsamer, hängt davon ab, wieviel Energie zur Umwandlung des Moleküls benötigt wird. Die Geschwindigkeit richtet sich nach einem bekannten chemischen Gesetz, das als Arrheniussche Gleichung bekannt ist. Wenn sich die Aminosäure mehr und mehr abkühlt, verlangsamt sich die Reaktion, und zwar so sehr, daß bei Raumtemperatur keine Veränderung mehr zu beobachten ist. Anhand der Gleichung ist dennoch berechenbar, wie langsam die Veränderung vor sich geht. Als Ergebnis zeigt sich, daß es Zehntausende von Jahren dauern würde, bis sich eine typische Aminosäure dem razemisierten Zustand genähert hätte, in dem die L-Form und die D-Form der Aminosäure zu gleichen Teilen vorhanden sind.
Bei der Nutzung dieses Effekts zur Datierung wird von folgender Überlegung ausgegangen: Wenn zum Beispiel ein Knochen in den Erdboden gelangen würde und dort ungestört liegenbliebe, würde die darin enthaltene Asparaginsäure (eine kristallisierte Aminosäure) allmählich razemisieren. Würde man den Knochen nach langer Zeit ausgraben, die Asparaginsäure extrahieren und reinigen und anschließend messen, wie stark die Asparaginsäure die Ebene polarisierten Lichtes dreht, und das Ergebnis mit demjenigen von reiner L-Asparaginsäure vergleichen, ließe sich dadurch bestimmen, wie lange es her ist, daß der Knochen Teil eines lebenden Wesens war.
Die Kurve, die den Verlauf der Umwandlung zeigt, ähnelt der Zerfallskurve eines radioaktiven Elements. Jede Aminosäure hat ihre eigene Umwandlungsrate, so wie Uran zum Beispiel langsamer zerfällt als Kalium. Man beachte indes folgenden wichtigen Unterschied: Zerfallsraten radioaktiver Elemente sind nicht temperaturabhängig, die Razemisierung — eine chemische Reaktion — ist dagegen ausgesprochen temperaturabhängig.
Eine der meistpublizierten Anwendungen der Razemat-Methode ist die Datierung von menschlichen Skelettknochen, die an der kalifornischen Küste gefunden wurden. Der sogenannte Del-Mar-Mensch ist danach 48 000 Jahre alt. Ein weibliches Skelett, das bei Ausgrabungen in der Nähe von Sunnyvale gefunden wurde, schien noch älter zu sein, nämlich 70 000 Jahre. Diese Altersangaben sorgten nicht nur in der Presse für Aufregung, sondern erst recht unter Paläontologen, da keiner von ihnen geglaubt hatte, daß in Nordamerika vor so langer Zeit Menschen gelebt haben. Es kam zu Spekulationen, wonach der Mensch vor nicht weniger als 100 000 Jahren über die Beringstraße von Asien nach Amerika gekommen sei. Offen blieb die Frage, wie zuverlässig die Altersangaben waren, die anhand der neuen Methode gemacht wurden.
Um eine Antwort zu erhalten, griff man auf eine radiometrische Methode zurück, bei der der Zerfall von Zwischenprodukten genutzt wird, die bei der Umwandlung von Uran in Blei entstehen, da deren Halbwertszeiten für diesen Bereich geeignet sind. Das Ergebnis war 11 000 Jahre für das Del-Mar-Skelett und nur 8 000 bis 9 000 Jahre für das Sunnyvale-Skelett. Irgend etwas stimmte nicht.
Die große Unbekannte bei der Razemisierung ist der Temperaturverlauf, dem die Probe in der Vergangenheit unterworfen war. Wie bereits erwähnt, ist die Razemisierungsrate stark temperaturabhängig. Wenn sich die Temperatur beispielsweise um 14 °C erhöht, verzehnfacht sich die Reaktionsgeschwindigkeit. Woher soll man wissen, welchen Temperaturen die Knochen in ferner Vergangenheit ausgesetzt waren? Wie viele Sommer haben sie in der heißen kalifornischen Sonne gelegen? Oder haben sie ein Lagerfeuer oder einen Waldbrand überstanden? Außer von der Temperatur wird die Razemisierungsrate noch von anderen Faktoren stark beeinflußt, zum Beispiel vom pH-Wert (Säuregrad). In einem Bericht heißt es: „Aminosäuren, die in Sedimenten vorkommen, zeigen anfänglich eine Razemisierungsrate, die fast eine Größenordnung (zehnfach) höher liegt als die Rate, die bei freien Aminosäuren bei gleichem pH-Wert und gleicher Temperatur zu beobachten ist.“
Das ist noch nicht alles. Das Alter eines Knochens des Sunnyvale-Skeletts wurde nach der Radiokarbonmethode bestimmt, und zwar sowohl durch Messung des Β-Zerfalls als auch anhand des neueren Verfahrens, bei dem die Atome direkt gezählt werden. Die Ergebnisse beider Methoden stimmten grob überein. Der Mittelwert betrug 4 400 Jahre.
Was soll man glauben? Offensichtlich sind einige Ergebnisse grundfalsch. Ist die Radiokarbonmethode vertrauenswürdiger, weil man damit mehr Erfahrung hat? Doch selbst bei dieser Methode schwankten die Ergebnisse im Bereich von 3 600 bis 4 800 Jahren. Oder ist es besser, mit den Worten eines zuvor zitierten Wissenschaftlers zuzugeben: „Vielleicht [sind] alle falsch.“?
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
Die Radiokarbonuhr ist heute als störanfällig bekannt
[Kasten auf Seite 22]
Kürzlich berichtete die Zeitschrift Science News unter dem Titel „Neue Daten für ‚alte‘ Werkzeuge“ folgendes:
„Vier Knochenwerkzeuge, die man als Beweisstücke dafür ansah, daß Nordamerika vor ungefähr 30 000 Jahren von Menschen bewohnt war, sind höchstens 3 000 Jahre alt. So der Archäologe D. Earl Nelson und seine Fachkollegen von der Simon-Fraser-Universität in Britisch-Kolumbien gemäß der Zeitschrift SCIENCE vom 9. Mai ...
Der Unterschied zwischen den Altersbestimmungen der beiden Proben aus demselben Knochen ist, gelinde gesagt, erheblich. Ein ‚Ausfleischmesser‘ zum Beispiel, das benutzt wurde, um Fleisch von Tierhäuten zu entfernen, erhielt zuerst ein Radiokarbonalter von 27 000 Jahren. Jetzt wurde das Alter auf ungefähr 1 350 Jahre abgeändert“ (10. Mai 1986).
[Diagramm auf Seite 24]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Die Menge von Kohlenstoff 14 (oder der razemisierten Asparaginsäure) ändert sich mit den äußeren Bedingungen
Intensitätsschwankungen der kosmischen Strahlung
Kohlenstoff 14
Temperaturänderungen
Asparaginsäure
[Diagramm auf Seite 26]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
L-Asparaginsäure
COOH C NH2 H CH2COOH
D-Asparaginsäure
HOOC C H2N H HOOCH2C