Wälder im Meer
Mein Name ist Garibaldi. Dies ist mein Zuhause. Ist es nicht schön?
Einmal wollte man mich fangen und in einen kleinen Behälter setzen. Man stelle sich das vor! Ich wäre an Klaustrophobie gestorben. Entschuldigung, daß ich so großspurig daherrede. Das bedeutet Furcht vor geschlossenen Räumen.
Aber nun bin ich in Sicherheit. Man hat mich zum kalifornischen Staatsemblem erkoren, und jetzt bin ich geschützt.
Wenn du mehr über mein schönes Zuhause wissen möchtest und an einigen meiner Nachbarn interessiert bist, dann lies über die [Wälder im Meer].
IN DEN kalifornischen Küstenwäldern stehen die Besucher inmitten der immergrünen Mammutbäume und schauen vor Staunen sprachlos nach oben. Von riesigen, in den Himmel ragenden Baumstämmen umgeben und von dem grünen Baldachin hoch oben beschirmt, durch den Lichtstrahlen schräg einfallen, kommt man sich klein und unbedeutend vor. Bei der atemlosen Stille inmitten des riesigen Waldes, in dem sich die Lichtstrahlen so drastisch gegen das schattige Dunkel abzeichnen, überkommt einen ein Gefühl der Ehrfurcht. Viele fühlen sich in diesen Mammutbaumwäldern geborgen.
Nicht so viele hingegen würden sich in Riesenwäldern einer anderen Art geborgen fühlen. Diese befinden sich nicht an der Küste, sondern vor der Küste Kaliforniens. Auch sie ragen in die Höhe und breiten einen Baldachin aus, durch den Lichtstrahlen in die düstere Umgebung einfallen. Und auch dort herrscht Ruhe, Stille. Die Lichtstrahlen verleihen dem Wald eine betörende Schönheit — und ähnliche Gefühle des Staunens und der Ehrfurcht überkommen einen.
Dieser Wald hat keine Bäume, sondern Thalluszweige; keine Baumstämme, sondern Stiele; keine Blätter, sondern Thalluslappen; keine Wurzeln, sondern Haftorgane. Dieser Wald wächst unter Wasser. Der botanische Name der Pflanze, um die es geht, lautet Macrocystis pyrifera. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt sie Birntang — es ist eine Braunalge und „die größte und am schnellsten wachsende Meerespflanze der Welt“. Wer sich diesen Wald ansehen möchte, muß besonders ausgerüstet sein. Man legt ein Atemgerät an und zieht einen Taucheranzug über zum Schutz gegen die Kälte des Meeres. Und wenn man mehr als nur Erinnerungen mitnehmen will, muß man eine Unterwasserkamera und künstliche Beleuchtung dabeihaben.
Der Birntang ist zunächst mikroskopisch klein. Sporen setzen sich an Felsen bis in dreißig Meter Tiefe fest. Aus ihnen entstehen winzige männliche und weibliche Pflänzchen, die durch eine Verbindung von Spermatozoiden und Eizellen Embryos bilden. Von diesen Embryos wachsen Thalluszweige in die Höhe, während dünne Schnüre nach unten wachsen. Die Thalluszweige strecken sich zur Meeresoberfläche hin, d. h. zum Sonnenlicht, während sich die Schnüre an Felsgestein heften, um die Pflanzen fest zu verankern. Diese Schnüre wachsen in großen Bündeln und sind Haftorgane.
Während die Thalluszweige wachsen, entstehen Schwimmblasen, durch die sie an der Meeresoberfläche gehalten werden. Dort wachsen sie weiter, breiten sich aus und bilden einen dichten Baldachin. Die einzelnen Thalluszweige leben nur etwa sechs Monate, aber von den Haftorganen aus wachsen jeweils neue Zweige in die Höhe. Die gesamte Pflanze kann mehr als fünf Jahre leben. Sie nimmt ihre Nährstoffe durch die ganze Oberfläche auf — Thalluslappen, Stiel und Haftorgane.
Die Thalluszweige können am Tag über einen halben Meter wachsen. Mitunter wachsen sie über 30 Meter, bis sie die Meeresoberfläche erreichen, und dann weitere 30 Meter, um ihren im Wasser treibenden Baldachin zu bilden. Durch dieses Dach dringen Sonnenstrahlen ein, die dem Unterwasserreich eine überirdische Schönheit verleihen.
In einem Tangdickicht wimmelt es von Leben. Wissenschaftler behaupten, daß eine einzige ausgewachsene Birntangpflanze über eine Million Organismen ernähren kann. Rund 180 Arten leben allein an den Haftorganen — Krabben, Schnecken, Schlangensterne, Würmer und so weiter. Insgesamt leben schätzungsweise 800 Arten im Bereich eines solchen Tangdickichts, das ihnen als Nahrungsquelle, Schutz oder Jagdgebiet dient. Seesterne, Anemonen, Quallen, Muränen und viele Fische befinden sich in dem Tangdickicht. Ein recht kampflustiger kleiner Vertreter ist der leuchtendorange Garibaldi — der auch Staatsemblem von Kalifornien ist.
Ende der 50er Jahre waren die Birntangwälder Kaliforniens dem Aussterben nahe. Wärmeres Meerwasser ist für den Birntang lebensbedrohlich, und Stürme reißen ihn von seinen Haftorganen los. Doch in der Hauptsache wurde er vom Seeigel bedroht. Wie so oft, steckte allerdings der Mensch dahinter. In einer Information der Kelco-Gesellschaft heißt es:
„Seeigel — stachelige Meerestiere — ernähren sich von den Haftorganen, Thalluszweigen und Jungpflanzen des Tangs. Der Seeotter, der größte natürliche Feind des Seeigels, wurde in den vorhergehenden Jahren stark bejagt. Dadurch wurde das ökologische Gleichgewicht der Tangdickichte durcheinandergebracht. Die Seeigel, die sich nun ungehindert von dem Tang ernähren konnten, vermehrten sich ungehemmt und verschlangen breite Streifen des Tangwaldes. Es heißt von den Seeigeln, daß sie in einem Monat bis zu 10 Meter in das Tangdickicht vordrangen.“
Doch der Mensch sorgte auch für Abhilfe. Die Seeotter wurden geschützt, und sie nahmen an Zahl zu, während die Zahl der Seeigel abnahm. Die Birntangbestände erholten sich wieder. Kelco berichtet: „Heute haben die Bestände an Birntang fast wieder die Üppigkeit, die sie vor sechzig Jahren hatten. Das ökologische Gleichgewicht ist wiederhergestellt, und eine einst gefährdete Ressource ist wiedererstanden.“
Und so ist es Tauchern möglich, durch das Tangdickicht zu gleiten und mit ihrer Kamera einen Abglanz der Herrlichkeit ans Tageslicht zu bringen, die diese Meereswälder in sich bergen.
[Ganzseitiges Bild auf Seite 17]
[Bilder auf Seite 18]
Seeotter
Seeigel
Haftorgan