Wie manche erklären, warum Gott das Böse zuläßt
GOTT — schuldig oder unschuldig am Leid der Menschen? Diese Frage steigt immer auf, wenn ein Unheil geschieht, ob es über einen einzelnen hereinbricht oder — wie in San Ramón — über viele. So schreibt die britische Zeitschrift The Evangelical Quarterly: „Eines der größten Hindernisse für den Glauben an einen allmächtigen Gott der Liebe ist das scheinbar unverdiente Leid in der Welt.“
Man wirft Gott vor, daß er Leid duldet — wenn nicht gar verursacht. Diesbezüglich schrieb der Theologe John K. Roth: „Die Geschichte als solche klagt Gott an. ... Man unterschätze nicht, wofür Gott alles verantwortlich ist.“
Seit Augustinus haben zahlreiche religiöse Denker Gott mit aller Beredsamkeit verteidigt. Gottfried Wilhelm Leibniz, ein Philosoph des 17. Jahrhunderts, schuf für dieses Bemühen eigens den Begriff Theodizee: „Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels“. (Siehe Seite 6.)
Die moderne Theologie betritt den Zeugenstand
Die Anstrengungen, Gott von dem Verdacht der Tadelnswürdigkeit zu befreien, reichen bis in die Neuzeit. Mary Baker Eddy, Gründerin der Christlichen Wissenschaft, versuchte das Problem zu lösen, indem sie leugnete, daß das Böse überhaupt existiert. In dem Werk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift schrieb sie: „Gott ... machte den Menschen niemals der Sünde fähig. ... Folglich ist das Böse nur eine Illusion und hat keine wirkliche Basis“ (Kursivschrift von uns).
Andere rechtfertigen Gott mit der Begründung: Im Leid ist Tugend. Ein Rabbiner sagte einmal: „Leid veredelt den Menschen, reinigt seine Gedanken von Stolz und Oberflächlichkeit.“ Ähnliche Überlegungen haben auch einige christliche Theologen angestellt; sie meinen, das irdische Leid sei „erforderlich, um uns als moralische Persönlichkeiten auf das Leben im Himmelreich vorzubereiten“.
Ist es aber vernünftig, zu glauben, daß Gott Unheil verursacht oder zuläßt, um die Menschen zu läutern und zu bestrafen? Diejenigen, die in San Ramón lebendig begraben wurden, hatten keine Gelegenheit, ihre Moral zu verbessern. Opferte Gott sie, damit die Überlebenden aus dem Unglück eine Lehre ziehen könnten? Wenn ja, welche?
Man versteht, daß Kushners Buch Wenn guten Menschen Böses widerfährt allgemein gefragt ist. Weil der Autor das bittere Leid aus eigener Erfahrung kennt, versucht er seine Leser zu trösten, indem er ihnen versichert, daß Gott gut ist. Wenn es jedoch darum geht, zu erklären, warum Gott zuläßt, daß Unschuldige leiden, macht er in seiner Argumentation eine Kehrtwende. „Gott möchte, daß die Gerechten ein friedvolles, glückliches Leben haben“, erklärt er, „aber manchmal bringt das selbst Er nicht zuwege.“
Kushner spricht also von einem Gott, der zwar nicht böse, aber schwach ist, einem nicht ganz allmächtigen Gott. Seltsamerweise fordert er seine Leser trotzdem auf, sich an Gott um Hilfe zu wenden. Darüber jedoch, inwieweit dieser vermeintlich in seiner Macht begrenzte Gott Beistand leisten kann, macht er nur vage Andeutungen.
Eine uralte Auseinandersetzung
Die religiösen Denker der Welt haben somit darin versagt, Gott überzeugend zu verteidigen und die von Leid und Elend Betroffenen wirklich zu trösten. Nicht Gott, sondern die Theologie gehört auf die Anklagebank, sind doch ihre widersprüchlichen Theorien nur ein Abklatsch von nichtssagenden, fast viertausend Jahre alten Argumenten. Damals kam es zu einer Auseinandersetzung wegen der Leiden des gottesfürchtigen Mannes Hiob, eines wohlhabenden, angesehenen Orientalen, den ein Unheil nach dem anderen befallen hatte. In rascher Aufeinanderfolge hatte Hiob seinen Reichtum und seine Kinder verloren, und schließlich wurde er von einer ekelhaften Krankheit befallen (Hiob 1:3, 13-19; 2:7).
Drei sogenannte Freunde wollten Hiob helfen. Doch statt ihn zu trösten, bedachten sie ihn mit theologischen Ergüssen. Ihr Argument lautete im wesentlichen: Hiob, niemand anders als Gott hat dir das alles angetan! Offenbar wirst du wegen eines bestimmten Vergehens bestraft. Außerdem glaubt Gott überhaupt nicht an seine Diener (Hiob 4:7-9, 18). Hiob konnte nicht begreifen, warum Gott ihn, so schien es, ‘als Zielscheibe für sich aufstellte’ (Hiob 16:11, 12). Es spricht für Hiob, daß er seine Lauterkeit bewahrte und das Böse nie unmittelbar Gott zuschrieb.
Hiobs Tröster hatten dagegen im Grunde genommen ‘Gott schuldig gesprochen’, denn sie folgerten, wem Unheil widerfahre, der werde für Bösestun bestraft (Hiob 32:3). Ihre irrigen Ansichten wurden von Gott bald darauf korrigiert.
[Bildnachweis auf Seite 5]
Titelbild: FAO-Foto