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  • Wir waren Liliputaner unter Zwergen
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Erwachet! 1988
g88 8. 2. S. 22-25

Wir waren Liliputaner unter Zwergen

ES WAR einige Jahre nach dem spanischen Bürgerkrieg. Ich war noch ein junges Mädchen, und meine Mutter und ich gingen in unserer Heimatstadt Cuenca in den Zirkus. Beim Betreten des großen Zeltes hörte ich plötzlich jemanden in gebieterischem Ton rufen: „Señora, Señora, ich möchte Ihre Tochter engagieren!“ Überrascht antwortete meine Mutter: „Ich habe noch eine Tochter, die Sie auch einstellen können.“ Dieses seltsame Erlebnis sollte unser Leben völlig verändern.

Man muß wissen, daß Carmen, meine jüngere Schwester, und ich kaum größer als Puppen sind. Wir sind richtige Liliputaner, selbst noch unter Zwergen. Carmen und ich sind nur etwa einen Meter groß. Das erklärt unseren Künstlernamen Las Hermanas Mínimas (Die winzigen Schwestern), unter dem wir in ganz Spanien, Frankreich und Italien in Zirkussen, Stierkampfarenen, bei Volksfesten und in Kabaretts auftraten. Aber ich möchte noch ein bißchen mehr darüber erzählen, wie das Showgeschäft ein Teil unseres Lebens wurde.

Spießrutenlaufen

Unser Vater starb während des Bürgerkrieges. Carmen und ich waren noch sehr jung. Zwergwüchsig zu sein galt damals bei vielen als Fluch. So kann man sich ausmalen, was es für unsere Mutter bedeutete, nicht nur ein, sondern gleich zwei solche kleinwüchsigen Kinder zu haben. Tanten, Onkel und Cousinen schämten sich unsertwegen so sehr, daß einige von ihnen unserer Mutter den herzlosen Vorschlag machten, uns einen Abhang hinunterzustoßen, um uns loszuwerden. Die Nachbarskinder warfen mit Steinen nach uns, was uns auf grausame Weise daran erinnerte, daß wir für sie Außenseiter waren. Hätten wir nicht unbedingt zur Schule gemußt, wären wir nie aus dem Haus gegangen.

In der Schule war es gar nicht so schlecht, abgesehen von dem täglichen Nachhauseweg, der oft in ein regelrechtes Spießrutenlaufen ausartete, denn die anderen Kinder liefen hinter uns her, lachten uns aus, verspotteten uns und warfen mit Steinen nach uns. Unsere Lehrerin war dagegen sehr verständnisvoll und mitfühlend. Sie beschäftigte sich besonders mit uns und lehrte uns nicht nur das Übliche, sondern auch die verschiedensten Handarbeiten. Obendrein suchte sie für uns Kunden, die unsere Handarbeiten gern kauften. Mit zunehmendem Alter war es wichtig, zu überlegen, wie wir einmal unseren Lebensunterhalt verdienen könnten.

Carmen und ich haßten es, wenn andere uns neugierig umringten, doch wohin wir auch gingen, starrten die Leute uns an. Das veranlaßte uns, zu Hause zu arbeiten. Wir führten ein immer zurückgezogeneres Leben — als hätten wir uns selbst eingesperrt — bis zu jenem entscheidenden Tag, als meine Mutter mit mir in den Zirkus ging.

Unser Leben als Zirkuspüppchen

Es war der Zirkusdirektor persönlich, der meine Mutter gerufen hatte und mich auf der Stelle engagieren wollte. Besonders sagte mir der Gedanke daran nicht zu. Doch der Direktor hatte ein sehr überzeugendes Argument. „Wovon wollt ihr später leben, wenn ihr heute nicht arbeitet?“ fragte er und rief dadurch meine innersten Zukunftsängste wach. Er sagte drohend: „Ihr werdet im Misericordia enden.“ (Misericordia hieß das Invalidenheim am Ort.) Diese Aussicht war mir mehr zuwider, als im Zirkus aufzutreten. Ich wollte am liebsten Lehrerin werden.

Doch Lehrerin zu werden war in der damaligen Situation nur ein Wunschtraum. Nach einigen Wochen Unterricht in klassischen Tänzen gingen wir beide in Spanien auf Tournee. Oft standen wir vor einem Publikum, das nicht gerade von uns hingerissen war. Aber wir traten auch vor Kindern auf, und sie waren hellauf begeistert von uns. Sie waren so entzückt von unserer Vorstellung, daß sie manchmal ihre Mütter fragten, ob sie uns nicht als Puppen kaufen könnten.

Wir führten ein aufregendes Leben, denn wir reisten an Orte, von denen wir vorher nur geträumt hatten. Wie sich unser Leben doch verändert hatte! Nach jahrelanger Angst, das Haus zu verlassen, standen wir jetzt im Rampenlicht. Rückblickend kann ich sagen, daß uns das Verlassen der selbstgewählten Abgeschiedenheit sicher geholfen hat, unser Aussehen hinzunehmen, ohne einen dauernden emotionellen Schaden davonzutragen.

Das Zirkusleben — kein Kinderspiel

Es war jedoch nicht alles rosarot. Das Leben in unserer Liliputwelt war kein unschuldig anmutendes Kinderspiel. Andere Liliputaner, die mit uns arbeiteten, benahmen sich völlig unberechenbar. Da uns die „Großen“ oft nicht wie normale Menschen behandelten, waren Kränkungen und Enttäuschungen keine Seltenheit. Von Zeit zu Zeit entluden sich die aufgestauten Gefühle in sinnlosen Gewaltausbrüchen. Für mich hatte es aber auch den Anschein, als verhielten sich einige jener Zwerge so rebellisch, um ihr geschwächtes Selbstvertrauen zu stärken.

Meine Schwester und ich fühlten uns in dieser Umgebung unwohl. Unsere Auftritte waren für uns nur ein Mittel, auf anständige Weise unseren Lebensunterhalt zu bestreiten — die einzige Möglichkeit, die sich damals für uns in Spanien ergab. Wir versuchten, uns aus den Streitigkeiten herauszuhalten, und gewannen schließlich die Achtung anderer. Manchmal sagten Vertreter der Zirkusleitung zu den aggressiven Zwergen: „Seht euch die winzigen Schwestern an. Nehmt euch an ihnen ein Beispiel!“

Während all der Jahre vergaß ich die Warnung des Zirkusdirektors nie. Wovon sollte ich später leben? Deshalb arbeiteten Carmen und ich trotz nachlassender Gesundheit hart, so daß wir für schlechtere Zeiten, mit denen wir rechneten, genug auf die Seite legen konnten.

Dennoch hatte die schwere Arbeit, wie ich meine, auch ihr Gutes. Die Beschäftigung im Zirkustrubel erleichterte es uns, unsere Kleinwüchsigkeit hinzunehmen, und wir vermieden es, uns vor anderen zu verschließen. Vor allem waren wir zu beschäftigt, um in Selbstmitleid zu verfallen.

Kleines Buch — großer Eindruck

Nach vielen Jahren sprach uns auf einer unserer Tourneen durch Spanien ein junges Mädchen direkt auf dem Zirkusplatz an und erzählte uns etwas über Gottes Königreich. Sie bot uns zwei kleine Bücher an, die wir gern entgegennahmen. Eines davon, Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt, blätterten wir noch am selben Nachmittag durch. Was wir lasen, berührte unser Herz so sehr, daß wir mit anderen Zirkusdarstellern darüber sprachen. Aber wie enttäuscht wir waren, als wir bemerkten, daß kaum jemand an dem interessiert war, was uns so begeisterte!

Zwei Jahre vergingen, bis uns erneut eine Zeugin Jehovas ansprach, diesmal bei uns zu Hause in Madrid. Wir freuten uns, wieder die Königreichsbotschaft zu hören. Die Zeugin versprach sogar, das nächste Mal eine katholische Bibelübersetzung mitzubringen, damit wir uns selbst davon überzeugen könnten, daß in ihrer Bibel dasselbe wie in unserer Bibel stand. Bald darauf wurde ein Heimbibelstudium begonnen. Es dauerte nicht lange, und wir waren davon überzeugt, daß wir die Wahrheit gefunden hatten. Nach nur einem Jahr wurde Carmen getauft, und einige Monate später entschloß auch ich mich, mein Leben in den Dienst Jehovas zu stellen, und wurde getauft.

Endlich Lehrerin!

Das Predigen von Haus zu Haus war für uns beide eine Herausforderung. Wir waren es zwar schon gewohnt, vor anderen aufzutreten, aber vor einer Haustür zu stehen und mit fremden Menschen ein Gespräch zu beginnen war etwas ganz anderes. Wir hatten unsere tiefverwurzelte Scheu und Schüchternheit nie ganz überwunden. So fragten wir uns: Wie werden die Leute reagieren, wenn zwei Zwerge vor ihrer Tür stehen? Werden sie uns für Bettlerinnen halten? Ich freue mich, sagen zu können, daß dies nur äußerst selten der Fall war.

Dank der Freundlichkeit und Geduld unserer Glaubensbrüder überwanden wir Schritt für Schritt unsere Angst, und das Predigen nahm schließlich einen großen Teil unserer Zeit ein. Endlich war mein Kindheitstraum Wirklichkeit geworden. Ich war Lehrerin! Ich lehre keine grundlegenden Kenntnisse wie Mathematik und Grammatik, sondern vermittle elementare Kenntnisse, die den Menschen helfen, ewiges Leben zu erlangen.

Natürlich sind die Leute oft verdutzt, wenn so winzige Personen vor ihrer Tür stehen. Manche sind so erstaunt, daß wir wie jeder andere sprechen können, und hören unserer Botschaft aufmerksam zu.

Wir sind stets glücklich, wenn uns die Glaubensbrüder und -schwestern aus unserer Versammlung von Haus zu Haus mitnehmen. Sie sind uns eine große Hilfe, wenn es auch nur um scheinbar unwichtige Dinge geht wie das Drücken der Klingel — oft kommen wir einfach nicht so hoch. Ein andermal helfen sie uns gern beim Treppensteigen.

Wir schätzen die liebevolle Fürsorge der Versammlung überaus. Die Brüder und Schwestern bekunden echtes Mitgefühl, nicht nur oberflächliches Mitleid, das uns ein Gefühl der Unterlegenheit vermitteln würde. Vor einigen Monaten hatte Carmen einen Unfall, und es fällt ihr nun schwer, auf einen Stuhl zu kommen. Wenn sie eine Aufgabe in der Theokratischen Predigtdienstschule hat, muß jemand sie auf den Stuhl heben. Die Kinder in der Versammlung sind fasziniert von uns, aber es ist nicht die taktlose Neugier, der wir auf der Straße begegnen. Unsere Glaubensbrüder behandeln uns wie normale Menschen, und das bewirkt, daß wir uns in der Versammlung wohl fühlen.

Die Sorgen um die Zukunft, die uns so viele Jahre unseres Lebens begleitet haben, sind verflogen. Die Angst, daß wir nicht genug zum Leben hätten, wenn wir nicht mehr arbeiten könnten, ist der gesicherten Erwartung einer besseren Zukunft gewichen. Vor Jahren arbeiteten wir ständig, nahmen jeden Vertrag an, der uns angeboten wurde, und machten uns dennoch stets Sorgen um den nächsten Tag. Sobald wir jedoch die Wahrheit des Wortes Gottes erkannt hatten, schränkten wir die Zahl unserer Engagements im Showgeschäft ein. Gleichzeitig lernten wir es, mit weniger auszukommen.

Wir treten zwar heute nicht mehr auf, sind aber mit unserer Hausarbeit vollauf beschäftigt. Mit zunehmendem Alter stellen sich auch mehr gesundheitliche Probleme ein, und das Treppensteigen ist nicht mehr so leicht. Deshalb mußten wir uns nach einer Parterrewohnung umsehen. So sind wir weniger von anderen abhängig. Wir zögern nicht, mit unseren Glaubensbrüdern Gemeinschaft zu pflegen, und sind oft im Predigtdienst tätig. All das trägt dazu bei, daß wir aufgeschlossen bleiben.

Wenn ich über die vergangenen fünfzig Jahre nachdenke, bin ich immer noch erstaunt darüber, wie sehr sich unser Leben verändert hat. Unsere Jugendjahre in der Zurückgezogenheit wurden abgelöst vom Zirkusrummel. Obwohl unser Leben jetzt ruhiger ist, ist es doch sinnvoller, da wir unsere Zeit dem öffentlichen Predigen widmen. Wir beide sind Jehova sehr dankbar, daß er uns die Wahrheit seines Wortes erkennen ließ, die uns von der Sorge um die Zukunft befreit hat. Wir sind auch sehr dankbar für die liebevolle und von Herzen kommende Unterstützung durch unsere Glaubensbrüder, die uns sehr geholfen haben, damit fertig zu werden, daß wir sogar noch unter Zwergen Liliputaner sind. (Von Amparo Sánchez Escríbano erzählt.)

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