Unser mongoloides Kind
SUSANNES Behinderung, die unmittelbar nach der Geburt diagnostiziert wurde, war für meinen Mann Gil und mich ein ungeheurer Schock. Susi war unser zweites Kind. Ich war 24 Jahre alt, gesund und hatte eine normale Schwangerschaft und Entbindung.
Susi wog 3 300 Gramm. Zwei Stunden nach der Geburt kam der Kinderarzt zu mir und sagte: „Das Baby macht einen gesunden Eindruck, aber wir befürchten, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es mongoloid.“ Er zählte mögliche Behinderungen auf: ein Herzfehler, Hör- und Sehstörungen, schwere geistige Behinderung, Anfälligkeit für Infektionen der Atemwege, Hüftbeschwerden, die mit Gehstörungen einhergehen, Schlaffheit der Muskulatur und eine kurze Lebenserwartung. Dann verließ der Arzt abrupt das Zimmer. Das tat er, wie ich später erfuhr, weil ihm die Tränen kamen.
Ich bat die Säuglingsschwester, mir das Baby zu bringen. Sobald ich Susi in den Armen hielt, merkte ich, daß sie anders war. Sie war so schlaff, so kraftlos, ganz anders als ihre Schwester als Neugeborenes. Aber ihr Leben war kostbar, und sie brauchte Fürsorge und Liebe.
Gil und ich beteten gemeinsam zu Jehova Gott, während wir unser Töchterchen an uns drückten. Wir beschlossen, mit Gottes Hilfe so gut wie möglich für sie zu sorgen.
Viele vom Krankenhauspersonal waren überrascht, als sie erfuhren, daß wir Susi mit nach Hause nehmen wollten, statt sie in ein Heim zu geben. Doch der Kinderarzt und der Geburtshelfer machten uns Mut und sagten, daß sich gemäß Studien mongoloide Kinder im Elternhaus besser entwickeln. Unsere Angehörigen und Freunde unterstützten uns sehr. Sie besuchten uns gleich und brachten Blumen und Geschenke für Susi.
Stimulierende Tätigkeiten
Wir schrieben überallhin, um Aufschluß über geistige Behinderungen und Mongolismus zu erhalten. Damals gab es nicht wie heute Stimulierungsprogramme für kleine Kinder. Doch die Universität von Minnesota führte gerade eine experimentelle Studie auf diesem Gebiet durch und vermittelte uns viele Informationen.
Gil und ich nahmen uns vor, Susi soviel wie möglich körperlich und geistig zu stimulieren. Statt sie einfach in ihrem Bettchen liegen zu lassen, brachten wir sie stets in ein Zimmer, wo sie Leben um sich hatte. Sie saß bei den Mahlzeiten mit uns am Tisch, und wir nahmen sie zum Einkaufen, in Restaurants und an andere Orte mit.
Wenn sie in ihrem Zimmer war, achteten wir darauf, daß sie bunte Gegenstände zum Anschauen hatte, und oft ließen wir das Radio oder den Plattenspieler für sie laufen. Auch setzten wir viel Zeit ein, um mit Susi zu spielen, damit sie ihre Muskeln gebrauchte. Ihre Schwester spielte und redete häufig mit ihr.
Durch den Ansporn, den Susi erhielt, machte sie Fortschritte. Mit 11 Monaten setzte sie sich allein auf. Mit dreieinhalb Jahren konnte sie allein laufen. Diese Leistungen wurden in unserer Familie gefeiert. Susi war jeweils so stolz auf sich, daß sie lachte und vor Freude in die Hände klatschte. Obwohl sie auf Geräusche reagierte und die üblichen Babylaute von sich gab, dauerte es Jahre, bis sie die ersten Wörter sagte.
Schon als sie erst ein paar Wochen alt war, nahmen wir jede Gelegenheit wahr, ihr vorzulesen. Sie liebte die Publikation Mein Buch mit biblischen Geschichten. Später sagte sie vor dem Schlafengehen immer: „Buch, Buch.“ Dann setzte ich mich neben sie und las ihr eine Geschichte vor. Ich war mir nicht sicher, wieviel sie verstand, aber eines Abends deutete sie auf das Bild von Adam und Eva, das zeigt, wie sie aus dem Garten Eden vertrieben wurden, und sagte: „Böse, böse!“
Wir schlossen sie immer in unser Familienbibelstudium mit ein, und wenn sie sich auch nur begrenzt daran beteiligen konnte, saß sie doch ruhig dabei und schien sich an dem Studium zu freuen. Sie hatte natürlich ihr eigenes Buch. Das Gebet nahm sie sehr wichtig. Ehe nicht gebetet wurde, aß sie zum Beispiel nicht. Falls es einmal vergessen wurde, runzelte sie die Stirn und sagte laut: „Beten!“
Wenn wir über die Bibel sprachen, erzählte ich ihr von dem Paradies auf der Erde, das bald kommen würde, und daß Jehova alles wieder vollkommen machen würde. Sie würde dann lesen, sprechen, rennen und springen können und nie mehr krank sein.
Die Zusammenkünfte im Königreichssaal der Zeugen Jehovas bereiteten Susi viel Freude. Sie mochte ihre Freunde dort, und diese mochten Susi auch. Sie liebte die Lieder, und wenn in der Versammlung gesungen wurde, bewegte sie die Arme im Takt zur Musik. Sehr früh lernte sie, bei den Zusammenkünften stillzusitzen.
Sonderschule
Als sie mit fünf Jahren in eine Sonderschule für geistig behinderte Kinder kam, staunten die Lehrer, daß sie stillsitzen konnte. Das soll aber nicht heißen, daß Susi immer eine Musterschülerin war. Wir merkten bald, daß sie wie jedes andere Kind unartig sein konnte und Zucht brauchte.
Da man uns gesagt hatte, Susi werde womöglich nie laufen können, waren wir sehr froh, als sie es doch lernte. In der Schule machte sie Krankengymnastik, um besser laufen zu können. Man zeigte uns auch Übungen für zu Hause. Das Lehrprogramm wurde von ihren Lehrern und Therapeuten jedes Jahr anläßlich einer Zusammenkunft sorgfältig für sie ausgearbeitet. Als Eltern schätzten wir es, mit einbezogen zu werden. Dadurch wurde gewährleistet, daß Susi in der Schule und zu Hause kontinuierlich belehrt wurde. Man legte auf Selbständigkeit Nachdruck, zum Beispiel, daß sie lernte, sich anzuziehen, zu essen, sich zu kämmen, einfache Mahlzeiten zuzubereiten, Geschirr zu spülen und Betten zu machen. Außerdem erhielt sie sprachlichen Unterricht.
Zwar würde Susi wahrscheinlich nie lesen lernen, aber sie lernte, wichtige Wörter zu erkennen. Wie begeisternd es doch war, als Susi mit zehn Jahren in der Lage war, einige Wörter spontan zu erkennen!
Für geistig behinderte Kinder ist es äußerst schwer, zu lernen, sich auf eine Sache so lange zu konzentrieren, bis sie erledigt ist. Susi verlor rasch das Interesse an der einfachsten Aufgabe, selbst wenn es nur das Spielen mit einer Puppe oder einem anderen Spielzeug war. Um ihr beizubringen, bei einer Sache zu bleiben, verlangten die Lehrer in der Schule und wir zu Hause einfach einige Sekunden Konzentration, ehe wir sie belohnten — entweder mit einem „Gut gemacht!“ oder mit einer Kleinigkeit zu knabbern. So hatte Susi das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Allmählich, im Laufe der Jahre, wurde die Konzentrationsfähigkeit gesteigert.
Als Susi 13 Jahre alt war, ergaben Tests, daß sie etwa auf der Stufe eines zweijährigen Kindes stand. Die Beschäftigung mit ihr erforderte also viel Geduld, besonders als es darum ging, sie zur Sauberkeit zu erziehen und ihr beizubringen, wie man ißt und sich anzieht. Wir hielten es in ihrem Interesse für wichtig, daß sie so selbständig wie möglich wurde. Die Fortschritte stellten sich langsam, aber sicher ein.
Wir waren froh, daß wir Susi zu Hause behalten konnten, statt sie in ein Heim zu geben. Doch das ist eine Entscheidung, die jeder betroffenen Familie selbst überlassen ist, da jeder Fall anders ist. Einige Kinder sind so sehr behindert, daß es äußerst schwer wäre, sie zu Hause zu behalten.
Wegen Susis Behinderung konnten wir als Familie vieles nicht unternehmen, und natürlich war es unser Wunsch, daß unsere anderen Kinder so unbekümmert wie möglich aufwuchsen. Sie mußten zwar auf einiges verzichten, doch was Geduld, Verständnis und Mitgefühl betrifft, haben sie, wie wir feststellten, etwas gelernt, was viele in ihrem ganzen Leben nicht lernen.
Letzte Krankheit
Susis gesundheitliche Probleme bereiteten uns im Laufe der Jahre große Sorgen. Sie waren für uns schlimmer als ihre geistige Behinderung. Wir hatten das Empfinden, daß sie stets etwas dazulernte, wenn auch langsam, aber bei ihren Erkrankungen fühlten wir uns ratlos. So sehr wir auf ihre Gesundheit achteten, sie wurde immer wieder krank. Es verging kein Winter, ohne daß sie mindestens einmal schlimm erkrankte.
Susis letzte Krankheit begann im Winter, kurz bevor sie 15 Jahre alt wurde. Sie kam mit Lungenentzündung ins Krankenhaus. Damals war sie so weit, daß sie ein paar einfache Wendungen und Sätze herausbrachte. Als ich sie einmal im Krankenhaus besuchte, sagte sie: „Hallo, Mami! Heute keine Schule.“ Die Krankenschwestern und ich konnten uns das Lachen nicht verkneifen. Da lag Susi mit einer schlimmen Lungenentzündung unter einem Sauerstoffzelt (ihrem Haus, wie sie es nannte) und dachte an die Schule!
Eine Woche nach der Einlieferung sagte der Arzt, es gehe ihr besser. Eines Abends verließen wir gegen 10 Uhr das Krankenhaus. Kurz nach 11 Uhr, als wir uns gerade schlafen gelegt hatten, klingelte das Telefon. Die Krankenschwester am Apparat weinte. „Kommen Sie bitte sofort. Der Zustand Ihrer Tochter hat sich verschlechtert.“
So schnell wir konnten, fuhren wir ins Krankenhaus, aber Susi war bereits gestorben. Die Ärzte erklärten uns, zwei Krankenschwestern seien bei Susi gewesen, um sie für die Nacht fertigzumachen, als sie plötzlich Atemnot bekommen habe. Sie riefen sofort Hilfe herbei, doch Susis Herz hörte auf zu schlagen, und man konnte sie nicht wiederbeleben.
Wir wußten nicht, daß so viele Leute unsere Susi ins Herz geschlossen hatten. Fast die gesamte Belegschaft ihrer Schule sowie Freunde und Verwandte kamen zu ihrer Beerdigung. Wir erhielten Karten und Briefe von Leuten, die wir kaum kannten, die aber Susi gekannt hatten. Es war ein großer Trost.
Nach ihrem Tod hatten wir viel größeren Kummer als während ihres Lebens. Manchmal übermannte mich die Trauer, und ich brach zu den unpassendsten Zeiten in Tränen aus. Ich konnte nicht verstehen, warum Jehova meiner Trauer kein Ende machte. Aber Gil und unsere Glaubensbrüder und -schwestern waren sehr geduldig mit mir, und ich sah ein, daß ich von Gott erwartete, die Trauer sofort von mir wegzunehmen, was unrealistisch war. Mit der Zeit und durch ständiges Vertrauen auf Jehova wurde der Kummer erträglicher.
Die Auferstehungshoffnung
Nun hat die Verheißung Jehovas, ein irdisches Paradies unter der Herrschaft des Königreiches zu schaffen, noch größere Bedeutung für uns. Wir freuen uns darauf, Susi durch die Auferstehung wiedersehen zu können (Matthäus 6:9, 10; Johannes 5:28, 29). Da sie jetzt im Tode schläft, wird es für sie sein, als sei sie eines Abends als krankes, behindertes Mädchen zu Bett gegangen und am nächsten Morgen aufgewacht, um in Gottes neuer Welt ein glückliches, schönes Leben zu führen.
Während die Zeit verstreicht, sehen wir Susi, wenn wir an sie denken, weniger so, wie sie war, sondern mehr so, wie sie im wiederhergestellten Paradies sein wird. Welche Interessen und Begabungen wird sie haben? Da sie gern Musik hörte, bin ich sicher, daß sie sie dann richtig genießen kann. Wird sie mit mir Bilder malen, nähen und häkeln? Wird sie gern lesen und kochen wie ihre Schwester Cari? Wird sie gern tüfteln und rechnen wie ihr Vater und ihr Bruder Mark?
Wir wissen, daß Susi begeistert sein wird, ohne körperliche Behinderungen laufen, tanzen und spielen zu können. Wir wissen, daß sie sich freuen wird, die richtigen Worte zu finden, um ihre Gefühle auszudrücken. Und wir wissen, daß sie sich über die Blumen, das Vogelgezwitscher, den Sonnenschein, den blauen Himmel, die weißen Wolken, die glitzernden Seen und die gurgelnden Bäche freuen wird. Wie begeisternd wird es für uns sein, zu beobachten, wie sie all die Wunder des Lebens bestaunt, und ihr beim Lernen zu helfen!
Wir vermissen Susi sehr, und in unserer Familie wird immer eine Leere bleiben, bis sie wieder bei uns ist. Bis dahin ist es ein Trost, zu wissen, daß sie im Gedächtnis unseres liebevollen Gottes ist.
Die Auferstehungshoffnung, der Beistand Gottes durch das Gebet, die Gemeinschaft mit unseren christlichen Brüdern und Schwestern und die Anleitung aus Gottes Wort haben uns geholfen, der Herausforderung zu begegnen, für ein behindertes Kind zu sorgen, und mit dem Schmerz des Verlustes fertig zu werden. (Eingesandt.)
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Susi konnte wie jedes andere Kind unartig sein
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Susis gesundheitliche Probleme bereiteten uns im Laufe der Jahre große Sorgen