Öl zu deinen Diensten — Vielleicht!
GEMÜTLICH döste ich vor mich hin, so wie schon seit undenklichen Zeiten — im friedlichen Zusammenleben mit meinen Millionen von Nachbarn, Öltropfen wie ich. Doch plötzlich riß uns ein schauerliches Gekreische aus unserer Ruhe: Stahl bohrte sich knirschend durch die Wand unseres Heims! Der Ruhestörer aus einer anderen Welt war, wie sich herausstellte, ein Bohrmeißel, der unser Leben über Nacht völlig veränderte.
Wie bin ich, ein unbedeutender Öltropfen, zu einem solchen Ansehen gekommen? Meine Geschichte beginnt in den frühen 1960er Jahren. Zu dieser Zeit war man in der nördlichen Küstenebene Alaskas auf der Suche nach Öl. Jahrelang gaben die Ölgesellschaften auf der Suche nach ihrer schwer zu findenden Beute — einem lohnenden Ölfeld — Millionen von Dollar aus. Schließlich machten sich ihre Anstrengungen bezahlt. 1968 wurde das riesige Ölfeld der Prudhoe Bay entdeckt.
Man drang in mein Zuhause ein. Kannst du dir mein Grauen vorstellen, als ich gezwungen wurde, mein warmes, gemütliches Heim aufzugeben, um durch ein fremdartiges Stahlrohr in eine Welt gejagt zu werden, die mir völlig unbekannt war?
Mein Heim
Vielleicht sollte ich einen Moment darauf verwenden, dir mein Zuhause zu beschreiben. Es liegt über 2 500 Meter unter dem Meeresspiegel. Was für eine Abgeschiedenheit! Die Temperatur betrug etwa 90 Grad Celsius — gerade angenehm für unsere Molekularstruktur. Einige denken bei einer Erdöllagerstätte möglicherweise an eine große, mit Öl gefüllte Höhle. Mein Zuhause ist jedoch eine Sand- oder Geröllschicht, die mit Öl und Gas gefüllt ist. Falls dir das unverständlich erscheint, stell dir einen mit Sand gefüllten Behälter vor. Gießt du Wasser hinzu, läuft er erst über, wenn die Wassermenge einem Viertel des Behältervolumens entspricht.
Laß mich aber zu der Zeit zurückkehren, wo ich in ein neues Leben entführt wurde. Zufolge des gewaltigen Drucks in der Lagerstätte, der ursprünglich mit 275 bar gemessen wurde, schoß ich das Rohr hinauf.
Eine neue Welt tat sich mir auf. Einige sagen, ich sei als Treibstoff sehr beliebt. Andere meinen, ich sei auf tausend anderen Gebieten nützlich — im Haus und in der Industrie. Wo würde ich landen? Ich war besorgt, doch zumindest war ich ja nicht allein. Weitere Bohrungen wurden niedergebracht, um noch mehr meiner Gefährten aus den Ölfeldern der Prudhoe Bay zu holen.
Das ist teuer und riskant. Häufig dringen die Bohrer in Formationen ein, die unter großem Druck stehen. Wenn man uns dann nicht zügelt, kann es sein, daß wir hochschießen, eine gewaltige Explosion auslösen und die Tundra wie auch die Tierwelt sehr schädigen. Ich war jedoch nicht an so etwas schuld. Man schickte mich via Pipeline nach Valdez, meiner Bestimmung entgegen, dir zu dienen.
Übrigens wurde diese Pipeline nicht in, sondern über dem Tundraboden verlegt, damit sie nicht den Permafrostboden auftaut. In der nördlichen Küstenebene reicht der Permafrost durchschnittlich 600 Meter tief. 30 Prozent davon sind gefrorenes Wasser. Flösse das warme Öl unterirdisch, so würde der Permafrostboden auftauen, und unsere Pipeline könnte sich leicht verziehen und brechen. Kannst du dir den Schaden ausmalen? Wie katastrophal sich Tausende von Litern austretendes Rohöl auf die empfindliche Tundra auswirken würden!
Der Reiseplan sah vor, daß ich mit einem Supertanker von Valdez aus zu einer weit entfernten Raffinerie fahren sollte. Dort würde ich ein neues Leben beginnen. Das Gas und das Wasser würden abgetrennt und einer anderen Bestimmung zugeführt werden. „Gas?“ fragst du vielleicht. „Ich habe gedacht, wir sprechen über Öl.“ Nun, die meisten wissen nicht, daß dort, wo ich lebe, auch immer Gas in der Nachbarschaft ist. Ja wir bestehen zum größten Teil aus Gas. Wenn man mich freiließe, würde ich mich, sobald ich die Erdoberfläche erreicht hätte, um mehr als das Hundertfache ausdehnen. Was für einen Krach das gäbe!
Wie auch immer, in der Raffinerie soll ich verwandelt werden. Ich soll in Fraktionen oder Bestandteile aufgebrochen werden. Diesen Prozeß nennt man fraktionierte Destillation. Dabei wird das Rohöl verdampft und in einen hohen Turm geschickt. Die verschiedenen Fraktionen kondensieren auf verschiedenen Ebenen und werden dort abgeleitet. Wie du möglicherweise weißt, wird fast die Hälfte von mir zu Benzin verarbeitet. Damit bin ich dann zu deinen Diensten, wenn du zur Tankstelle fährst und sagst: „Volltanken bitte.“
Doch ich kann auch zu vielem anderen werden. Anfangs sehen wir Tropfen vielleicht nicht so besonders aus, aber schau dich im Zimmer um. Bei diesem Stuhl könnte Kunststoff verarbeitet worden sein, Vinyl oder künstlicher Gummi; der schöne Küchentisch könnte eine Beschichtung auf Ölbasis haben; das Ausgangsmaterial für deinen Fußbodenbelag mag aus einem Chemiewerk kommen, das mit Ölprodukten sein Geld verdient — tausenderlei Arten, dir zu dienen.
Nicht mehr zu deinen Diensten
Doch ich werde zu nichts von alldem. Meine Reise von Valdez zu einer Raffinerie beginnt auf einem Supertanker namens Exxon Valdez. Kurz nach Mitternacht knirscht Metall gegen Felsen — weit beängstigender als damals, wo der Bohrmeißel in mein Heim an der Prudhoe Bay eindrang! Der Tank, der mich beherbergt, wird am Bligh-Riff des Prince-William-Sunds aufgerissen. Ich werde zusammen mit 42 000 000 Litern meiner Reisegefährten ins Wasser gerissen und bin an einer schrecklichen Verschmutzung beteiligt — an der größten Ölpest, die Nordamerika je gesehen hat!
Daher werde ich nie dazu beitragen, deinen Tank zu füllen. Ich werde nicht in der Kunststoffplatte auf deinem Tisch sein, nicht in einem Teil deines Fernsehgerätes, nicht in deiner bevorzugten Creme, deiner Kleidung oder dem Parfüm mit dem unwiderstehlichen Duft. Ich werde mich nie in deinen Dienst stellen können, wie das eigentlich beabsichtigt war. Das steht fest!
Statt dessen verseuche ich den Prince-William-Sund und den Golf von Alaska und bin daran beteiligt, die Schönheit von Hunderten Kilometern Küste zu ruinieren. Ich habe einen Anteil an dem Tod Tausender von Tieren. Scharen von Fischern müssen meinetwegen um ihre Existenzgrundlage fürchten. Wieviel besser wäre es doch für mich gewesen, in der nördlichen Küstenebene der Prudhoe Bay zu bleiben — ein Öltropfen, der in seinem gemütlich warmen Heim über 2 500 Meter unter dem Meeresspiegel vor sich hin döst.