Jehovas Zeugen in Osteuropa
ALS die Berliner Mauer im November 1989 fiel, strömten, wie z. B. Asiaweek berichtete, „in den zwei Tagen nach der Grenzöffnung durch Ost-Berlin etwa zwei Millionen Ostdeutsche in die westliche Hälfte ihres geteilten Landes“. Was sie dort wollten?
Die Wohlhabenderen stürzten sich in eine Kauforgie, andere beschränkten sich auf einen Schaufensterbummel und darauf, ihre neugewonnene Freiheit zu schmecken. Viele begegneten auf den Straßen Berlins und anderer Städte Zeugen Jehovas und nahmen von ihnen Literatur entgegen. Einige schrieben an die Wachtturm-Gesellschaft in Selters, und ihre Briefe lassen bemerkenswerte Reaktionen erkennen.
In einem Brief hieß es: „Bei meinem ersten Besuch in West-Berlin habe ich auf der Straße von Zeugen Jehovas einen Wachtturm geschenkt bekommen. Seitdem habe ich auch wieder die Bibel aufgeschlagen, und obwohl ich haufenweise Schwierigkeiten habe, ist da wieder jemand, der mir Lebensfreude und Hoffnung gibt. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich das Buch Mache deine Jugend zu einem Erfolg einmal lesen könnte. Ebenfalls möchte ich Kontakt zu Jehovas Zeugen haben.“
Ein anderer Besucher schrieb: „In der Unterführung zum Hauptbahnhof von Nürnberg gab mir eine Frau zwei Hefte, Erwachet! und Der Wachtturm. Nach dem Lesen war ich begeistert! Seit einigen Tagen benutze ich die Bibel wieder täglich.“
Während des Sommers 1990 fanden in Osteuropa in größeren Städten Kongresse der Zeugen Jehovas statt. Ein Kongreß, bei dem Zeugen aus vielen Ländern einschließlich der DDR anwesend waren, wurde im Westberliner Olympiastadion abgehalten. Nach Schätzungen kamen etwa 30 000 der 44 532 Anwesenden aus der DDR. Die Berliner Morgenpost berichtete, daß 1 017 neue Zeugen im Olympia-Schwimmstadion „durch volles Untertauchen im Wasser“ getauft wurden, wobei „sich die Teilnehmer strikt an das Muster des Urchristentums“ hielten.
Wie hat sich die Situation im östlichen Deutschland verändert? Im März 1990 meldeten die Zeitungen in der DDR die Legalisierung der Zeugen Jehovas. Unter der Überschrift „Zeugen Jehovas wieder legal“ war in der Mitteldeutschen Zeitung zu lesen: „Der 14. März 1990 bedeutete das Ende eines vier Jahrzehnte andauernden Verbotes: An diesem Tage konnten deutsche Vertreter der Zeugen Jehovas das Gebäude des Staatssekretariats der DDR für Kirchenfragen mit einer Urkunde in der Tasche verlassen, das ihrer Glaubensgemeinschaft auf dem Gebiet der DDR wieder die freie Religionsausübung gestattet.“
Ein Zeuge aus Leipzig schrieb: „Wir Zeugen Jehovas sind gesetzlich anerkannt! Vor einer Woche haben wir noch [geistige] Speise in kleinen Mengen heimlich rangeholt — demnächst kommt ein LKW mit 4 Tonnen!“ In Wirklichkeit war der erste LKW für die DDR mit 23 Tonnen biblischer Literatur beladen. Innerhalb der nächsten zwei Monate wurden noch etwa 250 Tonnen gesandt — so groß war der geistige Hunger der Zeugen, denen über 40 Jahre lang die Freiheit vorenthalten worden war.
Wenn man bedenkt, daß sowohl der Nationalsozialismus (1933—45) wie auch der Kommunismus versucht hat, das Werk der Zeugen in Deutschland zu ersticken, ist ihre bisherige und gegenwärtige eifrige Tätigkeit ein schönes Zeugnis für ihre Lauterkeit und für den Segen, den Gott ihnen geschenkt hat.
Jehovas Zeugen in der Sowjetunion
Im Dezember 1989 trafen sich Michail Gorbatschow und Papst Johannes Paul II. im Vatikan. Gemäß der Prawda sagte Gorbatschow über dieses Treffen: „Wir hatten ein eingehendes und konstruktives Gespräch. ... Wir haben über Religion und die damit in Verbindung stehenden Entwicklungen gesprochen, die momentan in Europa, der Welt und auch in der Sowjetunion vonstatten gehen.“ Wie der Osservatore Romano, das offizielle Organ des Vatikans, berichtete, hat Gorbatschow in seiner Rede vor dem Papst darauf verwiesen, daß Menschen verschiedenster Konfessionen, darunter Christen, Muslime, Juden und Buddhisten, in der Sowjetunion leben. Alle hätten das Recht auf Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse. Er kündigte auch die baldige Verabschiedung eines neuen Gesetzes über die Gewissensfreiheit an.
Getreu seinen Worten, hat das sowjetische Parlament im September 1990 ein Gesetz zur Gewissensfreiheit verabschiedet. In Artikel 3 des Gesetzentwurfs hieß es: „In Übereinstimmung mit dem Recht auf Gewissensfreiheit entscheidet jeder Bürger für sich selbst über sein Verhältnis zur Religion und hat das Recht, allein oder zusammen mit anderen irgendeine oder auch keine Religion auszuüben und Überzeugungen in Verbindung mit seinem Verhältnis zur Religion zu äußern und zu verbreiten.“
In der Sowjetunion gibt es Tausende von Zeugen Jehovas, die einer freien Religionsausübung erwartungsvoll entgegensehen. (Siehe Seite 22.) Zu dem Kongreß „Reine Sprache“ (1990) kamen in Vertretung aller Zeugen der Sowjetunion über 17 000 Delegierte nach Warschau, wo das Programm auch in Russisch dargeboten wurde. Sie sehen dem Tag entgegen, an dem sie ihre Kongresse in der Sowjetunion abhalten können.
Fortschritte in Polen
Im Mai 1989 wurden Jehovas Zeugen in Polen gesetzlich anerkannt. Inzwischen ist ein Zweigbüro eröffnet und mit dem Bau größerer Einrichtungen in der Nähe von Warschau begonnen worden. Früher kamen Hunderte von jungen Zeugen wegen der Streitfrage der christlichen Neutralität ins Gefängnis; jetzt sind sie vom Militärdienst befreit, sofern sie eine entsprechende Bescheinigung vorlegen können.
Die Kongresse, die 1989 und 1990 in Polen stattfanden, waren für die Zeugen dort ebenfalls ein großer Ansporn. Einem Bericht zufolge ist die Zahl der tätigen Zeugen in Polen im vergangenen Jahr jeden Monat gestiegen und erreichte eine neue Höchstzahl von über 97 000. Zweifellos wird Polen bald das 12. Land mit über 100 000 Zeugen sein.a Der Feier zum Gedenken an den Tod Christi im April wohnten 188 861 Personen bei.
Religionsfreiheit in Rumänien
Die Zeugen in Rumänien waren begeistert, als sie von der gesetzlichen Anerkennung ihrer Gemeinschaft im April 1990 hörten. (Siehe Kasten auf Seite 13.) Bald hatte man im ganzen Land Kreiskongresse organisiert. Bei einer Serie waren über 44 000 anwesend, und das obwohl es zu dieser Zeit nur etwa 19 000 Verkündiger gab. Zweifellos sind viele Rumänen empfänglich für die Königreichsbotschaft.
Bezirkskongresse, wie sie 1990 in der ganzen Welt unter dem Motto „Reine Sprache“ stattfanden, wurden auch in Braşov und Cluj Napoca abgehalten, wobei das Programm sowohl in Rumänisch wie auch in Ungarisch dargeboten wurde. Über 36 000 waren anwesend, und 1 445 ließen sich taufen.
Beginnend mit der Ausgabe vom 1. Januar 1991, erscheint Der Wachtturm in Rumänisch im Vierfarbendruck und simultan mit dem englischen (und deutschen).
Im benachbarten Bulgarien, wo die orthodoxe Kirche vorherrschend ist, sind Jehovas Zeugen zwar noch nicht gesetzlich anerkannt, aber sie können bereits Räumlichkeiten für ihre Versammlungszusammenkünfte mieten. Über zweihundert Zeugen reisten nach Saloniki (Griechenland) zum Kongreß „Reine Sprache“, der dort in Bulgarisch und Griechisch abgehalten wurde.
Gute Nachrichten aus Ungarn
Der 27. Juni 1989 war ein historisches Datum für die Zeugen in Ungarn. Die Zeitung Magyar Nemzet meldete: „Das staatliche Büro für Kirchenangelegenheiten hat die religiöse Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in Ungarn gemäß dem Gesetz über die religiöse Freiheit als eine religiöse Konfession gesetzlich anerkannt.“ Die Neuigkeit wurde im Radio und im Fernsehen gebracht. Die Ungarn erfuhren, daß Jehova Tanúi (Jehovas Zeugen) sich endlich der gesetzlichen Anerkennung ihres Werkes erfreuen.
Für die wichtigsten Regionen des Landes fanden in Pécs, Miskolc, Debrecen und Budapest Kongresse der Serie „Reine Sprache“ statt. Etwa 2 000 Ungarisch sprechende Personen kamen aus der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Eine Gruppe von 700 Delegierten aus Finnland unterstrich die internationale Einheit der Zeugen Jehovas. Insgesamt waren in Ungarn 21 568 anwesend einschließlich der mehr als 2 000 rumänischen Delegierten.
Seit Januar 1990 bekommen die Zeugen in Ungarn regelmäßig ihre farbigen Zeitschriften, und zwar simultan mit den englischen.
Es tut sich was in der Tschechoslowakei
In diesem schönen Land der rauhen Berge und fruchtbaren Ebenen sind Jehovas Zeugen eifrig damit beschäftigt, ihren Mitmenschen zu einer besseren Erkenntnis der Bibel zu verhelfen. In einem Bericht über ihre Tätigkeit heißt es: „Das Werk wird offen durchgeführt, und es finden große Zusammenkünfte statt.“
Die Zeugen Jehovas in der Tschechoslowakei reagierten unverzüglich auf die dramatischen Veränderungen in Osteuropa, die Ende 1989 einsetzten. Sie organisierten für die Monate April bis Juni 1990 eine Serie von Kreiskongressen. Daraufhin berichtete die Presse zum ersten Mal positiv über die Zeugen. Zur Zeit gibt es in der Tschechoslowakei über 21 000 Zeugen Jehovas, und 1990 waren 40 295 bei der Feier zum Gedenken an den Tod Christi zugegen. Mehr als die Hälfte der Versammlungen haben bereits eine Räumlichkeit gemietet, wo sie ihre Zusammenkünfte abhalten können, und 12 Versammlungen haben sogar schon einen eigenen Königreichssaal.
Im August 1990 fand in Prag ein Kongreß statt, bei dem 23 876 anwesend waren und 1 824 getauft wurden. Um das Stadion für den Kongreß herzurichten, setzten über 9 500 Zeugen mehr als 58 000 Stunden für die Reinigung und für Malerarbeiten ein. Ein Vertreter des tschechoslowakischen Fernsehens bemerkte: „Wir waren schon bei vielen Veranstaltungen, doch wir müssen Ihre Organisation hier im Stadion bewundern. Wir können kaum glauben, daß Sie solch ein Zusammenkommen zum ersten Mal organisieren.“ Ein Besucher sagte: „Ich bewundere die auf das Geistige ausgerichtete Atmosphäre, die Herzlichkeit und die Liebe unter Ihren Brüdern. Ich kam als ein Freund, und ich gehe als ein noch größerer.“
Der Wachtturm und Erwachet! erscheinen jetzt in Tschechisch und Slowakisch im Vierfarbendruck, und Der Wachtturm kommt in beiden Sprachen simultan mit der englischen Ausgabe heraus. Wenn man an die Repressionen denkt, die es noch vor einem Jahr gab, so sind das wirklich bemerkenswerte Veränderungen.
Aussichten
Wie sind die Aussichten für das Predigen in Ländern, in denen die jüngeren Generationen zum Atheismus erzogen wurden? In einem Report wird dazu gesagt: „Es herrscht große Unwissenheit bezüglich Gott und der Bibel. Positiv daran ist jedoch, daß die Menschen nicht aufgrund falscher religiöser Lehren verwirrt sind, die erst einmal aufgegeben werden müßten. Es scheint so, als ob es eine große Ernte geben wird.“
Worin besteht nun die biblische Botschaft, die Jehovas Zeugen den Menschen überbringen möchten? Damit beschäftigt sich der folgende Artikel.
[Fußnote]
a Die anderen 11 sind Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Nigeria, die Philippinen und die Vereinigten Staaten.
[Kasten auf Seite 8, 9]
Endlich Religionsfreiheit!
Die folgenden Kommentare stammen von Zeugen Jehovas aus der ehemaligen DDR, die im Juli 1990 den Kongreß „Reine Sprache“ in Berlin besuchten:
„Ich bin die Lydia und komme aus der DDR. Ich freue mich sehr, daß ich bei diesem Bezirkskongreß anwesend sein darf, denn vor einem Jahr waren die Grenzen noch nicht auf. Wir mußten das G[edächtnis] M[ahl] heimlich feiern. Dieses Mal frei! Wenn alle singen, kommen mir die Tränen. Ich bin 8 Jahre alt und bin so begeistert, daß ich es in der Schule erzählen werde.“
„Wir sind von Dankbarkeit und Wertschätzung erfüllt, hier in Berlin inmitten unserer internationalen Bruderschaft Jehovas Gäste zu sein.“ Bernd
„Daß auch Brüder aus der DDR am Programm beteiligt waren, zeigt einen besonderen Aspekt: Jehova schult und befähigt sein Volk auch unter Verbot.“ Gottfried
„Am Beifall und Gesang habe ich gemerkt, daß alle glücklich waren. Es war ein Brausen, das einen innerlich emporgerissen hat. Wie muß sich Jehova wohl darüber gefreut haben!“ Egon
„Einige Geschwister haben nach der Taufe gefragt, ob denn das Wasser sehr kalt gewesen sei. Ich konnte ihnen nur antworten, daß ich es nicht weiß, denn der Segen Jehovas war so warm, daß ich die Wassertemperatur kaum spürte.“ Heidrun
„Die Atmosphäre im Massenquartier war unbeschreiblich! Aus Dänemark, Mosambik, England, Kalifornien, Süddeutschland, Spanien und der DDR — alle haben wir gesungen, alle sprachen die ‚reine Sprache‘.“ Jutta
„Wir haben unseren Kindern immer unsere Erinnerungen an die letzten Berliner Kongresse (1958 bis 1960), denen wir beiwohnen konnten, erzählt. Das Erlebte übertraf jedoch alle Erinnerungen und Vorstellungen.“ Wolfgang
„Am beeindruckendsten aber war es für uns, als sich die Tausende zum Gesang und Lobpreis Jehovas erhoben, besonders auch beim Abschlußlied und Gebet. Da konnten wir unsere Tränen nicht mehr zurückhalten.“ Monika und Reinhard
[Kasten auf Seite 13]
„Eine Ungerechtigkeit wurde korrigiert“
Unter dieser Überschrift erschien in dem rumänischen Journal Tineretul liber (Freie Jugend) vom 11. August 1990 ein Bericht, in dem es hieß: „Ja, eine Ungerechtigkeit wurde korrigiert. Die vielgeschmähte Religionsorganisation der ‚Zeugen Jehovas‘, deren Angehörige über 40 Jahre lang ihre Lauterkeit als Nachfolger Christi bewahrt haben, wurde gesetzlich anerkannt und erlangte den Status einer juristischen Person. Die Organisation führt ihre Tätigkeit unter der Aufsicht der leitenden Körperschaft und mit deren Befugnis als eine weltweite Organisation in 210 Ländern und Inselgebieten durch.“ Der Artikel schloß mit der Ankündigung der im August stattfindenden Kongresse in Braşov und Cluj Napoca.
[Bilder auf Seite 9]
Auf den Kongressen: (im Uhrzeigersinn, links unten beginnend) Freigabe einer neuen Broschüre in Warschau; ungarische und rumänische Bühne in Budapest; Anwesende in Berlin machen Notizen; Herrichten des Stadions vor dem Kongreß in Prag
[Bilder auf Seite 10]
Auf den Kongressen: (im Uhrzeigersinn, links unten beginnend) Taufe (Rumänien); Stadion in Prag; Familie in Berlin mit dem Buch „Die Suche der Menschheit nach Gott“; Redner in Budapest; ein Blick in die Bibel (Polen)