Die Asbeststory — Vom Lebensretter zur Lebensbedrohung
VOR einiger Zeit mußten die Bewohner eines Trailerparks in Arizona (Vereinigte Staaten) ihre Heime und ihren Besitz an den Staat verkaufen und ausziehen. Alles in dem Park, vom Wohntrailer bis zu den Möbeln und Spielsachen, wurde systematisch zerstört, platt gewalzt und unter Schichten aus Filterpapier, Schotter und Mutterboden begraben. Was war die Ursache? Strahlung? Giftige Chemikalien? Verseuchtes Wasser? Nein, der Trailerpark stand auf den Resten einer alten Industrieanlage und war mit Asbest verseucht.
Es ist ein bewegtes Jahrhundert für den Asbest gewesen — ein schwindelerregender Absturz von den Gipfeln der Beliebtheit zu den Tiefen der Schmähungen. Einst Liebling der Industrie und geachteter Retter zahlloser Menschenleben vor dem Feuer, sitzt der Asbest heute auf der Anklagebank wegen Mitschuld am Tod von buchstäblich Hunderttausenden. Dem Asbest wurde das zweifelhafte Vorrecht zuteil, das Bauwesen revolutioniert zu haben, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich zweimal: zuerst in dem weltweiten Bemühen, Asbest in die Gebäude zu bekommen, und ein zweites Mal mit teilweise panikartigen Anstrengungen, das Zeug da wieder herauszuholen.
Schulen, Büros und Apartmenthäuser wurden geschlossen — mit gewaltigen Kosten für den Steuerzahler, die Hausbesitzer und die Bewohner. Eine Welle von Schadensersatzklagen überschwemmt die Gerichte. Angst hat das Leben vieler verändert, und an allem ist der Asbest schuld.
Doch was ist Asbest? Woher kommt er? Ist er wirklich so gefährlich?
Wechselvolle Vergangenheit
Im Gegensatz zu der Vorstellung einiger ist Asbest nicht einfach eine von zahllosen Fehlzündungen der modernen Technologie, nicht nur eine wild gewordene Ausgeburt des Labors. Nein, Asbest ist ein Mineral aus natürlichen Vorkommen, oder korrekter, die Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Mineralen, die aus sechs recht unterschiedlichen Arten besteht. Aber alle weisen eine faserige Struktur auf, und alle sind extrem hitzebeständig.
Seit Tausenden von Jahren wird Asbest vom Menschen genutzt. Viele Jahrhunderte vor Christus mischten ihn finnische Bauern in ihre Töpferware und dichteten damit Ritzen in ihren Blockhäusern ab. Die alten Griechen machten daraus Lampendochte. Die Römer stellten aus Asbestfasern Gewebe her, aus denen sie dann Tücher, Netze und sogar Kopfbedeckungen für Frauen verfertigten. Diese Gewebe waren sehr leicht zu reinigen: Man warf sie einfach in ein loderndes Feuer und holte sie weiß und glänzend wieder heraus.
Über Karl den Großen geht die Geschichte, er habe einige „Barbaren“, die bei ihm zu Gast gewesen seien, von seinen „übernatürlichen Kräften“ überzeugt, indem er ein Tischtuch aus Asbest ins Feuer geworfen und es unversehrt wieder herausgeholt habe. Geschäftstüchtige Kaufleute des Mittelalters verkauften sogar Asbestkreuze, deren Feuerbeständigkeit als Beweis dafür ausgegeben wurde, daß sie aus dem Holz des „wahren Kreuzes“ gemacht seien.
Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts war Asbest allerdings kaum mehr als ein Kuriosum. Das änderte sich mit dem Industriezeitalter. Im 19. Jahrhundert erkannte die Industrie, daß Asbest nicht nur feuerbeständig ist, sondern auch korrosionsbeständig und einen guten Isolator abgibt. Bald fand Asbest seinen Weg in Dachpappe, Deckenplatten, Fliesen, Isolationsmaterial, Betonmischungen, Betonrohre, Asphalt, Bühnenvorhänge, Bremsbeläge und sogar in Filter. Schließlich waren rund 3 000 Verwendungszwecke gefunden.
Es dauerte nicht lange, und Asbest bildete die Grundlage für eine weltweit blühende Industrie. Große Vorkommen wurden im Ural, in den italienischen Alpen, in Vermont (Vereinigte Staaten) und in Südafrika entdeckt. Bis Mitte der 1970er Jahre hatte sich die Weltjahresproduktion auf über fünf Millionen Tonnen gesteigert.
Der furchtbare Preis
Der meteorhafte Aufstieg blieb jedoch nicht ohne düstere Vorzeichen. Ja schon vor etwa 19 Jahrhunderten hatte der römische Historiker Plinius beobachtet, daß die Arbeiter in den Asbestminen anscheinend Atemprobleme hatten. Das war allerdings nur die erste von vielen warnenden Stimmen.
Anfang des 20. Jahrhunderts stellten europäische Ärzte fest, daß Asbestarbeiter an Erkrankungen der Atemwege starben. Bereits 1918 lehnten einige Versicherungen, denen die ungewöhnlich kurze Lebenszeit von Asbestarbeitern aufgefallen war, es ab, diese zu versichern. In den 30er Jahren ergaben Leichenöffnungen, daß es wirklich tödlich sein kann, wenn man dem Asbest intensiv ausgesetzt ist. Die winzigen, nadelförmigen Kristalle vieler Asbestarten können in die Lunge gelangen oder sogar bis in die Bauchhöhle, wo sie dann bleiben und manchmal erst nach Jahrzehnten eine Erkrankung auslösen. Zu den häufigeren mit Asbest in Verbindung stehenden Krankheiten gehören:
Asbestose: das häufigste Leiden, besonders bei denen, die dem Asbest lange Zeit ausgesetzt sind; ein Vernarben des Lungengewebes, wodurch die Lunge langsam erstarrt und die Lungenbläschen in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Asbestose verursacht Atemnot und macht die Lunge anfällig für Infektionen wie Lungenentzündung und Bronchitis, die wiederum für Menschen in diesem Zustand noch gefährlicher sind. Asbestose ist unheilbar und kann tödlich sein.
Lungenkrebs: ebenfalls sehr häufig; kostet mehr Menschen das Leben als Asbestose. Interessanterweise steigt die Wahrscheinlichkeit von Lungenkrebs sprunghaft an, wenn zu dem Kontakt mit Asbest auch noch das Rauchen kommt, und zwar auf einen weit höheren Wert als einfach nur die Addition der beiden Einzelrisiken.
Mesotheliom: eine seltene, aber äußerst tödliche Krebsform. Es greift die Körperhöhlenauskleidung an und kann sogar schon nach kurzer Asbestexposition auftreten. Unter Umständen dauert es 40 Jahre, bevor es zum Ausbruch kommt.
Gemäß dem International Journal of Health Services wird Asbest in der Zeit zwischen 1986 und dem Jahr 2000 allein in den Vereinigten Staaten an dem frühen und qualvollen Tod von zwei- bis dreihunderttausend Menschen schuld sein. Das entspräche der Anzahl der US-amerikanischen Soldaten, die in den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs starben.
Überreaktion?
Eine Reihe von Wissenschaftlern sprechen allerdings in Verbindung mit der Gefährdung durch Asbest von einer starken Überreaktion. Sie sind der Meinung, einige Wissenschaftler hätten die Gefahren übertrieben und eine weitverbreitete „Faserphobie“ ausgelöst, die mehr Schaden angerichtet als Gutes bewirkt habe.
Brooke Mossman vom medizinischen Institut der Universität Vermont hat beispielsweise zusammen mit ihrem Team von Wissenschaftlern einen Report erarbeitet, der in der Zeitschrift Science erschienen ist. B. Mossman und ihre Kollegen kritisieren, daß riesige Summen für die Asbestbeseitigung aus Bürogebäuden und Schulen ausgegeben wurden, wobei man oftmals gegen praktisch harmlos niedrige Asbestbelastungen vorgegangen sei.
Ja dem Team zufolge ist im Innern einiger Gebäude, die für eine Asbestsanierung vorgesehen sind, sogar weniger Asbest in der Luft als draußen. Statistiken werden angeführt, aus denen hervorgeht, daß Kindern eine viel größere Gefahr beim Radfahren oder durch einen verirrten Blitz droht als durch solch niedrige Asbestkonzentrationen. Abgesehen davon sind viele Asbestsanierungen überhastet angegangen und schlampig ausgeführt worden, so daß in den Gebäuden die Asbestkonzentration durch Aufwirblung des Staubes noch angestiegen ist. In solchen Fällen wäre es sicherer gewesen, den Asbest einfach dort zu lassen, wo er ist, und ihn zu versiegeln.
Die Gesetze der meisten europäischen Länder tragen außerdem der Tatsache Rechnung, daß nicht alle Arten des Minerals nadelförmige Fasern aufweisen. Serpentinasbest (Weiß- oder Chrysolithasbest) besteht aus längeren, eingedrehten Fasern, die von der Lunge leichter eingefangen und wieder hinausbefördert werden können. Etwa 95 Prozent des weltweit produzierten Asbests gehören zu dieser Art. Dagegen wird Hornblendenasbest (Blau- oder Amphibolasbest), auf dessen Konto anscheinend die größte Anzahl der Mesotheliomfälle geht, relativ selten verwendet.
B. Mossman und ihre Kollegen lehnen auch die „1-Faser-Theorie“ ab — die Auffassung, daß schon eine einzige Faser tödlich sein könnte. Von allem andern einmal abgesehen, schließlich kommt Asbest in der Natur vor. Gemäß einem Science-Redakteur atmet jeder im Jahr rund eine Million Asbestfasern ein.
Doch nicht alle Wissenschaftler lassen sich durch diese Argumente beruhigen. Dr. Irving J. Selikoff, der 1964 eine wegweisende Studie über die Gefahren von Asbest durchführte, beharrt darauf, daß bereits geringe Asbestbelastungen gefährlich sein können. Und viele andere Wissenschaftler sind seiner Meinung. Besonders die Schulgebäude machen ihnen Sorgen. Nach ihrer Auffassung ist es wertlos, in solchen Gebäuden lediglich den Asbestgehalt der Luft zu messen, da es nur ganz spezielle punktuelle Asbestquellen wie isolierte Rohre und Kessel sind, die eine Gefahr darstellen. Neugierige oder herumtobende Kinder können diese Quellen schnell finden und aufstören. Hausmeister oder Schulverwalter sind dem Asbest möglicherweise auf Dauer ausgesetzt.
Auch in der Frage, inwieweit Serpentinasbest eine Gefährdung darstellt, ist man sich uneins. Bei einer internationalen Konferenz von Wissenschaftlern im Frühjahr 1990 wurde in einer Reaktion auf B. Mossmans Science-Artikel gesagt, Serpentinasbest sei genauso gefährlich wie andere Arten. Manche gehen noch weiter und behaupten, daß Wissenschaftler, die die Gefahren von Asbest herunterspielen, von der Asbestindustrie gebraucht würden. Sie bezahle einige dieser Fachleute, damit sie vor Gericht für sie aussagten.
Faktor Habsucht
Solche Anschuldigungen, sofern sie zutreffen, brandmarken die Angeschuldigten als habsüchtig. Und Habsucht hat tatsächlich die Geschichte des Asbests in unserem Jahrhundert bestimmt.
Der Asbestindustrie wird himmelschreiende Habsucht vorgeworfen, weil sie ihre Arbeiter über die Gefahren im Umgang mit Asbest im dunkeln gelassen habe. In vielen Fällen wurden Asbesthersteller zu Schadensersatzleistungen verurteilt, weil sie ihre Arbeitnehmer nicht über die Risiken aufgeklärt hatten. Und ungeachtet der ganzen Asbestdiskussion exportieren Asbestfirmen ihre Produkte weiterhin in Entwicklungsländer, die das Material noch nicht verboten haben — und wo Fabrikarbeiter nicht immer ausreichend geschützt werden.
Aber auch die Sanierungsunternehmen werden der Habsucht beschuldigt. Kritiker beanstanden die übertriebenen Preise, die oft zwischen 400 und 800 Mark pro Quadratmeter liegen, was gut das Hundertfache der Kosten des Asbesteinbaus sein kann. Außerdem wird von Korruption berichtet. Viele Sanierungsfirmen wurden der Beamtenbestechung überführt. Die Beamten hatten dann bei illegalen und gefährlichen Sanierungs- und Entsorgungspraktiken beide Augen zugedrückt. Um Geld zu sparen, haben korrupte Vermieter, wie berichtet wird, skrupellose Firmen beauftragt, den Asbest unsachgemäß zu beseitigen. Die angeheuerten Arbeiter haben oftmals keine Ahnung von den Gefahren ihrer Arbeit, arbeiten ungeschützt und haben Berichten zufolge Asbestabfälle illegal deponiert — sogar in Parks.
Asbest und wir
Doch neben all diesen düsteren Berichten gibt es auch Lichtblicke. Auf der ganzen Welt nimmt das Bewußtsein um die verschiedenen Gefahren des Asbests zu. Viele Regierungen schränken die Verwendung von Asbest ein oder veranlassen zumindest, daß Arbeiter, die mit dem Material zu tun haben, eine Schutzausrüstung tragen.
Was sollte man nun tun, wenn man Asbest im eigenen Heim oder am Arbeitsplatz vermutet? Erstens: Allein ein Labortest kann schlüssig zeigen, ob es sich wirklich um Asbest handelt. Zweitens: Nur keine Panik! Panik hat schon einige zu dem Versuch veranlaßt, den Asbest selbst zu beseitigen, was oft illegal ist und viel gefährlicher, als ihn an Ort und Stelle zu lassen. Bevor irgend etwas unternommen wird, sollte man einen Fachmann um Rat fragen. Nur eine seriöse Firma mit der Genehmigung zur Asbestsanierung sollte mit der Beseitigung oder Versiegelung (je nachdem, was erforderlich ist) beauftragt werden.
Wer nicht darum herumkommt, mit Asbest zu arbeiten, für den ist es — wie lästig das auch sein mag — unbedingt wichtig, eine Schutzausrüstung zu tragen und das Material feucht zu halten, damit die Fasern nicht in der Luft herumfliegen. Eine Studie in Ägypten ergab, daß von 405 Arbeitern nur 31,4 Prozent bei der Arbeit mit Asbest ihre Schutzausrüstung trugen.
Schließlich sollte man nicht rauchen. Bei einer amerikanischen Untersuchung fand man heraus, daß 34 Prozent der Asbestarbeiter Raucher waren, und das trotz ihrer Besorgnis wegen der Krebsgefahr und der Tatsache, daß für Raucher die Wahrscheinlichkeit, sich eine Krankheit zuzuziehen, die mit Asbest in Verbindung steht, 50mal höher ist als bei Nichtrauchern.
Die Experten sind sich über das Ausmaß der Gefährdung und darüber, ob es überhaupt eine unbedenkliche Konzentration gibt, immer noch uneins. Möglicherweise werden sie weiter mit Statistiken und Studien gegeneinander zu Felde ziehen, bis zu dem Tag, an dem der Mensch endlich aufhört, „die Erde [zu] verderben“ und ihre Ressourcen zu mißbrauchen (Offenbarung 11:18). Doch bis dahin wäre es vielleicht ratsam, lieber etwas übervorsichtig zu sein.
[Bild auf Seite 12]
Typische Asbestverarbeitung mitsamt Dekontaminationsräumen. Von links nach rechts: 1. Arbeitsbereich; 2. Materiallager; 3. Luftschleuse; 4. Dusche; 5. Luftschleuse; 6. Reinbereich.