Der Tag, an dem es Sand und Asche regnete
Von unserem Korrespondenten auf den Philippinen
DER 15. Juni 1991, ein Samstag, war ein Tag, den die meisten Bewohner von Zentralluzon nicht so schnell vergessen werden. Es mag zwar unglaublich erscheinen, aber an diesem Tag regnete es Sand und Asche auf die saftgrünen Hänge und Reisterrassen der philippinischen Provinzen Pampanga, Tarlac und Zambales. Was an jenem Tag geschah und wie sich das Naturereignis auf die mehr als 2 Millionen Einwohner der Region auswirkte, in der auch etwa 2 900 Zeugen Jehovas leben, war herzzerreißend und faszinierend zugleich.
Es waren nur wenige Opfer zu beklagen, weil Vulkanologen die Tätigkeit des Pinatubo beobachtet hatten und rechtzeitig warnen konnten. Tausende der dort lebenden Ureinwohner vom Stamm der Aeta hatten die Berghänge vor den stärksten Ausbrüchen verlassen, und alle Bewohner im Umkreis von 20 km wurden aufgefordert, in anderen Landesteilen Zuflucht zu suchen. Nur zwei Tage vor dem ersten großen Ausbruch am 12. Juni hatte die US-Luftwaffe den Großteil ihres Personals vom Luftwaffenstützpunkt Clark am Fuß des Pinatubo zum Marinestützpunkt unweit der Stadt Olongapo evakuiert. Das war das größte Unternehmen dieser Art seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Geologe Richard J. Purser zollte dem Warnungsdienst ein uneingeschränktes Lob, als er sich in einem offenen Brief an das philippinische Volk wandte: „Das PHIVOLCS [Philippinisches Institut für Vulkanologie und Seismologie] hat bis jetzt einen hervorragenden Dienst geleistet, und die Anweisungen sind klar, vernünftig und wissenschaftlich korrekt gewesen.“
Augenzeugenbericht
Esther Manrique, eine Vollzeitpredigerin der Zeugen Jehovas aus Subic (Zambales), ungefähr 30 km vom Pinatubo entfernt, erzählte, was sich in den Tagen ereignete, als der Aschenregen niederging: „Alles begann am Mittwoch, dem 12. Juni, morgens. Auf dem Weg in den Predigtdienst sahen wir, daß die meisten Leute ein erstaunliches Naturschauspiel beobachteten. Ein gewaltiger Rauchpilz wie bei einer Atombombenexplosion stieg über dem Vulkan Pinatubo auf. Nach einigen Minuten begann es zu regnen — doch es war kein Regen, sondern mit Sand vergleichbare Asche.
Am Donnerstag regnete es wieder Sand. Am Freitag nachmittag gegen 14 Uhr wurde es plötzlich finster, und in der ganzen Gegend gingen Sand und Schlamm nieder. Arbeiter und Schulkinder wurden umgehend nach Hause geschickt. Alle, die sich ohne Schirm hinausgewagt hatten, sahen zufolge des Sand- und Schlammregens wie wandelnde Steine aus.“
Am Samstag früh gegen 7 Uhr verfinsterte sich der Himmel erneut — diesmal für etwa eine Stunde. Celestino Layug aus Porac (Pampanga) berichtete von einem Phänomen, das er am Abend beobachtet hatte: „Solche Blitze wie am Samstagabend habe ich noch nie gesehen. Außer den üblichen Weiß- und Blauschattierungen bestimmten Rot und Rosa das Geschehen. Gleichzeitig waren wiederholt Erdstöße zu verspüren.“
Was war geschehen?
Der Geologe Richard Purser berichtete: „Hätte Hollywood das Drehbuch geschrieben, wäre wohl kaum jemand von der Wahrhaftigkeit der Ereignisse zu überzeugen gewesen: 10 gewaltige Eruptionen, 3 tektonische Erdbeben und ein starker Taifun — alles in einer einzigen Nacht! Ja, die Wirklichkeit kann ungewöhnlicher sein als eine erfundene Geschichte.“ Raymundo Punongbayan, der Leiter des PHIVOLCS, sagte in einem Fernsehinterview, er schätze, daß, gemessen an der Kratergröße, 2 Kubikkilometer Vulkanmasse in die Atmosphäre geschleudert wurden.
Wieviel Kraft war erforderlich, um diese gewaltige Masse in Bewegung zu setzen? Der Geologe Purser erklärte: „Die Energie, die erforderlich ist, um 2 Milliarden Kubikmeter (5 Milliarden Tonnen) im Durchschnitt 17,5 km hochzuschleudern, entspricht der Sprengkraft einer Atombombe von 25 Megatonnen (das 1 500fache der Hiroschima-Bombe).“
Natürlich ging der Aschenstaub nicht nur über den Philippinen nieder. Auf der anderen Seite des Südchinesischen Meeres meldeten Vietnam, Kambodscha sowie Singapur und Malaysia leichten Aschenregen. Selbst in China waren klimatische Auswirkungen zu spüren. „Meteorologen, die am Mittwoch in der offiziellen [chinesischen] Presse zitiert wurden, sprachen von Rauch, Asche und atmosphärischen Gasen, die das normale Wettergeschehen durcheinandergebracht und dem fruchtbaren Süden Trockenheit beschert hätten, dem Norden dagegen sintflutartige Regenfälle.“
Am 11. Juli sollte auf Hawaii eine lang erwartete Sonnenfinsternis zu beobachten sein. Der feine Staub in der Erdatmosphäre — eine Folge des Vulkanausbruchs — machte jedoch die Hoffnungen einiger Wissenschaftler zunichte. Donald Hall, Leiter des Instituts für Astronomie an der Universität von Hawaii, sagte: „Es ist doch jammerschade, daß der Vulkan ausgerechnet jetzt ausbrechen mußte, nachdem er über 600 Jahre untätig war. Mit dem Ausbruch hätte er auch noch ein oder zwei Wochen warten können.“
Auswirkungen und Hilfsmaßnahmen
Mindestens 18 kleinere und 2 größere Städte in unmittelbarer Nähe des Pinatubo wurden von dem anhaltenden Aschen- und Sandregen betroffen. Tausende von Gebäuden, darunter 8 Königreichssäle der Zeugen Jehovas, wurden stark beschädigt, als die Dächer unter dem Gewicht der Sandmassen nachgaben. Außerdem verursachten Wassermassen, die durch einen Taifuna aufgepeitscht wurden, beträchtliche Schäden. Die Staatspräsidentin der Philippinen, Corazon Aquino, erklärte am 22. Juli in ihrem Bericht zur Lage der Nation: „Der Ausbruch des Pinatubo war der schlimmste in diesem Jahrhundert. ... Die Eruption wirkte sich verheerend aus: Unsere Landwirtschaft verlor 80 000 Hektar fruchtbares Ackerland; Handel und Gewerbe von mindestens drei Provinzen sind zerstört. ... Die Katastrophe war von derartiger Gewalt, daß der größte Militärstützpunkt im Pazifik völlig lahmgelegt wurde.“
Tausende — auch Hunderte von Zeugen Jehovas — mußten aus der Gefahrenzone fliehen und ihre Wohn- und Arbeitsstätten zurücklassen. Als die ersten Hilferufe am 15. Juni spätabends im Zweigbüro der Watch Tower Society eingingen, wurden in nahe gelegenen Königreichssälen und in zwei Kongreßsälen Hilfszentren eingerichtet. Am Montag, dem 17. Juni, verließen morgens zwei Gruppen von Zeugen das Zweigbüro, um sich in dem verwüsteten Gebiet einen Überblick über die entstandenen Schäden zu verschaffen. Nach Eingang der Berichte am darauffolgenden Tag wurden reisende Aufseher angewiesen, die betroffenen Zeugen aufzusuchen und sie mit Nahrungsmitteln, Wasser und Arznei zu versorgen. Unterdessen trafen im Zweigbüro Gelder ein, die von Zeugen aus Groß-Manila und aus anderen nicht von dem Ausbruch betroffenen Landesteilen stammten. Außenstehende beobachteten diese Hilfsmaßnahmen. Jemand sagte: „Ihr Zeugen seid wirklich aufmerksam und reagiert sofort.“
Lahars — eine ständige Gefahr
Die Bevölkerung von Zentralluzon nahm schnell einen neuen Begriff in ihren Wortschatz auf: Lahar, womit ein Schlammstrom mit einem hohen Anteil vulkanischen Gesteins gemeint ist. Im Bereich des Pinatubo entspringen mindestens 13 Flüsse. Der Berg ist zwar nicht sehr hoch — nur etwa 1 760 m —, doch wenn 2 Milliarden Kubikmeter Sand und Asche auf die Abhänge niedergehen, wirkt sich das für die Gebiete entlang den Flüssen natürlich verhängnisvoll aus. Am Samstag, dem 15. Juni, dem Tag des größten Ausbruchs, hatten Schlammlawinen bereits Porac, Guagua, Bacolod und die Stadt Angeles erreicht. Der Lahar, der sich im Flußbett des Abacan talwärts wälzte, zerstörte in Angeles drei Brücken und machte die Autoschnellstraße unpassierbar. In Bacolod drang der Schlamm in Hunderte von Wohnungen und auch in den Königreichssaal der Zeugen Jehovas ein. Bis Ende Juli waren über 36 000 Wohnungen zerstört und etwa 61 000 beschädigt, wobei noch kein Ende abzusehen war.
Denkt man an die gewaltigen Verwüstungen in dem betroffenen Gebiet und an die Gefahr einer erneuten Katastrophe, so verdient die Gelassenheit der Filipinos angesichts einer derartigen Krise ein uneingeschränktes Lob. In einem Leitartikel des Manila Bulletin vom 29. Juni 1991 hieß es: „Obwohl niemand den Ausbruch des Pinatubo erwartet hatte, bewiesen die Bewohner der betroffenen Gegend, die staatlichen Organe und die Öffentlichkeit, daß sie in der Lage waren, die schwierige Situation zu meistern. Wie bei dem letzten Erdbeben war auch jetzt wieder zu beobachten, daß unser Volk fähig ist, mit Unglücksschlägen fertig zu werden. Wir können seinen Mut und seine Seelenstärke nur bewundern.“
[Fußnote]
a Auf den Philippinen nannte man diesen Taifun Diding. Er raste am 15. Juni mit einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern über Zentralluzon.
[Karten auf Seite 15]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
PHILIPPINEN
China
[Karte]
PHILIPPINEN
Pinatubo
Olongapo
Manila
Südchinesisches Meer
[Bilder auf Seite 16]
Dächer von Königreichssälen gaben unter dem Gewicht von Asche, Sand und Regen nach