Ein Alkoholiker in der Familie
„Zum Alkoholismus gehören auch Alkoholiker ... In der Familie gibt es vielleicht einen Alkoholiker, aber die ganze Familie leidet unter dem Alkoholismus“ (Dr. Vernon E. Johnson).
DIE fünfjährige Alice mußte im Bett liegen. In ihrem Bein, das sie zwei Tage zuvor komplett in Gips bekommen hatte, jagte ein pochender Schmerz. Der Gips saß zu eng, und das Bein schwoll unter dem Druck an. Alice flehte ihre Eltern an, sie zum Arzt zu bringen, doch ihr Vater hatte einen schlimmen Kater, und ihre Mutter war zwischen beiden hin und her gerissen, unsicher, wer ihre Aufmerksamkeit mehr benötigte.
Innerhalb weniger Tage wurde Alices Bein taub. Eine schwarze Flüssigkeit begann von ihrer Zehe zu tropfen. Endlich brachten ihre Eltern sie ins Krankenhaus. Als der Gips abgenommen wurde, fiel eine Krankenschwester beim Anblick des Beins in Ohnmacht. Alices Bein mußte wegen des Gangräns, das sich entwickelt hatte, abgenommen werden.
Alkoholismus und Co-Abhängigkeit
Die Tragik dieses Falles geht über den Verlust eines Gliedes weit hinaus. Alices Vater war Alkoholiker. Als solcher stand er weder buchstäblich noch emotionell zur Verfügung, als seine Tochter ihn dringend brauchte. „Die Natur des Alkoholismus fordert von dem Alkoholiker, seine Familie hintenanzustellen — nach dem Alkohol und allem, was dieser verlangt“, erklärt der Berater Toby Rice Drews.
Was war mit Alices Mutter? Auch sie war abhängig — nicht vom Alkohol, sondern von ihrem alkoholsüchtigen Mann. Die nichtabhängige Ehefrau wird typischerweise vollständig von ihren Bemühungen in Anspruch genommen, gegen das Trinken des Alkoholikers anzukämpfen oder zumindest mit seiner Unberechenbarkeit fertig zu werden.a Sie geht so völlig in dem Problem des Alkoholikers auf, daß sie die gleichen Abhängigkeitsmerkmale entwickelt — aber ohne Alkohol. Aus diesem Grund werden Menschen wie Alices Mutter auch Co-Abhängige genannt.
Sowohl der Alkoholiker wie der Co-Abhängige werden unwissentlich von etwas von außen Kommendem beherrscht. Beide unterliegen einem Verleugnungsprozeß. Beide stehen ihren Kindern emotionell nicht zur Verfügung. Beide sind in einem Leben der Enttäuschung und Verbitterung gefangen, denn so, wie der Alkoholiker sein Trinken nicht unter Kontrolle bekommt, so bekommt der Co-Abhängige den Alkoholiker nicht unter Kontrolle, und keiner von beiden kann die Auswirkungen kontrollieren, die der Alkoholismus auf ihre Kinder hat.
Doch es gibt Hilfe für den Alkoholiker und seine Familie. Darüber werden die folgenden Artikel sprechen.
[Fußnote]
a In unserer Abhandlung sprechen wir zwar von dem Alkoholiker als von einem Mann, aber die dargelegten Grundsätze finden auch bei Alkoholikerinnen Anwendung.