Junge Leute fragen sich:
Warum sind die Großeltern zu uns gezogen?
BISHER hast du ein Zimmer für dich allein gehabt. Jetzt mußt du es mit deinem Bruder oder deiner Schwester teilen. Bisher konntest du Freunde einladen. Jetzt geht das nicht mehr, weil sie „zu laut“ sind. Bisher hattest du genug Zeit für das, was dir Spaß macht. Jetzt wird ein Großteil dieser Zeit von familiären Pflichten beansprucht. Bisher waren deine Eltern ausgeglichen und ansprechbar. Jetzt sind sie gereizt und ungeduldig. Ja, deine Großeltern sind zu euch gezogen, und nichts ist mehr so wie vorher.
Nicht, daß du deine Großeltern nicht liebst. Doch es mag nicht immer einfach sein, mit ihnen auszukommen. Du ertappst dich dabei, daß du die Geduld verlierst und dich über relativ unbedeutende Dinge aufregst. Eine Jugendliche namens Victoria drückte das so aus: „Ältere Menschen haben so ihre Eigenarten. Meine Oma bittet mich zum Beispiel, ihr eine Fußbank zu bringen, obwohl ihr Rollstuhl Fußstützen hat. Oder ich komme müde nach Hause und möchte mich einen Moment hinlegen, aber sie will sich statt dessen mit mir unterhalten. Während wir versuchen fernzusehen, redet sie ununterbrochen auf uns ein. Schaut sie sich etwas im Fernsehen an, bringt sie sämtliche Einzelheiten durcheinander, und wir müssen ihr dann alles erklären.“
Wenn deine Großeltern oder einer von ihnen zu euch gezogen ist, wirst du wahrscheinlich persönlich einiges an Spannungen und Durcheinander erleben. Aber nur keine Panik — eure Familie fällt nicht auseinander. Sie paßt sich lediglich an eine schwierige Situation an. Und du kannst viel für dein Glücklichsein und deinen Herzensfrieden tun, indem du 1. deine familiären Pflichten verstehst und akzeptierst und 2. für deine Eltern und Großeltern echtes Mitgefühl entwickelst (1. Petrus 3:8).
Eine christliche Verpflichtung
Eure Familie steht mit ihrer Situation nicht allein da. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel erhalten die meisten alten Menschen in gewissem Maße Hilfe und Unterstützung von ihren erwachsenen Kindern. Relativ wenig Ältere werden in Einrichtungen wie beispielsweise ein Pflegeheim gebracht.a In dem Buch The Intimate Environment schreibt Arlene S. Skolnick: „Die allermeisten alten Menschen haben regelmäßig Kontakt zu ihren Kindern, sehen sie oft und wenden sich an sie, wenn sie vor Schwierigkeiten stehen.“
Es ist nur natürlich, sich seinen Eltern gegenüber verpflichtet zu fühlen, aber Christen fühlen sich noch mehr Gott gegenüber verpflichtet. Der Apostel Paulus erklärte: „Wenn aber irgendeine Witwe Kinder oder Enkel hat, so laß diese zuerst lernen, in ihrem eigenen Hause Gottergebenheit zu pflegen und ihren Eltern und Großeltern beständig eine gebührende Vergütung zu erstatten, denn das ist in Gottes Augen annehmbar. Bestimmt hat jemand, der für die Seinigen und besonders für seine Hausgenossen nicht sorgt, den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger“ (1. Timotheus 5:4, 8; vergleiche Markus 7:10-13). Hast du bemerkt, daß Kinder und Enkel aufgefordert werden, zusammen für die Ihrigen zu sorgen?
Jesus Christus gab in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Als er eines qualvollen Todes am Marterpfahl starb, dachte er nicht nur an sich, sondern sorgte für seine älter werdende Mutter, indem er seinen Cousin Johannes beauftragte, sich um sie zu kümmern. Obwohl Johannes als ein Apostel wichtige Verpflichtungen hatte, nahm er Jesu Mutter „von jener Stunde an“ in sein eigenes Heim (Johannes 19:26, 27).
Es ist somit die Verantwortung und das Vorrecht eines Christen, seine Eltern zu ehren (Epheser 6:2). Eltern werden nicht allein gelassen, weil sie alt geworden sind oder besondere Pflege brauchen (Sprüche 23:22). Außerdem fordert uns die Bibel auf, Ältere wegen ihrer Weisheit und Erfahrung mit Respekt zu behandeln (3. Mose 19:32; Sprüche 16:31). Jehova selbst handelt mit älteren Menschen gütig und gebraucht sie weiter in seinem Dienst. (Vergleiche Joel 2:28; Apostelgeschichte 2:17.)
„Ich dachte nicht, daß es so hart sein wird“
Angesichts all dessen verstehst du vielleicht besser, warum deine Eltern deine Großeltern gefragt haben, ob sie zu euch ziehen wollen. Anfangs hast du bestimmt versucht, allem gegenüber optimistisch oder zumindest aufgeschlossen zu sein. Dir war klar, daß es für dich einige Änderungen bedeuten würde — oder sogar einige Opfer. Aber du bist immer gut mit deinen Großeltern ausgekommen und warst überzeugt, daß das Verhältnis zwischen ihnen und dir weiterhin so gut bleiben würde. Doch jetzt, nachdem sie zu euch gezogen sind, stellt sich die Situation als viel schwieriger dar, als du dir es je vorgestellt hast.
Das ist ziemlich häufig so. In vielen Ländern wohnen üblicherweise drei Generationen — Großeltern, Eltern und Kinder — zusammen unter einem Dach. Für Kranke, Gebrechliche oder Behinderte zu sorgen ist dort Teil der Kultur und wird nicht als übermäßige Härte betrachtet. Doch in der westlichen Welt, wo die Familien im allgemeinen in ihren eigenen vier Wänden leben, wird es oft als größere Störung empfunden, wenn ältere Menschen mit einziehen. Du kannst jedoch sicher sein, daß du nicht der einzige bist, dessen Leben auf den Kopf gestellt worden ist. Ja, es ist sehr gut möglich, daß die Situation für deine Eltern und deine Großeltern viel schwieriger ist als für dich.
Die Belastungen für deine Eltern
Denke zuerst an deine Eltern. Was meinst du: Wie würdest du dich fühlen, wenn du beobachten müßtest, wie deine Eltern alt werden und körperlich, geistig und emotional immer mehr abbauen? Wie würde es dich berühren, wenn die Menschen, von denen du abhängig warst und auf die du dich gestützt hast, immer unselbständiger werden? Wäre das für dich nicht eine Qual, etwas, was dir sehr zu Herzen gehen würde? So kannst du dir vorstellen, was deine Eltern empfinden, wenn genau das mit ihren Eltern geschieht. Verständlicherweise wirken sie daher manchmal traurig oder gereizt.
Auch mag für deine Eltern der Umgang mit deinen Großeltern nicht immer einfach sein. Ältere Menschen behandeln nicht selten ihre erwachsenen Kinder wieder wie Kleinkinder. (Mit anderen Worten, du bist nicht der einzige, dem gesagt wird, er solle ruhig sein.) Einige alte Menschen neigen dazu, über ihre Pflege zu klagen — und machen mitunter sehr pflichtbewußten Kindern den Vorwurf, sie würden sie vernachlässigen. Manche können es auch nicht lassen, ihre Ansicht über die Kindererziehung zu verkünden und ihren erwachsenen Kindern vorzuwerfen, sie seien zu streng oder zu nachgiebig. Deinen Eltern ist wahrscheinlich bewußt, daß deine Großeltern es nicht böse meinen. Aber nachdem sie schon so viel für sie geopfert haben, nehmen sie ihre Kritik eventuell ziemlich übel. Und wenn sie als Reaktion auf die Kritik die Großeltern nicht ganz so liebevoll oder geduldig behandeln, machen sie sich möglicherweise selbst Vorwürfe und ärgern sich über sich selbst.
Vielleicht sind deine Eltern auch unglücklich über die Änderungen, die sie in ihrer Lebensweise vornehmen mußten. Bei der finanziellen Belastung mag die Schmerzgrenze erreicht sein. Arbeiten beide Eltern, so sind sie wahrscheinlich müde und erschöpft, wenn sie noch zusätzlich jemanden zu versorgen haben. Gleichzeitig müssen sie möglicherweise auf ihre früher gewohnte Entspannung und Erholung verzichten. Und das alles kann zu Spannungen in der Ehe führen, insbesondere wenn ein Elternteil das Gefühl hat, einen zu großen Anteil an der Last der Pflege zu tragen.
Das Los der Großeltern
Für deine Großeltern mag die Situation nicht viel weniger belastend sein. In der Bibel wird das Alter „die unglücklichen Tage“ genannt (Prediger 12:1-7). Und es ist wirklich ein Elend, miterleben zu müssen, wie die eigene Gesundheit immer mehr verfällt. Dazu kommt nun der plötzliche Verlust der vertrauten Umgebung. Die meisten älteren Menschen legen Wert auf ihre Privatsphäre und ihre Unabhängigkeit. In dem Buch The Intimate Environment werden zwei Fachleute mit den Worten zitiert: „Die meisten älteren Menschen möchten Liebe und Aufmerksamkeit von ihren Kindern erhalten, aber nicht notwendigerweise Geld, Obdach oder andere Hilfeleistungen. Tatsache ist, daß eine ganze Reihe lieber etwas für Kinder und Enkel tun, statt selbst auf der Empfängerseite zu sein.“
Es ist somit hart für deine Großeltern, ihre Unabhängigkeit einzubüßen — von denen abhängig zu werden, die einst von ihnen abhängig waren. Wundere dich daher nicht, wenn sie bisweilen etwas schwierig sind. Und nach vielen Jahren in den eigenen vier Wänden — in Ruhe und Frieden — fällt ihnen vielleicht das Zusammenleben mit ausgelassenen Jugendlichen nicht leicht. Laute Musik und lautstarkes Reden regt sie unter Umständen auf.
Eines ist klar: Die neue Situation ist für jeden eine Herausforderung. Doch andere christliche Familien stehen vor den gleichen Schwierigkeiten und kämpfen erfolgreich dagegen an. (Vergleiche 1. Petrus 5:9.) Der Schlüssel ist das Bemühen, in noch vollerem Maß die „Frucht des Geistes“ hervorzubringen und die „neue Persönlichkeit“ anzuziehen (Galater 5:22, 23; Epheser 4:24; Kolosser 3:13, 14). Statt auseinanderzubrechen, sollte die Familie noch stärker am selben Strang ziehen. In unserer nächsten Ausgabe werden einige Möglichkeiten besprochen, wie das machbar ist.
[Fußnote]
a Manchmal mag eine Pflege in einer entsprechenden Einrichtung notwendig sein. Doch sollten die Kinder ihre Eltern dann regelmäßig besuchen und sich, so gut es geht, um sie kümmern. Siehe Wachtturm vom 1. Juni 1987.
[Bild auf Seite 20]
Wenn deine Großeltern zu euch ziehen, kann deine Privatsphäre darunter leiden