Wenn eine Insel an Land geht
„NIEMAND ist eine Insel“, schrieb der im 17. Jahrhundert lebende Dichter John Donne. Das stimmt, aber selbst eine Insel bleibt nicht immer eine Insel. Die alte Inselstadt Tyrus ist ein Beispiel dafür. Alexander der Große erfüllte eine bemerkenswerte biblische Prophezeiung, indem er einen Damm zur Insel baute und deren stolze Stadt zerstörte. Während der Jahrhunderte wurde immer mehr Schlamm an den Damm geschwemmt, so daß die Insel schließlich zu einer Halbinsel wurde.
In Frankreich läuft die Insel Mont-Saint-Michel ebenfalls Gefahr, ihren Status als Insel zu verlieren. Sie liegt zwischen der Bretagne und der Normandie (zwei französischen Provinzen) und besteht aus einem kleinen Berg, auf dem eine festungsähnliche Abteikirche thront und an dessen Fuß sich ein Dorf befindet. Wie eine Pyramide ragt die Insel in der Bucht aus dem Wattenmeer heraus; seit Jahrhunderten zieht sie Besucher an. Seitdem ein Bischof Anfang des 8. Jahrhunderts angeblich eine Erscheinung des „heiligen“ Michaels hatte, strömen Pilger zu der Kirche und dem später erbauten Kloster. Aber die Zeit hat es mit der Insel nicht immer gut gemeint. Im Laufe der Jahrhunderte wurde sie vom Feuer verwüstet, in Kriegen erobert, in der französischen Revolution „stillgelegt“ sowie als Gefängnis benutzt, bis ihre Bauwerke schließlich im letzten Jahrhundert restauriert wurden, unter anderem der Kirchturm.
Lange Zeit schien das Meer der gefährlichste Feind der Insel zu sein. Manchmal wurde der Berg auch „Saint Michel in der Hand des Meeres“ genannt. Jahrhundertelang konnten Pilger bei Ebbe die Insel vom Festland aus zu Fuß erreichen, allerdings mußten sie sich vor tückischem Treibsand in acht nehmen. Die schnell ansteigende Flut war eine weitere Gefahr — die Leute pflegten zu sagen, daß die Flut so schnell herankomme wie ein galoppierendes Pferd.
Als größter Feind von Mont-Saint-Michel stellte sich jedoch das Land heraus, nicht das Meer. In den 1870er Jahren wurde ein 900 Meter langer Damm gebaut, der die Insel mit dem Festland verbindet. Seitdem wird die Bucht nicht mehr durch die Gezeiten saubergeschwemmt, sondern rund um den Berg sammelt sich Sand an. Heute umschließt nur noch eine besonders hohe Flut die schützenden Felsen. Es wird viel unternommen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, damit der berühmte Berg nicht wie Tyrus als Halbinsel endet — oder als ein bloßer Granitfelsen, der auf einem großen, ausgetrockneten Meeresstrand steht.