Der Guineawurm — Seine Tage sind gezählt
Von unserem Korrespondenten in Nigeria
ES IST wie immer heiß. Chinyere bindet ihr Baby auf ihren Rücken, nimmt zwei ausgetrocknete Flaschenkürbisse und schließt sich den anderen Dorfbewohnern an, die auf der staubigen Straße gehen. Ihr Weg zur einzigen Wasserstelle in jenem Gebiet — ein kleiner See — führt sie an von der Sonne versengten Feldern vorbei. Am See angekommen, geht sie wegen des schlammigen Ufers vorsichtig bis zu den Knien ins Wasser, um zu schöpfen.
Sie bemerkt zwar die Krokodile, die faul entweder im welken Schilf oder im Wasser liegen, doch sie hat keine Angst. Es verhält sich so, wie ein Mann am See sagt: „Wir lassen sie in Ruhe, und sie lassen uns in Ruhe.“
Diese Äußerung gilt allerdings nicht für andere Lebewesen im See. Chinyere kann sie nicht sehen; sie sind zu klein. Sie befinden sich im Wasser, das sie in ihre Wasserbehälter schöpft.
Der gefährliche Guineawurm
Chinyere kehrt in ihre strohgedeckte Lehmhütte zurück und gießt das Wasser in einen Tonkrug. Nachdem sich der Sand gesetzt hat, nimmt sie einen Schluck. Ein Jahr später fällt ihr an ihrem Unterschenkel etwas auf, was wie eine kleine Krampfader aussieht und sich auch so anfühlt. Aber es ist keine Ader. Aus einem winzigen Lebewesen, das in dem Wasser gewesen war, das sie getrunken hatte, ist ein dünner, 80 Zentimeter langer Guineawurm geworden.
Bald wird der Wurm eine schmerzhafte Blase auf der Haut verursachen. Platzt diese, kommt der cremefarbene Wurm jeden Tag einige Zentimeter mehr zum Vorschein. Nach zwei bis vier Wochen — es kann auch länger dauern — ist er vollständig herausgetreten. Chinyere wird die meiste Zeit arbeitsunfähig sein und schlimme Schmerzen haben. Möglicherweise gelangen Bakterien in die aufgeplatzte Blase und rufen Wundstarrkrampf, eine Blutvergiftung, Arthritis oder einen Abszeß hervor.
Chinyere leidet nur an einem einzigen Wurm, aber nicht selten ist ein Opfer von mehreren gleichzeitig befallen, von einem Dutzend oder sogar von noch mehr. Normalerweise treten sie aus den unteren Gliedmaßen heraus, doch manchmal wandern sie auch im Körper umher und zeigen sich unter der Haut anderer Körperteile, zum Beispiel am Kopf, auf der Brust oder auf der Zunge.
Doch dank einer internationalen Ausrottungskampagne ist der Wurm vielleicht bald besiegt. Gemäß der Weltgesundheitsorganisation gibt es heute weltweit weniger als drei Millionen Infizierte, die zumeist in Pakistan, in Indien und in 17 afrikanischen Ländern leben. Vor nicht ganz einem Jahrzehnt waren zehn Millionen infiziert. In Asien ist der Guineawurm nahezu ausgemerzt; es bestehen gute Chancen, daß er bis Ende 1995 in fast allen betroffenen afrikanischen Ländern ausgerottet sein wird.
Eine lange Geschichte
Schon seit alter Zeit wird die Menschheit vom Guineawurm geplagt, vor allem im Nahen Osten und in Afrika. In Ägypten fand man die Mumie eines 13jährigen Mädchens, in der ein verkalkter Wurm war. Leider waren ihr die Beine amputiert worden, wahrscheinlich wegen des Gangräns, das sich aufgrund der Guineawurm-Infektion ausgebreitet hatte.
In alten Schriften findet man reichlich Hinweise auf den Wurm. Der früheste Beleg ist ein ägyptischer Text. Darin wird beschrieben, wie der hervortretende Wurm mit Hilfe eines Stäbchens aufgewickelt wird. Im zweiten Jahrhundert v. u. Z. schrieb der Grieche Agatharchides von Knidos: „Die Menschen vom Roten Meer litten an vielen merkwürdigen und unbekannten Krankheiten, unter anderem an Würmern — kleine Schlangen —, die aus ihnen herauskamen und Arme und Beine zerfraßen, und wenn man die Würmer anfaßte, zogen sie sich zurück und rollten sich in den Muskeln zusammen, wo sie unerträgliche Schmerzen verursachten.“
Behandlung
Das Sprichwort „Vorbeugen ist besser als Heilen“ läßt sich bestimmt auf die Guineawurm-Infektion anwenden. Es gibt jedoch keine Heilung. Hat jemand Wasser getrunken, das mit der Larve des Wurms verseucht war, kann ein Arzt erst etwas unternehmen, kurz bevor der Wurm aus der Haut tritt, das heißt, bevor eine Blase entstanden ist. Dann kann ein geschickter Arzt den Parasiten manchmal entfernen, indem er etwa bei der Mitte des Wurms einen kleinen Einschnitt in die Haut macht. Mit einem Haken holt er ein Stück Wurm hervor, so daß es eine Art Schlinge bildet. Schließlich zieht er vorsichtig den Rest des Wurms heraus, was nach wenigen Minuten geschafft ist.
Wenn der Wurm von selbst heraustritt, wird es jedoch durch die Entzündung an der aufgeplatzten Stelle schwer, ihn problemlos zu entfernen. Am besten ist, der Betroffene folgt dem alten Brauch und wickelt den Wurm vorsichtig um ein Stäbchen. Man muß achtgeben, daß der Wurm nicht reißt. Wenn das geschieht, zieht sich der im Körper verbleibende Teil des Wurms zurück, und die Entzündung, die Schmerzen und die Infektion halten an.
Ärzte können nur wenig tun, ist der Guineawurm erst einmal im Körper seines menschlichen Opfers. Weitaus mehr kann indes unternommen werden, um den Parasiten außerhalb des menschlichen Körpers zu besiegen.
Den Guineawurm besiegen
Eine Möglichkeit ist, für sichere Wasserstellen zu sorgen, zum Beispiel für Ziehbrunnen, die von der Guineawurmlarve nicht verseucht werden können. Oder Dorfbewohnern wird beigebracht, Trinkwasser entweder abzukochen oder es mit Hilfe eines feinen Tuches zu filtern. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Seen mit einer Chemikalie zu behandeln, die für die Larven tödlich, für andere Tiere und Menschen aber harmlos ist.
In allen Ländern, wo die Krankheit noch endemisch ist, werden im Rahmen von Ausmerzungsprogrammen betroffene Dörfer ausfindig gemacht und wird den Einwohnern geholfen, einer Infektion vorzubeugen. Bisher wurden die Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Es scheint, daß die Tage des Guineawurms gezählt sind. Und kein einziger wird ihm nachweinen.
[Bild auf Seite 26]
Verseuchtes Wasser sollte erst getrunken werden, nachdem es abgekocht oder gefiltert wurde