Mich Gott zu nahen half mir bei der Bewältigung meiner Probleme
RELIGION interessierte mich nicht. Mir erschienen alle organisierten Religionen heuchlerisch. Sie riefen bei ihren Anhängern nichts als Intoleranz hervor. Die 60er Jahre gingen ihrem Ende entgegen. Ein amerikanischer Präsident war einem Attentat zum Opfer gefallen, und Tausende starben in einem Krieg in Vietnam. Die Welt war ein einziges Durcheinander. Mein eigenes Leben stand vor dem Zusammenbruch. Wie konnte da ein Gott existieren, der sich um mich und um alle anderen Menschen kümmerte?
Ich war 27 Jahre alt, verheiratet, hatte zwei kleine Kinder und arbeitete ganztags in einer Nervenklinik, als eine Nachbarin mit mir über die Bibel sprach. Ich war über mich selbst erstaunt, daß ich zuhörte. Sie sprach über die „letzten Tage“, wie sie es nannte. Das, was sie sagte, hörte sich für mich fremd an, und ich wollte mehr wissen. Sie gab mir das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt. Ich las es an einem Abend durch und schlug alle Bibeltexte nach, und anschließend fragte ich mich: „Sollte ich wirklich die Wahrheit gefunden haben?“
Wenn ja, dann tauchte ein Problem auf. Meine Eltern waren Juden, ich hatte einen jüdischen Mann, zwei kleine Kinder und jüdische Verwandte. Mir war klar, daß sie außer sich wären, wenn ich eine Zeugin Jehovas werden würde. Da ich meine Familie nicht grundlos verletzen wollte, mußte ich sichergehen. Also verschlang ich biblische Literatur. Nach einer Woche war ich davon überzeugt, daß es die Wahrheit war. Ich mußte einfach mehr darüber wissen; daher begann ich, mit Jehovas Zeugen zu studieren. Schon nach wenigen Wochen predigte ich jedermann. Es begeisterte mich, zu erfahren, daß Gottes Name Jehova lautet, daß er sich um mich und um alle anderen Menschen kümmert und daß es möglich ist, einmal ewig auf einer paradiesischen Erde zu leben. Am 12. Juni 1970 ließ ich mich taufen.
Wie vermutet, waren meine Angehörigen und die meines Mannes völlig fassungslos, und einige wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Mein Mann studierte im Laufe der Jahre immer wieder, doch er wurde nie ein Zeuge Jehovas, im Gegensatz zu unseren Kindern. Von Anfang an war es mein Wunsch, Vollzeitpredigerin zu werden und die gute Botschaft von Gottes Königreich von Tür zu Tür zu verkündigen. Allerdings wurden die Kinder älter, und ich hatte einen andersgläubigen Mann. Obwohl ich ganztags arbeitete, mußten wir aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten zweimal unser Zuhause aufgeben, und mehrmals wußten wir nicht, wo wir bleiben sollten. Das Leben war alles andere als einfach.
Einmal war die Hypothek, die wir auf unser Haus aufgenommen hatten, verfallen. Wir mußten das Haus an einem Sonntag mittag geräumt haben, hatten aber keine andere Bleibe. Ich unternahm alles mögliche, und am Samstag, dem Vortag, entschied ich mich morgens, gemäß den Worten Jesu aus Matthäus 6:33 zu handeln — zuerst das Königreich zu suchen und darauf zu vertrauen, daß Jehova für das Nötige sorgen würde. Also ging ich in den Predigtdienst. Ich weiß noch, daß ich aufgrund der nervenaufreibenden Situation weinen mußte, doch nach fünf Minuten ging es mir schon besser. Ich habe immer wieder festgestellt, wie positiv sich der Predigtdienst auf mich auswirkt; die eigenen Probleme werden in den Hintergrund gedrängt, und dank Jehovas Geist kann ich glücklich und produktiv sein und einen Sinn im Leben sehen. Als ich an jenem Tag nach Hause kam, wußten wir immer noch nicht, wohin wir gehen sollten, aber wenigstens fühlte ich mich besser.
Abends rief uns der Grundstücksmakler an, der sich um unsere Angelegenheit kümmerte. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, und er war so besorgt um uns, daß er uns eine vorübergehende Bleibe suchte, bis das Haus, in das wir einziehen sollten, fertiggestellt war. Am Sonntag halfen uns Mitzeugen beim Umzug. Drei Wochen lebten wir aus dem Koffer, bis wir schließlich in unser neues Haus einziehen konnten. Es war nicht einfach, doch Jehova sorgte für uns. Das gab mir Kraft und stärkte meinen Glauben. Die Worte König Davids aus Psalm 37:25 bestätigten sich: „Ein junger Mann bin ich gewesen, ich bin auch alt geworden, und doch habe ich keinen Gerechten gänzlich verlassen gesehen noch seine Nachkommen nach Brot suchen.“
Auch bei der Verwaltung der Familienfinanzen gab es Probleme. Manchmal mußte ich mich darum kümmern und die finanzielle Situation wieder in Ordnung bringen. Damals versuchte ich verzweifelt, unsere Ehe zu kitten, hauptsächlich aus Liebe zu Jehova und weil ich wußte, wie er die Einrichtung der Ehe betrachtet; außerdem hoffte ich tief im Innern, mein Mann würde sich ändern und die Wahrheit annehmen.
Der allgemeine Pionierdienst war ein ständiger Bestandteil meiner Gebete, und wann immer möglich, führte ich den Hilfspionierdienst durch.a Mir war bewußt, daß ich meine Kraft im Predigtdienst am sinnvollsten einsetzen konnte. Ich liebte Jehova und wollte ihm mit ganzer Seele dienen. Auch liebte ich die Menschen und wollte ihnen helfen. Aus eigener Erfahrung wußte ich, wie nützlich biblische Grundsätze sind und daß die Menschen die Königreichshoffnung brauchen. Ich hatte jedoch Angst, meine Familie würde finanziell nicht zurechtkommen, wenn ich meine Arbeit aufgeben würde. Es war schon schwer genug.
Als ich schrie, flüchtete der Sexualtäter
Dann geschah etwas, was mir die Zuversicht gab, daß Jehova immer für mich sorgen würde. Jemand brach bei uns ein und versuchte, mich zu vergewaltigen. Er überfiel mich im Schlaf und drohte, mich zu töten, falls ich schreien oder mich bewegen würde. Obwohl ich Todesängste ausstand, half mir Jehova, ruhig zu bleiben und geistesgegenwärtig zu reagieren, so daß ich beten und alle Möglichkeiten abwägen konnte. Ich wußte, was die Bibel über das Schreien in solch einer Situation sagt, doch ich dachte auch daran, daß der Einbrecher mich dann wahrscheinlich töten würde, daß meine Kinder aufwachen könnten und auch getötet werden würden. Ich sah im Geiste meine Todesanzeige und bat Jehova, er möge meine Kinder im Fall meines Todes beschützen. Trotzdem tat ich das, worauf die Bibel hinweist — ich schrie (5. Mose 22:26, 27). Der Sexualtäter ergriff die Flucht. In jener Nacht dachte ich wirklich, ich müßte sterben. Mehr denn je nahte ich mich Jehova.
Ich kündigte meine Arbeit und wurde 1975 allgemeiner Pionier. Diesen Dienst führte ich sechs Jahre durch, und mein Mann bezahlte tatsächlich alle Rechnungen. Leider bekam ich schon in jungen Jahren Diabetes; einmal war ich schwer krank. Um diese Phase durchzustehen, stützte ich mich noch mehr auf Jehova. Trotz der widrigen Umstände waren es die schönsten und produktivsten Jahre, die ich bis dahin erlebt hatte. Jehova segnete mich, denn ich konnte mit vielen Personen die Bibel studieren, die sich schließlich taufen ließen. Einige nahmen selbst den Pionierdienst auf.
Im Jahre 1980 geriet unser Leben aus den Fugen. Mein Mann und ich entfremdeten uns immer mehr voneinander. Meine Kinder waren völlig verzweifelt, daher versuchte ich, unsere Ehe zu retten; mein Mann ging jedoch nicht auf meine Bemühungen ein. Da wußte ich, daß es an der Zeit war, eine biblisch begründete Scheidung zu erwirken. Es wirkte sich verheerend auf meine Kinder aus, als ihr Vater sie verließ.
Damals versuchte ich mit allen Kräften, im Pionierdienst zu bleiben, was ich auch etwa ein Jahr lang schaffte. Meine Tochter, die mit der Situation nicht fertig wurde, begann sich gegen alles aufzulehnen, auch gegen mich und die Wahrheit. Deswegen schied ich aus dem Pionierdienst aus. Das war sehr deprimierend; meine Lebensader war durchtrennt worden. Ich fühlte mich so einsam, nichts blieb mir mehr, außer Jehova.
Etwa um diese Zeit schickte mir Jehova zwei liebevolle Brüder, die mir mehr halfen, als sie jemals wissen werden. Es handelte sich um einen Kreisaufseher und einen Ältesten aus einer anderen Versammlung, der unsere Lage kannte, weil er mit meinem Mann studiert hatte. Ich kann Jehova für diese Gaben in Form von Menschen gar nicht genug danken. Ich werde sie stets schätzen.
Kurze Zeit später heiratete meine Tochter, die noch sehr jung war, einen Andersgläubigen. Das spaltete unsere Familie, und unsere Verzweiflung war groß. Bald darauf zog auch mein Sohn aus. Ständig betete ich zu Jehova, er möge meiner Familie helfen, an der Wahrheit festzuhalten. Meine Kinder waren mir so kostbar, und mir ging es einzig und allein darum, daß sie treu blieben. Seitdem ich die Wahrheit kannte, war das ein ständiger Bestandteil meiner Gebete. Jene Zeit war für mich schwerer als die 20 Jahre Ehe — und die waren wirklich furchtbar gewesen. Doch ich wußte, daß Jehova uns irgendwie helfen würde und daß ich, koste es, was es wolle, seinen Willen tun mußte.
An einen Vorfall erinnere ich mich besonders gut. Ich war noch Pionier, und wir brauchten etwa 70 Dollar, um über die Woche zu kommen und um das Fahrgeld für die nächste Arbeitswoche zu bezahlen. Ich arbeitete zwei Tage in der Woche als Aushilfskraft. Gewöhnlich erhielt ich mein Geld — etwa 40 Dollar — nach etwa einer Woche. Wir konnten uns keine Nahrungsmittel kaufen, geschweige denn das Fahrgeld aufbringen. Am nächsten Abend hatte ich ein Bibelstudium mit einer Frau, die mir etwas Geld für die U-Bahn-Fahrkarte gab.
Der nächste Tag war ein Freitag. Ich holte die Post, die aus zwei Briefen bestand. In einem steckte der Scheck, den ich erst in der folgenden Woche erwartet hatte. Zu meinem Erstaunen wurde das Geld meinem Konto schon nach drei Tagen gutgeschrieben. Nun fehlten noch 29 oder 30 Dollar. In dem zweiten Umschlag fand ich einen Scheck über 29 Dollar, genau der Betrag, den ich brauchte! Das verblüffende dabei war, daß mir im Februar jenes Jahres ein Zuschuß gewährt worden war, um Öl zum Heizen des Hauses zu kaufen. Jetzt aber hatten wir August, und ausgerechnet in dem Monat wurde festgestellt, daß man mir noch 29 Dollar schuldete! Wieso meinte man überhaupt, mir noch Geld für Öl zu schulden, und das im August? Wie glaubensstärkend sich dieses Erlebnis auf mich auswirkte!
Materielle Dinge machen nicht glücklich
Ich nahm eine Ganztagsstellung an und lernte, am Computer zu arbeiten. Die Jahre, in denen ich kein Pionier war, waren hart. Obwohl ich einen ausgezeichneten Arbeitsplatz und keine finanziellen Sorgen hatte, war ich nicht glücklich. Meine Kinder führten ihr eigenes, problembeladenes Leben. Meine Tochter machte zwar Anstrengungen, zur Wahrheit zurückzukehren, hatte aber immer noch Probleme. Auch mein Sohn hatte Schwierigkeiten. Nach einiger Zeit merkte ich, daß ich mein enges Verhältnis zu Jehova, das ich überaus geschätzt hatte, langsam aufgab. Ich spürte, wie ich mich immer mehr von ihm zurückzog, auch wenn das kein anderer sehen konnte. Zwar besuchte ich alle Zusammenkünfte, ich studierte und ging in den Predigtdienst, doch das genügte nicht. Daraufhin versuchte ich, mehr Zeit mit Brüdern zu verbringen, aber das half auch nicht.
Ich hatte Selbstmitleid. Ich ging in mich und dachte über meine Lage nach. Hatte ich nicht etwas Besseres verdient? Offensichtlich war das genau die Art Gedanken, die Satan gutheißt. Zum ersten Mal fühlte ich mich zu meinen Arbeitskollegen hingezogen. Ich dachte mir: „Ich werde ihnen einfach predigen.“ Das machte ich auch. Aber ich wußte genau, daß mein Herz geflissentlich über Dinge hinwegsah, auf die es eigentlich hätte aufpassen sollen. Dieses Mal kamen die Probleme nicht von außen; es lag ganz allein an mir. Ich konnte vor meinem biblisch geschulten Gewissen nicht davonlaufen. Im Gebet wandte ich mich an Jehova.
Ich arbeitete ganztags. Daher hätte ich die finanzielle Sicherheit, die ich mir aufgebaut hatte, aufgeben müssen. Das Pendeln kostete mich täglich drei Stunden, ich mußte von Long Island in die Wall Street. Viel zuviel Zeit! Das Zusammensein mit zahllosen weltlich gesinnten Menschen in den Bahnabteilen half mir auch nicht gerade. Also sprach ich mit den Ältesten und besuchte an Wochenenden Kongresse, um mich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Warum sollte ich wieder kämpfen müssen, wo ich mir doch zum ersten Mal in meinem Leben keine Sorgen um Materielles zu machen brauchte? Nachdem ich mein Problem ein Jahr lang Jehova vorgetragen und mir sorgfältig überlegt hatte, ob ich mein Leben verändern sollte, tat ich genau das.
Ich zog in das Wohngebiet Brooklyn Heights. Zuvor hatte ich die dortige Versammlung besucht und gespürt, daß dort genau der Geist herrschte, den ich nötig hatte. So viele treue Zeugen, die schon viele Jahre im Vollzeitdienst standen — mir war, als käme ich nach Hause. Nach sechs Monaten war ich bereit, meine Karriere aufzugeben und Pionier zu werden. Ich nahm eine Halbtagsstellung an, und 1984 wurde ich wieder zum allgemeinen Pionier ernannt.
In all den Jahren hat Jehova mich nicht nur auf wunderbare Weise gesegnet, sondern er hat mir auch viele wertvolle Lektionen erteilt. Ich habe stets versucht, positiv zu denken und aus jeder Prüfung zu lernen. Man braucht sich nicht zu schämen, weil man Probleme hat; zur Sünde kommt es nur dann, wenn man versäumt, biblische Grundsätze zu befolgen, um die Probleme zu lösen. Hier in Brooklyn habe ich andere Probleme als in den Jahren, nachdem ich die Wahrheit kennengelernt hatte. Finanziell geht es mir gut; kein ungläubiger Mann macht mir Schwierigkeiten. Meine seelischen Wunden sind verheilt. In geistiger Hinsicht bin ich mit vielen Kindern gesegnet worden.
Es gibt jedoch immer neue Probleme und Herausforderungen. 1987 hatte mein Sohn Marc einen Nervenzusammenbruch und litt unter schweren Depressionen, doch Jehova hat uns über diese Zeit hinweggeholfen. Marc strengt sich nun an und macht in der Versammlung gute Fortschritte. Meine Tochter Andrea kehrte zur Wahrheit zurück, ließ sich taufen und erzieht ihre Kinder jetzt in der Wahrheit. Da die große Drangsal schnell näher rückt, ist zu erwarten, daß wir weiterhin Probleme — wahrscheinlich sogar noch größere — haben werden; Jehova wird allerdings immer dasein, um uns zu helfen, ganz gleich, auf welche Hindernisse oder Herausforderungen wir treffen.
Mit Jehovas Hilfe führe ich ein wirklich glückliches und produktives Leben. Ich möchte mich auch weiterhin fest an ihn halten und seinen Willen tun. (Von Marlene Pavlow erzählt.)
[Fußnote]
a Der Begriff „Pionierdienst“ zeigt an, daß jemand als Vollzeitprediger tätig ist.
[Bild auf Seite 23]
Marlene Pavlow, Vollzeitpredigerin der guten Botschaft vom Königreich