Junge Leute fragen sich:
Sind Tagträume verkehrt?
Das letzte, was du gerade noch wahrnimmst, ist die Stimme deines Lehrers, der algebraische Gleichungen heruntersagt, aber du bist schon nicht mehr im Klassenraum; du bist gedanklich am Strand, an dem ihr letzten Sommer Urlaub gemacht habt. Du fühlst den warmen Sand und die heiße Sonne auf der Haut. Du hörst, wie die Wellen ans Ufer klatschen, wie die Kinder spielen, wie ... wie deine Klassenkameraden kichern? Ja, ein verärgerter Lehrer reißt dich aus deinem schönen Traum und verlangt stirnrunzelnd die Antwort auf eine Frage, die du nicht mitbekommen hast.
TAGTRÄUMEN ist bei Jung und Alt so verbreitet, daß ein bekannter Forscher es als „Hauptbestandteil des menschlichen Lebens“ bezeichnete. Einige sind der Ansicht, bis zu einem Drittel des Wachzustandes sei in der einen oder anderen Form mit Tagträumen ausgefüllt. Wissenschaftler können weder genau sagen, warum und wie diese vorüberhuschenden Gedanken entstehen, noch sind sie sich über die genaue Begriffsbestimmung von Tagträumen einig. Ein Wörterbuch definiert Tagtraum als „ein angenehmes, unwirkliches ... Phantasiegebilde“. Etliche Forscher verstehen jedoch darunter praktisch alle im Wachzustand auftretenden Phantasien oder unwillkürlichen Gedanken — seien sie angenehmer oder unangenehmer Natur. In diesem Artikel werden wir über Tagträume im weitesten Sinn sprechen, also nicht nur über unwillkürliche Gedankenflüge, sondern auch über bewußte.
Nicht jeder Tagtraum ist daher ein außergewöhnlicher, erlebnisreicher Ausflug in die Welt der Phantasie. Viele denken einfach an etwas Schönes, was sie einmal erlebt haben. In einem Artikel der Zeitschrift Parents berichtet Dr. James Comer über seine eigenen Erfahrungen mit Tagträumen; wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause fährt, denkt er zum Beispiel daran zurück, wie er als Teenager bei einem Basketballspiel auf dem Schulhof den Siegestreffer erzielt hat. „Wahrscheinlich ist das völlig unwichtig, aber ich fühle mich gut dabei“, bemerkt er. Andere wiederum stellen sich in Tagträumen ihre Zukunft vor. „Oft träumte ich davon, ein international anerkannter Musiker zu sein“, erinnert sich ein Mann, der später tatsächlich ein bekannter Jazzmusiker und Komponist wurde.
Offensichtlich drehen sich die meisten Tagträume jedoch um Alltägliches — um die Schule, um Hausaufgaben oder um ein geselliges Beisammensein. Manchmal gibt man sich gern einem Tagtraum hin, vielleicht um einer langweiligen Schullektüre oder einer eintönigen Arbeit im Haushalt zu entkommen. Andere Tagträume ergeben sich spontan. Ein Wort, ein Geräusch oder ein Bild ruft uns plötzlich eine Sache in den Sinn, die uns zur Zeit beschäftigt, erinnert uns an ein angenehmes Erlebnis oder an etwas, was wir in der Zukunft vorhaben, und die Gedanken schweifen ab. In der Bibel heißt es: „Denn gewiß kommt ein Traum zufolge der Menge der Beschäftigung“ (Prediger 5:3). Wer vor allem mit persönlichen Angelegenheiten oder ehrgeizigen Zielen beschäftigt ist, könnte tatsächlich von materialistischen Tagträumen sozusagen aufgezehrt werden.
So angenehm Tagträume auch sein mögen, sie können deine Konzentration bei christlichen Zusammenkünften, in der Schule oder bei der Arbeit beeinträchtigen. Einige Phantasien sind womöglich sogar unangebracht oder schädlich. Ist das Tagträumen daher eine Gewohnheit, die du aufgeben mußt?
Gefährlich für deine geistige Gesundheit
Früher wurden Tagträume von Therapeuten, Ärzten und Erziehern als verächtlich abgetan. Einem jungen Mann wurde von einem Psychotherapeuten gesagt: „Wir müssen Ihnen helfen, mit dem Tagträumen zu brechen.“ Dem Forscher Dr. Eric Klinger zufolge stützte sich Rat dieser Art im allgemeinen auf die Theorien des sogenannten Vaters der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der Tagträume als neurotisch und kindisch betrachtete. In einem Lehrbuch für Psychologie wurde daher behauptet: „Tagträume resultieren häufig aus dem Versagen oder aus mangelndem Interesse an der Umgebung, und ganz gewiß stellen sie eine Flucht vor der Realität dar.“ Einer ganzen Generation von Erziehern und Therapeuten wurde beigebracht, Tagträume seien einzuschränken. Man meinte, exzessives Tagträumen könne sogar in Schizophrenie ausarten.
Die Freudschen Theorien wurden jedoch gründlich unter die Lupe genommen. In seinem Buch Daydreaming zählt Dr. Eric Klinger einige Behauptungen von Forschern auf:
Tagträume sind etwas Alltägliches und Normales.
Im Durchschnitt gesehen sind extensive Tagträumer nicht mehr und nicht weniger unnormal als andere.
Tagträume führen nicht zu Halluzinationen.
Tagträume führen nicht zu Schizophrenie. Schizophrene Menschen sind für Tagträume nicht anfälliger als andere.
Deine Phantasie sinnvoll gebrauchen
Es überrascht daher nicht, daß nirgends in der Bibel der sinnvolle Gebrauch der Phantasie verurteilt wird. Im Gegenteil, die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, beweist, daß wir — mit den Worten des Psalmisten gesprochen — „wunderbar gemacht“ sind (Psalm 139:14). Diese Fähigkeit kann eine wertvolle Hilfe sein, wenn wir sie auf produktive Weise einsetzen. Christen wird gesagt, ihren „Blick nicht auf die Dinge gerichtet [zu] halten, die man sieht, sondern auf die Dinge, die man nicht sieht“ (2. Korinther 4:18). Man könnte zum Beispiel versuchen, sich Gottes gerechte neue Welt auszumalen. Die Beschreibungen der Bibel über das zukünftige erdenweite Paradies regen unsere Phantasie an (Jesaja 35:5-7; 65:21-25; Offenbarung 21:3, 4).
Deine Phantasie kann dir auch nützlich sein, wenn du eine schwierige Aufgabe vor dir hast. Jungen Zeugen Jehovas wird oft eine Ansprache in der Theokratischen Predigtdienstschule aufgetragen. Versuche, diese nicht nur laut zu üben, sondern sie auch im Geist darzubieten. Überlege, wie die Zuhörer wohl auf den Stoff und auf die Art, wie du ihn darlegst, reagieren werden. So kannst du nötige Änderungen vornehmen und gewinnst an Sicherheit.
Ferner könntest du dir auch vorstellen, wie du in einer heiklen Situation vorgehst. Vielleicht hat ein Mitchrist etwas gegen dich, und du würdest gern mit ihm darüber reden (Matthäus 5:23, 24). Statt den Betreffenden völlig unvorbereitet anzusprechen, kannst du dir das Gespräch im Geist vorstellen und verschiedene Methoden durchspielen, wie man die Sache angehen könnte. Das wäre mit dem biblischen Grundsatz im Einklang: „Das Herz des Gerechten sinnt nach, um zu antworten“ (Sprüche 15:28).
Hat dich jemand beleidigt oder verärgert? Beachte den Rat aus Psalm 4:4: „Seid erregt, doch sündigt nicht. Sprecht euch aus in eurem Herzen auf eurem Bett, und bleibt still.“ Das bedeutet, sich weder die verletzende Szene immer wieder in den Sinn zurückzurufen noch sich in den buntesten Farben auszumalen, wie man es dem anderen heimzahlen könnte. Schließlich sagte Jesus warnend, daß „jeder, der seinem Bruder fortgesetzt zürnt“, oder „wer immer ... ein unaussprechliches Wort der Verachtung an seinen Bruder richtet“, „dem Gerichtshof Rechenschaft wird geben müssen“ (Matthäus 5:22). Wenn du im Geist die verschiedenen Möglichkeiten — unter anderem, dem Betreffenden einfach zu vergeben — durchspielst, hilft dir das, die Sache auf ruhige und vernünftige Weise zu bereinigen.
Auch bei der Lösung von Problemen mögen Tagträume eine berechtigte Rolle spielen. Dr. Klinger sagt: „Durch Tagträume ergeben sich kreative Lösungen für Probleme. Manchmal liefert die Phantasie Tagträumern eine Lösung, auf die sie nicht gekommen wären, wenn sie bewußt über das Problem nachgedacht hätten.“
Es ist sogar bewiesen worden, daß Tagträume einem helfen, körperliche Aufgaben zu bewältigen. Ein Skilehrer zum Beispiel fordert seine Schüler auf, sich einen Abfahrtslauf vorzustellen und zu überlegen, wie sie jede Kurve und Senke nehmen würden. Forscher sind der Ansicht, daß auf diese Weise tatsächlich der Teil des Gehirns aktiviert und vorbereitet wird, der die Muskeln kontrolliert. Natürlich gibt es keinen Ersatz für richtiges Üben; deine Phantasie kann dir jedoch helfen, beispielsweise ein Musikinstrument perfekter zu spielen oder besser Schreibmaschine zu schreiben. „Kurz gesagt sind Tagträume keine Zeitverschwendung, sondern eine nötige Entspannung, die uns hilft, besser zurechtzukommen“, sagt Dr. James Comer.
Die Gefahren
Eins ist klar: „Für alles gibt es eine bestimmte Zeit“ (Prediger 3:1). Es mag zwar schön sein, beim Entspannen in deinem Zimmer Tagträumen nachzuhängen, aber es gibt Momente, in denen sie unangebracht oder sogar gefährlich sind. Fährst du Auto? Dann mußt du besonders aufmerksam und umsichtig sein. Und was ist, wenn du eine Klassenarbeit schreibst oder einem biblischen Vortrag zuhörst? Dann solltest du ein „klares Denkvermögen“ bewahren (2. Petrus 3:1).
Die Bibel warnt uns auch davor, unnötigerweise negativen Gedanken nachzuhängen. Es ist ganz normal, vor einer wichtigen Klassenarbeit oder vor einem Vorstellungsgespräch etwas Angst zu haben, doch es wird dir wenig nützen, dir auszumalen, wie du versagst oder abgelehnt wirst. (Vergleiche Prediger 11:4.) „Angstvolle Besorgtheit im Herzen eines Mannes wird es niederbeugen“, heißt es warnend in Sprüche 12:25. Jesus Christus gab seinen Zuhörern den Rat: „Macht euch also niemals Sorgen um den nächsten Tag, denn der nächste Tag wird seine eigenen Sorgen haben. Jeder Tag hat an seinem eigenen Übel genug“ (Matthäus 6:34).
Interessanterweise kann übertriebenes oder unangebrachtes Tagträumen noch in anderer Hinsicht gefährlich sein. Manche Jugendliche zum Beispiel nähren dadurch sexuelle Phantasien. Andere stellen fest, daß Tagträume ihre Konzentration beeinträchtigen. Der nächste Artikel dieser Serie wird einige Hinweise liefern, wie man mit solchen Problemen fertig werden kann.
[Bilder auf Seite 24]
Sich im Geist eine Darbietung vorzustellen kann zu ihrer Verbesserung beitragen