Der Mut, Gott an die erste Stelle zu setzen
DAS Klingeln unseres Telefons um drei Uhr morgens hatte irgendwie etwas Beängstigendes an sich. Der Anrufer war ein Geschäftskollege Vatis, der gerade von einer Zusammenkunft der American Legion (Frontkämpferbund) kam. Er war völlig außer sich. „Wally“, schrie er meinen Vater an, „wenn du nicht sofort den Philadelphia Inquirer anrufst und noch vor dem Erscheinen der Morgenausgabe sagst, daß du die Fahne grüßt, wird heute dein Lebensmittelladen gestürmt und deine Familie vom Pöbel belästigt werden, aber ich bin dann nicht schuld!“ Meine Eltern hatten schon zuvor den Pöbel zu spüren bekommen. Nach diesem Anruf waren sie hellwach und fingen an zu beten.
Im Morgengrauen weckten sie uns sechs Kinder. Vati sagte meinem Bruder Bill, er solle die Jüngeren zu den Großeltern bringen. Danach halfen Bill und ich wie gewöhnlich bei der Hausarbeit und im Laden. Vati ging zum Polizeichef von Minersville und erzählte ihm von der Drohung. In kürzester Zeit fuhr ein Polizeiwagen vom Staat Pennsylvanien vor, parkte vor unserem Laden und bewegte sich den ganzen Tag nicht mehr von der Stelle. Wir gingen unserer Arbeit im Laden nach und warteten auf Kundschaft, behielten allerdings ständig den Bürgersteig im Auge. Immer wenn eine Gruppe von Leuten stehenblieb, bekamen wir Herzklopfen. Aber der Pöbel kam nicht. Vielleicht hatten sich die Leute in der Helligkeit des Tages — oder beim Anblick eines Polizeiautos — inzwischen abgeregt.
Wir lernen die Wahrheit kennen
Was hatte jedoch zu dieser heiklen Situation geführt? Es hing mit unserer Religion zusammen. 1931 — ich war sieben Jahre alt — wohnten Oma und Opa eine Zeitlang bei uns. Sie waren Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals hießen.
Opa gab Vati kein Zeugnis, aber immer wenn Oma und Opa nicht da waren, schlüpfte Vati in ihr Zimmer, um herauszufinden, was es mit der Literatur, die sie lasen, auf sich hatte. Er verschlang die Literatur förmlich! Noch heute klingt mir seine jubelnde Stimme im Ohr: „Hört mal, was die Bibel sagt!“ Die Wahrheit bereitete ihm große Freude. Mutti las die Literatur ebenfalls und trat 1932 aus der Methodistenkirche aus; dann wurde mit uns allen die Bibel studiert. Als ich von der herrlichen paradiesischen Erde hörte, war ich genauso aus dem Häuschen wie meine Eltern. Von da an war die Wahrheit mein Leben.
Gegen Ende des Jahres 1932 fragte Mutti mich, ob ich bereit wäre, von Haus zu Haus zu predigen. Damals ging jeder, ob jung oder alt, allein an die Türen. Wir gebrauchten dabei eine Zeugniskarte. Ich sagte also einfach: „Guten Morgen! Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Würden Sie das bitte lesen?“ Hatte ein Wohnungsinhaber die Karte gelesen und war er auch nur leicht ablehnend, brachte ich anfangs nicht viel mehr heraus als die Worte: „Okay, auf Wiedersehen!“
Bald setzte Widerstand ein. Im Frühjahr 1935 predigten wir in der Stadt New Philadelphia. Ich erinnere mich noch, daß ich mich mit einem Mann vor der Tür unterhielt, als die Polizei kam, um mich und die anderen mitzunehmen. Der Wohnungsinhaber war entsetzt, daß die Polizei auch mich — ein 11jähriges Mädchen — festnahm. Wir wurden zu einem zweigeschossigen Feuerwehrhaus gebracht. Dort hatten sich etwa 1 000 Menschen zu einem johlenden Pöbel zusammengerottet. Offensichtlich hatten die Kirchen an jenem Sonntag ihren Gottesdienst früher beendet, damit sich jeder an der Aktion beteiligen konnte. Als wir durch die Menge geführt wurden, boxte mich ein Mädchen in den Arm. Aber wir gelangten sicher in das Gebäude, und bewaffnete Wachen hielten den Pöbel davon ab, die Tür aufzubrechen.
Insgesamt waren wir 44; wir mußten im Feuerwehrhaus zusammengepfercht auf der Treppe sitzen. Die Stimmung war jedoch alles andere als trübselig; wir freuten uns, einige Zeugen aus der Versammlung Shenandoah zu treffen, die uns beim Predigen in der Stadt halfen. Dort lernte ich Eleanor Walaitis kennen, und wir wurden unzertrennliche Freundinnen. Wenige Stunden später ließ uns die Polizei gehen.
Die Fahnengrußfrage rückt in den Vordergrund
Auf dem bedeutsamen Kongreß der Zeugen Jehovas in Washington (D. C.) 1935 fragte jemand Bruder Rutherford, den Präsidenten der Watch Tower Society, ob Schulkinder die Fahne grüßen sollten. Er erwiderte, es sei ein Zeichen der Treulosigkeit gegenüber Gott, ein irdisches Symbol zu grüßen und ihm dadurch Rettung zuzuschreiben, und er sagte, er würde es nicht tun. Das beeindruckte Bill und mich. Wir sprachen darüber mit unseren Eltern und betrachteten 2. Mose 20:4-6, 1. Johannes 5:21 und Matthäus 22:21. Unsere Eltern drängten uns nie zu etwas und redeten uns nie ein schlechtes Gewissen ein. Als die Schule im September wieder begann, wußten wir sehr wohl, was wir tun mußten. Doch jedesmal, wenn unsere Lehrer in unsere Richtung schauten, hoben wir verschämt den Arm und bewegten die Lippen. Ich hatte Angst, meine Schulkameraden würden mich fallenlassen, wenn ich Stellung beziehen würde.
Aber als einige Pioniere zu uns zu Besuch kamen, erzählte ich ihnen, was wir taten. Nie werde ich die Worte einer Schwester vergessen: „Lillian, Jehova haßt einen Heuchler.“ Am 6. Oktober hielt Bruder Rutherford dann eine landesweit ausgestrahlte Rundfunkansprache über das Thema „Fahnengruß“. Er erklärte, wir würden zwar die Fahne respektieren, aber eine Zeremonie vor einem Bild oder Symbol sei in Wirklichkeit Götzendienst. Und das würde uns unser Verhältnis zu Jehova nie und nimmer erlauben.
Am 22. Oktober kam Bill — damals gerade zehn Jahre alt — mit einem strahlenden Gesicht aus der Schule heim. „Ich habe die Fahne nicht gegrüßt!“ sagte er triumphierend. „Die Lehrerin wollte meinen Arm hochreißen, aber ich habe mich krampfhaft an meiner Tasche festgehalten.“
Um nicht ins Schwanken zu geraten, ging ich am nächsten Morgen noch vor dem Unterricht mit Herzklopfen zu meiner Lehrerin. „Fräulein Shofstal“, stotterte ich, „ich kann die Fahne nicht mehr grüßen. Die Bibel sagt in 2. Mose, Kapitel 20, daß wir neben Jehova Gott keine anderen Götter haben dürfen.“ Zu meiner Überraschung umarmte sie mich nur und sagte mir, was für ein liebes Mädchen ich sei. Als dann die Fahnengrußzeremonie begann, verweigerte ich den Fahnengruß.a Bald starrte mich jeder an. Ich war jedoch stolz. Jehova hatte mir den Mut gegeben, die Fahne nicht zu grüßen.
Alle Mädchen, die ich gern mochte, waren entsetzt. Ein oder zwei fragten mich nach dem Grund, und es ergaben sich ein paar gute Gespräche. Aber die meisten Kinder ließen mich links liegen. Einige Jungen riefen jeden Morgen, wenn ich zur Schule kam: „Hier kommt Jehova!“, und bewarfen mich mit Kies. Die Schulbehörde schaute zwei Wochen lang zu. Dann entschied sie sich zu handeln. Am 6. November trafen sich Vertreter der örtlichen Schulbehörde mit unseren Eltern und den Eltern eines anderen Jungen, die ebenfalls Zeugen waren. Der Direktor, Professor Charles Roudabush, beharrte darauf, daß unser Standpunkt auf Gehorsamsverweigerung hinauslaufe; die anderen schlossen sich ihm in dieser Meinung an. Wir wurden von der Schule verwiesen.
Der Heimunterricht beginnt
Da man uns die Schulbücher gelassen hatte, richteten wir auf dem Dachboden unter der Aufsicht eines jungen Mädchens, das Mutti im Haushalt zur Hand ging, sofort eine Heimschule ein. Doch dann kam ein Brief, in dem es hieß, wir kämen in eine Besserungsanstalt, wenn wir keinen ausgebildeten Lehrer hätten.
Ein paar Tage später riefen Paul und Verna Jones an, die 50 Kilometer entfernt einen Bauernhof hatten. „Wir haben gelesen, daß eure Kinder von der Schule verwiesen wurden“, sagte Paul zu meinem Vater. Sie hatten zwischen ihrem Wohn- und ihrem Eßzimmer eine Wand herausgehauen und einen Schulraum eingerichtet. Nun luden sie uns ein zu kommen. Eine junge Lehrerin aus Allentown, die an der Wahrheit interessiert war, nahm die Stelle bereitwillig an, obschon sie dadurch viel weniger Geld verdiente als an einer öffentlichen Schule. Ähnliche Schulen von Zeugen schossen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden.
Die Jones hatten vier Kinder; trotzdem nahmen sie noch mindestens zehn weitere Kinder auf. Wir schliefen zu dritt in einem Bett und drehten uns auf ein vereinbartes Signal hin gemeinsam um. Eine andere Familie in der Nähe (ebenfalls Zeugen) nahm etwa genauso viele Kinder auf, so daß die Schule bald 40 Schüler zählte. Es gab viel zu lachen und zu kichern, aber wir hatten auch Arbeiten zu erledigen. Um 6 Uhr hieß es aufstehen. Die Jungen halfen draußen mit, und wir Mädchen hatten Küchendienst. Unsere Eltern holten uns freitags nach der Schule übers Wochenende heim. Eines Tages kamen auch die Kinder der Familie Walaitis, zu denen meine Freundin Eleanor gehörte.
In Verbindung mit der Schule tauchten immer wieder Probleme auf. Der liebe Bruder Jones starb, und so mußte Vati unseren kleinen Lieferwagen in einen Schulbus umfunktionieren, damit er uns die 50 Kilometer zur Schule fahren konnte. Schließlich kamen einige von uns in das High-School-Alter und benötigten einen Lehrer, der für diese Altersgruppe ausgebildet war. Für jedes Hindernis schien Jehova jedoch eine Lösung zu haben.
Vor Gericht
In der Zwischenzeit beabsichtigte die Gesellschaft, wegen der Anfeindungen in Verbindung mit der Fahnengrußfrage gerichtlich vorzugehen. Aus den Hunderten, die Stellung bezogen hatten, waren mittlerweile Tausende geworden. Eine Familie nach der anderen wurde ausgewählt, um ihren Fall vor Gericht zu bringen, aber die Bundesgerichte weigerten sich, die Fälle zu behandeln. Dann wurden wir angesprochen, und im Mai 1937 erhoben der Anwalt der Gesellschaft und der Anwalt der amerikanischen Vereinigung für bürgerliche Freiheit vor dem Bundesbezirksgericht in Philadelphia Klage. Die Gerichtsverhandlung wurde für Februar 1938 angesetzt.
Bill und ich sollten als Zeugen aussagen. Ich kann mich noch erinnern, wie beklommen und wie unbehaglich mir allein schon bei dem Gedanken daran zumute war! Der Anwalt der Gesellschaft ging alle denkbaren Fragen immer und immer wieder mit uns durch. Vor Gericht mußte Bill zuerst in den Zeugenstand. Auf die Frage, warum er den Fahnengruß verweigere, antwortete er mit 2. Mose 20:4-6. Dann kam ich dran. Dieselbe Frage. Als ich 1. Johannes 5:21 erwähnte, brüllte der Anwalt der Gegenpartei: „Einspruch!“ Seiner Meinung nach reichte eine Bibelstelle vollkommen. Dann kam Professor Roudabush in den Zeugenstand und behauptete, wir seien indoktriniert worden und förderten die „Mißachtung von ... Fahne und Land“. Richter Albert Maris entschied jedoch zu unseren Gunsten.
„Ihr braucht gar nicht erst zur Schule zu kommen!“ ließ uns die Schulbehörde mitteilen. „Wir legen Berufung ein.“ Also ging es wieder nach Philadelphia, diesmal vor das Berufungsgericht. Im November 1939 fällten die drei Richter ein Urteil zu unseren Gunsten. Die Schulbehörde war erbost. Und so kam der Fall vor das Oberste Bundesgericht.
Das Oberste Bundesgericht
Wir waren außer uns vor Freude, als wir hörten, daß Bruder Rutherford persönlich unseren Fall vertreten würde. Am Vorabend der Gerichtsverhandlung traf eine Gruppe von uns mit ihm am Union-Bahnhof in Washington (D. C.) zusammen. Was für ein großer Augenblick! Es war im April des Jahres 1940, als die Tage noch etwas kühl waren. Am nächsten Tag war der Gerichtssaal brechend voll mit Zeugen Jehovas. Schließlich kamen wir an die Reihe, und Bruder Rutherford erhob sich. Ich werde nie vergessen, wie er uns Kinder mit dem treuen Propheten Daniel, seinen drei hebräischen Gefährten und anderen biblischen Personen verglich. Es war begeisternd, und das Publikum hörte gespannt zu.
Der Gedanke, daß das Gerichtsurteil nicht günstig ausfallen könnte, kam uns überhaupt nicht. Schließlich hatten wir ja die beiden vorherigen Fälle gewonnen. Aber dann kam der 3. Juni 1940; Mutti und ich arbeiteten morgens in der Küche; im Hintergrund spielte das Radio. Plötzlich wurde eine Nachricht durchgegeben. Die Richter hatten gegen uns entschieden — und zwar nicht nur mit einer knappen Mehrheit, sondern mit 8 gegen 1! Mutti und ich standen ungläubig da. Dann rannten wir hinunter, um es Vati und Bill zu erzählen.
Diese Entscheidung löste eine unvorstellbare Welle des Terrors aus. Im ganzen Land betrachtete man Zeugen Jehovas nun als Freiwild. Die Leute dachten, sie schuldeten es ihrem Vaterland, uns anzugreifen. Innerhalb von Tagen wurde der Königreichssaal in Kennebunk (Maine) in Brand gesteckt. In Illinois attackierte der Pöbel 60 Zeugen, die dort gerade predigten, stürzte ihre Autos um und vernichtete ihre Literatur. In der Gegend von Shenandoah (Pennsylvanien) bliesen das Kohlenbergwerk, die Bekleidungsfabriken und die Schulen in rascher Folge zum Fahnenappell. Kinder von Zeugen mußten die Schule verlassen, und ihre Eltern verloren noch am selben Tag den Arbeitsplatz.
Mit Verfolgung fertig werden
Zu diesem Zeitpunkt wurde meinen Angehörigen, wie eingangs beschrieben, mit gewalttätigen Pöbelaktionen gedroht. Nachdem das nicht geklappt hatte, rief eine der Kirchen in Minersville zum Boykott gegen unser Geschäft auf. Der Umsatz ging drastisch zurück. Wir lebten von dem Geschäft, und die Familie war mittlerweile auf sechs Kinder angewachsen. Vati mußte sich Geld leihen, um über die Runden zu kommen. Mit der Zeit machten jedoch immer weniger bei dem Boykott mit; die Leute kauften wieder bei uns ein. Manche sagten sogar naserümpfend, der Priester ginge doch „etwas zu weit“, wenn er ihnen vorschreiben wolle, wo sie einzukaufen hätten. Ziemlich viele Familien, die Zeugen waren, verloren allerdings in jenen Jahren ihr Geschäft und ihr Zuhause.
Eines Abends — wir hatten einige Bibelstudien durchgeführt — wollte ich unsere Familie nach Hause fahren. Meine Eltern waren gerade ins Auto gestiegen, als eine Bande Jugendlicher aus ihrem Versteck hervorschoß und unser Auto umringte. Sie versuchten, die Luft aus den Reifen zu lassen. Plötzlich entdeckte ich vor uns eine Lücke. Ich gab Gas, und weg waren wir! „Lillian, mach das nicht noch einmal“, sagte mein Vater tadelnd. „Du hättest jemand verletzen können.“ Immerhin kamen wir gesund und munter nach Hause.
Die ganze Zeit hindurch, in der man so fanatisch und gewaltsam gegen uns vorging, war die Presse uns äußerst günstig gesinnt. Mindestens 171 führende Zeitungen verurteilten die Fahnengrußentscheidung von 1940. Nur eine Handvoll sprach sich dafür aus. Die Frau des Präsidenten, Eleanor Roosevelt, setzte sich in ihrer Zeitungskolumne „Mein Tag“ für uns ein. Dennoch schien kein Ende in Sicht zu sein.
Das Blatt wendet sich endlich
Im Jahr 1942 waren einige Richter des Obersten Bundesgerichts der Meinung, in unserer Sache falsch entschieden zu haben. Die Gesellschaft brachte den Fall Barnett, Stull und McClure vor Gericht — eine Gruppe von Kindern, deren Eltern Zeugen Jehovas waren und die in West Virginia von der Schule verwiesen worden waren. Das Bundesbezirksgericht von West Virginia entschied einstimmig zugunsten von Jehovas Zeugen! Da die Schulbehörde Berufung einlegte, kam der Fall dann vor das Oberste Bundesgericht. Wir waren dabei, als der Anwalt der Gesellschaft, Hayden C. Covington, vor dem Obersten Bundesgericht in Washington (D. C.) schlagkräftige Argumente ins Feld führte. Am 14. Juni 1943, dem Jahrestag der Nationalfahne, fiel die Entscheidung. Es stand 6 gegen 3 für Jehovas Zeugen!
Danach begann sich die Situation im ganzen Land zu entspannen. Natürlich schafften es ein paar Dickköpfe trotzdem immer irgendwie, unseren jüngeren Schwestern, die wieder zur Schule gingen, das Leben schwerzumachen; Bill und ich waren zu dieser Zeit schon längst aus dem Schulalter heraus. Acht Jahre waren vergangen, seit wir Stellung bezogen hatten.
Eine Laufbahn im Dienst Jehovas
Doch das war nur der Anfang unserer Laufbahn im Dienst Jehovas. Bill wurde mit 16 Pionier. Eleanor Walaitis (heute Miller) und ich dienten als Pionierpartnerinnen in Bronx (New York). Ein Jahr später freute ich mich riesig über die Einladung, im Bethel Brooklyn, der Weltzentrale der Watch Tower Society, zu dienen. Auch dort schloß ich Freundschaften fürs Leben.
Im Sommer 1951 lernte ich auf einem der Kongresse in Europa Erwin Klose kennen. Bei einem Beisammensein in Deutschland erfreuten er und einige andere deutsche Brüder uns mit einem wunderschönen Gesang. Ich sagte ihm, wie begeistert ich von seiner herrlichen Stimme sei. Er nickte freundlich, und ich redete immer weiter. Er verstand kein einziges Wort von dem, was ich sagte! Monate später sah ich Erwin im Bethel in Brooklyn (New York); er sollte in der Wachtturm-Bibelschule Gilead als Missionar ausgebildet werden. Wieder unterhielt ich mich lange mit ihm und hieß ihn in Brooklyn willkommen, und wieder lächelte er freundlich. Es fiel ihm immer noch etwas schwer, mich zu verstehen! Mit der Zeit verstanden wir uns jedoch immer besser. Kurze Zeit später waren wir verlobt.
Ich wurde Missionarin und folgte Erwin nach Österreich. Da Erwin aufgrund seines Glaubens als Zeuge Jehovas von den Nationalsozialisten brutal behandelt worden war, ging es mit seiner Gesundheit bergab. All die Jahre in denen ich von der Schule verwiesen war, hatte er im Gefängnis und im Konzentrationslager verbracht.b Ende 1954 kehrten wir in die Vereinigten Staaten zurück.
In der Zeit danach konnten wir zu unserer Freude dort dienen, wo Hilfe dringender benötigt wurde; auch haben wir zwei prächtige Kinder in Jehovas Wegen erzogen. Als unsere Kinder in die Schule kamen, sah ich, daß sich nicht allzuviel geändert hatte. Judith und Stephen wurden beide wegen ihrer Überzeugung angegriffen, und es erfüllte Erwin und mich mit Stolz, daß sie ebenfalls den Mut aufbrachten, für das einzustehen, was recht ist. Gegen Ende eines Schuljahrs sahen die Lehrer dann immer ein, daß die Zeugen keine Fanatiker sind, und wir hatten ein herzliches Verhältnis zueinander.
Wenn ich so auf die Jahre zurückblicke, kann ich wirklich sagen, daß Jehova unsere gesamte Familie gesegnet hat. Gegenwärtig sind 52 Personen aus unserer Familie Diener Jehovas. Acht haben entweder bereits ihren himmlischen Lohn erhalten oder blicken noch einer irdischen Auferstehung entgegen, darunter auch meine Eltern, die uns Kindern dadurch, daß sie Jehova an die erste Stelle setzten, ein wundervolles Erbe hinterließen. In den vergangenen Jahren haben wir oft an ihr Beispiel gedacht. Nach einem ausgefüllten und produktiven Leben hat Erwin nun mit einer neuromuskulären Krankheit zu kämpfen, die ihn stark behindert.
Trotz solcher Probleme blicken wir mit Freude und Zuversicht der Zukunft entgegen. Niemals hat auch nur einer von uns die Entscheidung bereut, ausschließlich Jehova Gott anzubeten. (Von Lillian Klose, geb. Gobitas, erzählt.)
[Fußnoten]
a Allgemein zeigen Jehovas Zeugen bereitwillig Respekt vor Eiden oder Hymnen auf eine Weise, die jegliche Beteiligung an Kulthandlungen ausschließt.
b Siehe den Artikel „Die Nationalsozialisten konnten uns nicht aufhalten“ im Erwachet! vom 22. November 1992.
[Kasten auf Seite 17]
Warum verweigern Jehovas Zeugen den Fahnengruß?
ES GIBT einen religiösen Grundsatz, den Jehovas Zeugen mehr als andere Religionsgemeinschaften betonen: den Grundsatz der Ausschließlichkeit. Jesus erwähnte ihn in Lukas 4:8: „Jehova, deinen Gott, sollst du anbeten, und ihm allein sollst du heiligen Dienst darbringen.“ Jehovas Zeugen sind darauf bedacht, nur Jehova anzubeten und nichts und niemand sonst im Universum. Für sie ist die Beteiligung an einer Fahnengrußzeremonie irgendeiner Nation eine Form der Verehrung, die auf ihre ausschließliche Anbetung Jehovas übergreifen und sie verletzen würde.
Sowohl die Israeliten als auch die ersten Christen wurden wiederholt davor gewarnt, einen von Menschen gemachten Gegenstand zu verehren. Diese Handlung wurde als Götzendienst verurteilt (2. Mose 20:4-6; Matthäus 22:21; 1. Johannes 5:21). Sollte die Fahne tatsächlich ein Götzenbild sein? Nur wenige würden ernsthaft behaupten, sie sei lediglich ein Stück Stoff. Sie wird weithin als heiliges Symbol betrachtet oder sogar als etwas noch Erhabeneres. Der katholische Historiker Carlton Hayes erklärte dazu: „Das wichtigste Glaubenssymbol und das zentrale Verehrungsobjekt des Nationalismus ist die Flagge.“
Das bedeutet nicht, daß Jehovas Zeugen die Fahne oder diejenigen, die sie grüßen, verachten. Im allgemeinen werden sie bei solchen Zeremonien respektvoll dastehen, vorausgesetzt, daß sie nicht daran teilnehmen müssen. Ihrer Ansicht nach zeigt sich wahrer Respekt vor der Fahne durch Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Landes, für das sie steht.
Die meisten Menschen werden zustimmen, daß der Fahnengruß keine Garantie dafür ist, daß jemand die Fahne auch achtet. Das verdeutlicht ein Fall aus Kanada. Ein Lehrer und ein Rektor forderten von einem kleinen Mädchen, das die Fahne grüßte, auf die Fahne zu spucken; sie tat es. Danach forderten sie ein Mädchen von Zeugen Jehovas aus der gleichen Klasse auf, dasselbe zu tun; sie weigerte sich jedoch standhaft. Für Jehovas Zeugen ist es eine Grundsatzfrage, die Fahne zu achten. Aber ihre Anbetung gilt allein Jehova.
[Bild auf Seite 16]
Erwin und Lillian in Wien, 1954
[Bild auf Seite 17]
Lillian heute
[Bildnachweis]
Dennis Marsico