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  • „O Jehova, hilf meiner Kleinen, treu zu bleiben!“
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Erwachet! 1993
g93 22. 9. S. 15-19

„O Jehova, hilf meiner Kleinen, treu zu bleiben!“

ICH wurde im Jahre 1930 im Elsaß (Frankreich) geboren, meine Eltern waren Künstler. Abends saß mein Vater gewöhnlich in seinem Klubsessel und las Bücher über Geographie oder über Astronomie. Mein Hund lag schlafend neben Vatis Füßen, und Vati erzählte Mutti einiges Interessante aus den Büchern, während sie für die Familie strickte. Wie sehr ich diese Abende doch genoß!

Religion spielte eine große Rolle in unserem Leben. Wir waren eifrige Katholiken, und wenn die Leute uns sonntags morgens in die Kirche gehen sahen, pflegten sie zu sagen: „Jetzt ist es neun Uhr. Die Arnolds sind nämlich auf dem Weg zur Kirche.“ Ich ging jeden Tag vor dem Schulunterricht in die Kirche. Aufgrund des Fehlverhaltens des Priesters verbot Mutti mir jedoch, allein dorthin zu gehen. Damals war ich sechs Jahre alt.

Schon nachdem sie drei kleine Broschüren der Bibelforscher (heute Jehovas Zeugen) gelesen hatte, ging meine Mutter von Haus zu Haus predigen. Meinem Vater gefiel das ganz und gar nicht. Er machte es zur Regel, daß in meinem Beisein keine Gespräche über Religion geführt werden durften. „Ich wünsche nicht, daß dieses Zeug gelesen wird!“ sagte er. Aber Mutter war so begeistert von der Wahrheit, daß sie sich entschloß, mit mir etwas in der Bibel zu lesen. Sie besorgte sich eine katholische Bibelübersetzung und las mir jeden Morgen daraus vor, gab aber keine Erklärungen dazu ab, um Vati zu gehorchen.

Einmal las sie Psalm 115:4-8, wo es heißt: „Ihre Götzen sind Silber und Gold, das Werk der Hände des Erdenmenschen. ... Die sie machen, werden ihnen gleich werden, alle, die auf sie vertrauen.“ Dann las sie mir noch das zweite Gebot vor: „Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen“ (2. Mose 20:4-6). Sofort stand ich auf und beseitigte meinen eigenen Altar in meinem Zimmer.

In der Schule erzählte ich meinen katholischen Klassenkameraden, was ich aus dem täglichen Bibellesen gelernt hatte. Das verursachte ziemlichen Aufruhr. Sehr oft liefen mir Kinder auf der Straße hinterher und riefen: „Stinkende Jüdin!“ Das war 1937. Nun sah sich mein Vater veranlaßt, zu überprüfen, was ich lernte. Er besorgte sich das von Jehovas Zeugen herausgegebene Buch Schöpfung. Er las es und wurde selbst ein Zeuge.

Sowie die deutsche Armee über die belgische Grenze in Frankreich eingedrungen war, flatterten auf den Kirchtürmen Hakenkreuzfahnen, obwohl auf den Rathäusern noch die französische Fahne zu sehen war. Die französische Regierung hatte unseren Königreichssaal schließen und das Werk von Jehovas Zeugen verbieten lassen; als die Deutschen kamen, arbeiteten wir bereits im Untergrund. Doch die Bemühungen, die Zeugen zu vernichten, wurden verstärkt. Zwei Jahre später ließ ich mich mit 11 Jahren taufen.

Einen Monat danach, am 4. September 1941 um zwei Uhr nachmittags, klingelte es an der Tür. Wir erwarteten Vater von der Arbeit zurück. Ich sprang auf, öffnete die Tür und warf mich in ein Paar Arme. Von hinten ertönte eine männliche Stimme: „Heil Hitler!“ Als ich wieder auf meinen Füßen stand, merkte ich, daß ich einen SS-Soldaten umarmt hatte. Die Soldaten schickten mich in mein Zimmer und unterzogen meine Mutter einem vierstündigen Kreuzverhör. Beim Weggehen rief einer von ihnen: „Sie werden Ihren Mann nie wiedersehen! Ihnen und Ihrer Tochter wird es genauso ergehen wie ihm.“

An jenem Morgen war Vater festgenommen worden. Er hatte sein Monatsgehalt in der Tasche gehabt. Die SS löste das Bankkonto auf und verweigerte meiner Mutter die Arbeitserlaubnis, die sie brauchte, um Arbeit zu bekommen. Das Motto der SS lautete: „Kein Lebensunterhalt für dieses Ungeziefer!“

Verfolgung in der Schule

In dieser Zeit nahm der Druck auf dem Gymnasium weiter zu. Wenn der Lehrer den Klassenraum betrat, mußten alle 58 Schüler jedesmal aufstehen und mit ausgestrecktem Arm „Heil Hitler!“ sagen. Kam der Priester zum Religionsunterricht, sagte er: „Heil Hitler! Gesegnet ist der, der im Namen des Herrn kommt.“ Die Schüler antworteten dann: „Heil Hitler! Amen.“

Ich weigerte mich, den Deutschen Gruß zu sagen, was dem Schuldirektor zu Ohren kam. Daraufhin wurde ein Verwarnungsbrief geschrieben, in dem es hieß: „Eine Schülerin beugt sich nicht den Schulregeln, und wenn sich das binnen einer Woche nicht ändert, muß diese Schülerin die Schule verlassen.“ Am Ende des Briefes hieß es, der Brief müsse den über 20 Klassen vorgelesen werden.

Schließlich kam der Tag, an dem ich vor meine Klasse treten und meine Entscheidung bekanntgeben mußte. Der Direktor gab mir noch fünf Minuten Zeit, um entweder den Gruß zu sagen oder meine Schulpapiere zu nehmen und zu gehen. Jene fünf Minuten kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Meine Beine wollten ihren Dienst versagen, mein Kopf wurde schwer, und mein Herz klopfte stark. Dann wurde das Schweigen, das auf der ganzen Klasse lastete, durch ein durchdringendes „Heil Hitler!“ gebrochen, das alle Schüler dreimal wiederholten. Ich lief zum Tisch, nahm meine Schulpapiere und rannte hinaus.

Am folgenden Montag durfte ich eine andere Schule besuchen. Der Direktor sagte, ich könne bleiben, wenn ich niemandem erzählen würde, warum ich von der anderen Schule verwiesen worden sei. Meine Schulkameraden begegneten mir mit Feindseligkeit; sie nannten mich eine Diebin und eine Unruhestifterin und sagten, das sei der Grund gewesen, warum man mich weggeschickt habe. Den wahren Grund durfte ich ihnen nicht erklären.

Ich mußte mich hinten im Klassenzimmer hinsetzen. Das Mädchen neben mir bemerkte, daß ich den Hitlergruß verweigerte. Sie dachte, ich würde der französischen Widerstandsbewegung angehören. Ich mußte ihr einfach erklären, warum ich den Gruß verweigerte: „Gemäß Apostelgeschichte 4:12 ‚gibt es in keinem anderen Rettung, denn es gibt keinen anderen Namen unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben worden ist, durch den wir gerettet werden sollen‘. Einzig und allein Christus ist unser Retter. Das Wort ‚Heil‘ steht für Rettung durch jemanden, und ich kann die Rettung keinem Menschen, auch nicht Hitler, zuschreiben.“ Dieses Mädchen und ihre Mutter willigten in ein Bibelstudium mit Zeugen Jehovas ein und wurden selbst Zeugen.

Tätigkeit im Untergrund

Während der ganzen Zeit predigten wir im Untergrund. Jeden ersten Sonntag im Monat gingen wir zu einem bestimmten Platz in den Bergen, wo wir den Wachtturm in Französisch erhielten, um ihn ins Deutsche zu übersetzen. Mutti hatte sich für mich einen besonderen Hüfthalter mit einer versteckten Tasche ausgedacht, in der ich den Wachtturm transportieren konnte. Einmal wurden wir von zwei Soldaten angehalten und zu einem Bauernhof in den Bergen geführt, wo man uns durchsuchte. Mir wurde so schlecht, daß ich mich auf Befehl der Soldaten ins Heu legen mußte, und so fanden sie den Wachtturm nicht. Anscheinend kam mir Jehova immer wieder auf die eine oder andere Weise zu Hilfe.

Eines Tages wurde ich zu einem „Psychiater“ bestellt. Wie es sich herausstellte, waren es zwei SS-Männer. Es waren noch andere Kinder von Zeugen anwesend. Ich wurde ganz zum Schluß hineingerufen. Die beiden „Ärzte“ saßen hinter einem Tisch, ich wurde durch grelles Licht geblendet, und das Kreuzverhör begann. Ein „Arzt“ stellte mir Fragen über Geographie und über Geschichte, aber noch bevor ich sie beantworten konnte, befragte mich der andere Mann über unsere Tätigkeit im Untergrund. Er fragte auch nach den Namen anderer Zeugen. Als ich dem Zusammenbruch nahe war, wurde das Verhör plötzlich durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Auf welch wunderbare Weise Jehova doch jedesmal half!

Als der Schuldirektor erfuhr, daß ich einer Klassenkameradin unsere Glaubensansichten erklärt hatte, wurde ich verhaftet, vor Gericht gestellt und von dem Richter zum Besuch einer „Erziehungsanstalt“ verurteilt. Das Urteil besagte unter anderem: „Sie wurde gemäß den Lehren der Internationalen Bibelforschervereinigung aufgezogen, die gesetzlich verboten sind; sie wird eine verdorbene Persönlichkeit entwickeln und eine Gefahr für andere darstellen.“ Es war eine schwere Zerreißprobe für mich Zwölfjährige in jenem eindrucksvollen Gerichtssaal. Aufgrund der Hilfe eines mitfühlenden Freundes, der in der Verwaltung arbeitete, wurde die Strafe jedoch nicht unverzüglich vollzogen.

Etwa einen Monat später sollte meine Schulklasse für zwei Wochen in ein Jugendlager der Hitlerjugend verschickt werden. Meiner Mutter erzählte ich nichts davon; ich wollte nicht, daß sie die Verantwortung für meine Entscheidung, nicht mitzugehen, übernehmen mußte. Kurz vor der Abreise warnte mich der Schuldirektor: „Wenn du am Montag weder am Bahnhof noch in meinem Büro bist, werde ich dir die Polizei auf den Hals schicken!“

Am Montag morgen ging ich also auf dem Weg zur Schule am Bahnhof vorbei. Alle Klassenkameraden sagten, ich solle doch mitfahren, ich hingegen war entschlossen, in das Büro des Direktors zu gehen. Da ich dort verspätet ankam, hatte er bereits gedacht, ich sei mit den anderen mitgefahren. Als er mich sah, wurde er fuchsteufelswild. Er nahm mich mit in seine Klasse und schikanierte die Schüler vier Stunden lang. Zum Beispiel rief er jedes Kind zu sich nach vorn, aber anstatt ihm das Heft auszuhändigen, schlug er es ihm ins Gesicht. Dann zeigte er auf mich und sagte: „Sie ist dafür verantwortlich!“ Er wollte die 45 Kinder, die erst zehn Jahre alt waren, gegen mich aufbringen. Nach dem Unterricht beglückwünschten sie mich jedoch zu meiner Weigerung, Soldatenlieder zu singen.

Später sollte ich Papier, Blechdosen und Knochen sortieren. Ich weigerte mich, denn die Dosen dienten militärischen Zwecken. Man schlug mich bis zur Bewußtlosigkeit und ließ mich liegen. Meine Schulkameraden halfen mir später auf die Beine.

Als ich wieder zur Schule ging, war ich überrascht, alle Schulklassen — etwa 800 Kinder — auf dem Schulhof um einen Fahnenmast versammelt zu sehen. Ich wurde in die Mitte gestellt. Eine lange Erklärung über Freiheit und über das, was mit Verrätern geschieht, wurde gegeben, gefolgt von drei Sieg-Heil-Rufen. Dann, während ich stocksteif und fröstelnd dastand, wurde die Nationalhymne gesungen. Ich konnte meine Lauterkeit bewahren, weil Jehova mir half. Als ich später nach Hause kam, lagen meine Kleidungsstücke bereits auf dem Bett zusammen mit einem Brief, in dem es hieß: „Morgen früh hat sich Simone Arnold am Bahnhof einzufinden.“

Auf dem Weg in die Erziehungsanstalt

Am folgenden Morgen waren meine Mutter und ich am Bahnhof. Dort nahmen mich zwei Frauen in Gewahrsam. Im Zug wiederholte Mutti, wie ich mich verhalten sollte. „Sei stets höflich, freundlich und liebenswürdig, selbst wenn man dich ungerecht behandelt. Sei nie starrsinnig. Gib niemals freche oder unverschämte Antworten. Denke daran, Standhaftigkeit hat nichts mit Widerspenstigkeit zu tun. Dies wird deine Schulung für dein zukünftiges Leben sein. Es ist Jehovas Wille, daß wir zu unserem späteren Nutzen Prüfungen durchmachen. Du bist gut darauf vorbereitet. Du kannst nähen, kochen, waschen und Gartenarbeit machen. Du bist jetzt eine junge Dame.“

An jenem Abend knieten Mutter und ich außerhalb unseres Hotels in einem Weinberg nieder, sangen ein Königreichslied über die Auferstehungshoffnung und beteten. Mit fester Stimme bat Mutti für mich: „O Jehova, hilf meiner Kleinen, treu zu bleiben!“ Zum letzten Mal brachte sie mich ins Bett und gab mir einen Kuß.

Als wir am nächsten Tag in der Erziehungsanstalt eintrafen, ging alles so schnell, daß ich mich nicht mehr von ihr verabschieden konnte. Ein Mädchen zeigte mir ein Bett, dessen Matratze mit Weizenkleie gefüllt war. Meine Schuhe wurden mir weggenommen, und bis zum 1. November mußten wir alle barfuß gehen. Es fiel mir schwer, das erste Mittagessen herunterzubekommen. Man gab mir sechs Paar Socken, die ich stopfen mußte, andernfalls würde ich nichts zu essen erhalten. Zum ersten Mal fing ich an zu weinen. Die Socken wurden durch meine Tränen ganz naß. Ich weinte fast die ganze Nacht.

Am nächsten Morgen stand ich um halb sechs auf. Mein Bett war voller Blutflecken — kurz zuvor hatte nämlich meine Menstruation eingesetzt. Zitternd ging ich zur ersten Lehrerin, die ich traf, Fräulein Messinger. Sie rief ein Mädchen, das mir zeigte, wie ich mein Bettlaken in kaltem Wasser auswaschen sollte. Der Steinboden war kalt, und meine Schmerzen wurden schlimmer. Wieder weinte ich. Fräulein Messinger sagte mit einem sarkastischen Grinsen: „Sag doch deinem Jehova, er soll das Bettlaken waschen.“ Genau das brauchte ich. Ich trocknete mir die Tränen ab, und nie wieder schafften sie es, mich zum Weinen zu bringen.

Wir mußten jeden Morgen um halb sechs aufstehen, um das Haus noch vor dem Frühstück um acht Uhr, das aus einer Schüssel Suppe bestand, zu putzen. Die 37 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren wurden in der Anstalt unterrichtet. Nachmittags wuschen und nähten wir und arbeiteten im Garten, weil keine Männer für die schweren Arbeiten da waren. Im Winter 1944/45 mußte ich zusammen mit einem anderen Mädchen Bäume — manche waren ungefähr 60 Zentimeter dick — mit einer Säge durchsägen, die normalerweise von zwei Holzfällern bedient wurde. Wir Kinder durften nicht miteinander reden und nicht unbeaufsichtigt sein, ja nicht einmal allein auf die Toilette gehen. Zweimal jährlich konnten wir baden, einmal im Jahr unser Haar waschen. Bestraft wurde man durch Nahrungsentzug oder durch Schläge.

Ich hatte das Zimmer von Fräulein Messinger zu putzen. Auf ihre Anweisung hin mußte ich jeden Tag unter ihr Bett kriechen und die Sprungfedern saubermachen. Ich besaß eine kleine Bibel, die ich in die Anstalt geschmuggelt hatte, und diese klemmte ich zwischen die Federn. Danach war es mir möglich, jeden Tag darin zu lesen. Kein Wunder, daß es hieß, ich sei das am langsamsten arbeitende Kind, das je in der Anstalt gewesen sei.

Sonntags gingen die protestantischen Mädchen in die Kirche, die drei katholischen Mädchen ebenfalls, aber ich mußte für alle 37 Kinder kochen. Ich war so klein, daß ich mich auf einen Hocker stellen und den Löffel zum Umrühren der Suppe mit beiden Händen festhalten mußte. Für unsere vier Lehrerinnen hatte ich Fleisch zu kochen, Kuchen zu backen und das Gemüse zu putzen. Sonntags nachmittags bestickten wir Servietten. Zeit zum Spielen gab es nicht.

Mehrere Monate später teilte Fräulein Messinger mir mit sichtlicher Schadenfreude mit, daß meine liebe Mutter festgenommen und in ein Konzentrationslager gebracht worden war.

Ergreifendes Wiedersehen

Im Jahre 1945 ging der Krieg zu Ende. Die Konzentrationslager wurden aufgelöst und gaben im ganzen Land ihre gepeinigten Opfer frei; Tausende von ihnen machten sich auf die Suche nach möglichen Überlebenden ihrer Familie.

Wenigstens wußte meine Mutter, wo sie mich finden konnte, aber als sie mich abholen kam, erkannte ich sie nicht. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hatte! Nach ihrer Verhaftung hatte man sie in das Lager Schirmeck gebracht, wo auch mein Vater gewesen war; sie kam dort ins Frauenlager. Sie weigerte sich, Soldatenuniformen auszubessern, und wurde daher monatelang in einen unterirdischen Bunker gesperrt, wo sie in Einzelhaft war. Später wurde sie zu Frauen verlegt, die Syphilis hatten, damit sie sich infizierte. Auf dem Weg nach Ravensbrück bekam sie einen schlimmen Husten. Zu jener Zeit flohen die Deutschen, und die Gefangenen, die auf dem Weg nach Ravensbrück waren, waren plötzlich frei, auch meine Mutter. Sie machte sich auf den Weg nach Konstanz, wo ich mich aufhielt; durch einen Luftangriff war ihr Gesicht zerschnitten und blutete.

Ich wurde zu ihr gebracht; sie sah total verändert aus — sie war vom Hunger ausgezehrt und ganz offensichtlich krank, ihr Gesicht war geschwollen und blutig, und ihre Stimme war kaum hörbar. Mir war beigebracht worden, mich vor Besuchern zu verbeugen und ihnen alle meine Arbeiten zu zeigen — die Stickereien und das, was ich genäht hatte —, denn einige Frauen kamen in die Anstalt, um sich ein Dienstmädchen auszusuchen. Und so verhielt ich mich also gegenüber meiner armen Mutter. Erst als sie mit mir zu einem Richter ging, um die gesetzliche Erlaubnis zu erhalten, mich mit nach Hause zu nehmen, dämmerte es mir, daß sie meine Mutter war. Auf einmal brachen alle Tränen aus mir heraus, die ich in den letzten 22 Monaten zurückgehalten hatte.

Als wir gingen, war die Bemerkung von Fräulein Lederle, der Direktorin, wie wohltuendes Öl für Mutti. Sie sagte: „Ich gebe Ihnen Ihr Mädchen mit der gleichen Geisteshaltung zurück, die sie hatte, als sie kam.“ Meine Lauterkeit war unversehrt geblieben. Wir fanden unsere Wohnung wieder und begannen, uns dort einzurichten. Das einzige, was uns noch traurig stimmte, war die Abwesenheit meines Vaters. Er war vom Roten Kreuz auf die Liste der Verstorbenen gesetzt worden.

Mitte Mai 1945 klopfte es an der Tür. Wieder war ich es, die hinlief, um aufzumachen. Es war Maria Koehl, eine Freundin, die zu mir sagte: „Simone, ich bin nicht allein. Dein Vater steht unten.“ Vati schaffte es kaum die Treppen herauf, und er hatte sein Gehör verloren. Er ging an mir vorbei und direkt auf Mutti zu. Aus dem spontanen kleinen 11jährigen Mädchen war in jenen langen Monaten eine schüchterne Jugendliche geworden. Dieses andere Mädchen erkannte er nicht einmal.

Das, was mein Vater durchgemacht hatte, hatte seinen Preis gefordert. Zuerst war er in Schirmeck inhaftiert gewesen, einem Sonderlager, dann kam er nach Dachau, wo er sich Typhus zuzog und 14 Tage lang bewußtlos war. Später wurde er für medizinische Experimente mißbraucht. Von Dachau kam er in das Vernichtungslager Mauthausen, wo es noch schlimmer war als in Dachau; dort mußte er schwer arbeiten, wurde geschlagen und von Polizeihunden angegriffen. Aber er hatte überlebt und war schließlich wieder zu Hause.

Mit 17 Jahren nahm ich den Vollzeitdienst als eine Predigerin der Zeugen Jehovas auf; etwas später besuchte ich die Gileadschule in den Vereinigten Staaten, eine Schule der Watch Tower Society für Missionare. Im Hauptbüro der Gesellschaft lernte ich Max Liebster kennen, einen deutschen Juden, der in einem der Konzentrationslager Hitlers ein Zeuge Jehovas geworden war. 1956 heirateten wir, und mit der Hilfe unseres Gottes Jehova stehen wir noch heute im Vollzeitdienst; wir dienen in Frankreich als Sonderpioniere.

Wie treffend waren doch die Worte meiner Mutter, die sie vor so vielen Jahren, an jenem Abend bevor sie mich in der Erziehungsanstalt zurückließ, für mich gesprochen hatte: „Ich flehe dich an, o Jehova, hilf meiner Kleinen, treu zu bleiben!“

Und genau das hat Jehova bis zum heutigen Tag getan. (Von Simone Liebster geb. Arnold erzählt.)

[Bild auf Seite 18]

Simone Liebster geb. Arnold mit ihrem Mann Max

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