Die Bedürfnisse der Eltern herausfinden
UM DEN an Jahren fortgeschrittenen Eltern wirklich eine Hilfe zu sein, muß man ihre Bedürfnisse und Wünsche in Erfahrung bringen. Sonst trifft man womöglich in guter Absicht Regelungen, die gar nicht nötig sind und von ihnen überhaupt nicht gewünscht werden — was sie ihren Kindern aber unter Umständen nicht gern sagen. Solche Mißverständnisse können das gegenseitige Verhältnis unnötig belasten.
Welche Wünsche haben sie?
Eine Frau, die der Meinung ist, daß ihre Eltern eines Tages ohnehin bei ihr wohnen müssen, leitet den Umzug überstürzt in die Wege. Später stellt sie fest, daß ihre Eltern ohne weiteres in ihrer eigenen Wohnung hätten bleiben können und so auch glücklicher gewesen wären.
Ein Sohn sagt, nachdem er seine Eltern zu sich geholt hat: „Ich möchte von euch kein Geld dafür annehmen, daß ihr in meinem Haus wohnt — nach allem, was ihr für mich getan habt!“ Doch dadurch fühlen sich seine Eltern zu sehr in die Abhängigkeit getrieben. Schließlich offenbaren sie ihm, daß sie um ihrer Würde willen lieber einen finanziellen Beitrag leisten möchten.
Eine Familie nimmt den betagten Eltern jede noch so kleine Arbeit ab, damit sie sich wohl fühlen und sich nicht anstrengen müssen. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, daß die Eltern auch noch selbst etwas tun wollen.
Bei allen gerade beschriebenen Beispielen waren die geleisteten Dienste überflüssig und wurden von den Eltern nicht einmal gewünscht. So etwas kann leicht vorkommen, wenn sich die wohlmeinenden Kinder von einem übertriebenen Pflichtgefühl leiten lassen oder die Bedürfnisse der Eltern nicht richtig wahrnehmen. Dadurch ergeben sich für alle Beteiligten unnötige Belastungen. Die Lösung besteht ganz einfach darin, herauszufinden, was die Eltern überhaupt wünschen und brauchen.
Man sollte sich fragen: Ist es nötig, daß meine Eltern zum jetzigen Zeitpunkt zu mir ziehen? Wollen sie das überhaupt? Mancher wird überrascht sein, zu erfahren, daß eine ganze Reihe von älteren Menschen so unabhängig wie nur möglich sein möchte. Weil sie nicht undankbar erscheinen wollen, zögern sie unter Umständen, ihren Kindern zu sagen, daß sie trotz gewisser Beschwerlichkeiten lieber allein in ihrer Wohnung leben würden. Sicher lieben sie ihre Kinder und sind gern mit ihnen zusammen. Aber von den eigenen Kindern abhängig sein? Das möchten sie nun doch nicht.
Es kann sein, daß man die Eltern eines Tages zu sich holen muß. Doch falls es noch nicht soweit ist und es ihr aufrichtiger Wunsch ist, in der eigenen Wohnung zu bleiben, warum sollte man ihnen dann diese Jahre der Unabhängigkeit vorenthalten? Könnten sie eventuell weiterhin allein leben, wenn man in ihrer Wohnung einige Veränderungen vornehmen und sie zu vereinbarten Zeiten regelmäßig anrufen oder besuchen würde? In den eigenen vier Wänden und mit mehr Entscheidungsfreiheit sind sie vielleicht glücklicher.
Eine Frau, die ihre Mutter übereilt zu sich geholt hatte, sagt: „Als mein Vater starb, nahmen wir meine Mutter bei uns auf, weil sie uns leid tat. Sie lebte noch 22 Jahre. Statt ihr Haus zu verkaufen, hätte sie durchaus weiter darin wohnen können. Man sollte nichts überstürzen. Eine Entscheidung wie diese ist schwer rückgängig zu machen.“ (Vergleiche Matthäus 6:34.)
Doch manche sagen sich: „Was ist, wenn meinen Eltern in ihrer Wohnung etwas zustößt? Sollte meine Mutter oder mein Vater hinfallen und sich verletzen, könnte ich mir das nie verzeihen!“ Das ist eine berechtigte Sorge, vor allem wenn die Gesundheit oder die Kraft der Eltern so weit nachgelassen hat, daß die Gefahr eines Unfalls nicht von der Hand zu weisen ist. Ist das allerdings nicht der Fall, dann sollte man sich fragen, ob man wirklich um die Eltern besorgt ist oder nicht eher um sich selbst, weil man vor Schuldgefühlen Angst hat.
Es ist sogar möglich, daß die Eltern in ihrer eigenen Wohnung besser aufgehoben sind. Die Buchautorinnen Edith M. Stern und Dr. Mabel Ross schrieben: „Studien haben gezeigt, daß ältere Menschen jünger und rüstiger bleiben, wenn sie ihre eigene Wohnung behalten. Kurz gesagt: Viele unangebrachte Versuche, das Älterwerden zu erleichtern, führen einzig und allein dazu, das Älterwerden zu beschleunigen“ (You and Your Aging Parents). Daher sollte man seine Eltern darin unterstützen, soviel Unabhängigkeit wie möglich zu bewahren, und ihnen gleichzeitig die Hilfeleistungen zukommen lassen, die sie tatsächlich benötigen. Auch ist es angebracht, hin und wieder zu überprüfen, ob die Bedürfnisse der Eltern zugenommen oder vielleicht sogar abgenommen haben, und sich darauf einzustellen.
Ein feines Gespür entwickeln
Je nach Gesundheit und Lebensumständen der Eltern kann es für sie jedoch durchaus das Beste sein, zu ihren Kindern zu ziehen. Wenn dem so ist, dann sollte man ein Gespür dafür haben, daß sie wahrscheinlich soviel wie möglich selbst tun wollen. Wie jeder andere auch — unabhängig vom Alter — möchten sie sicher ihre Identität bewahren, ihren Tagesablauf selbst bestimmen und einen eigenen Freundeskreis haben. Das kann sehr förderlich sein. Obwohl es schön ist, einiges als Großfamilie zu unternehmen, sollte man doch manche Aktivitäten nur für die eigentliche Familie reservieren und andererseits auch den Eltern ihre privaten Unternehmungen zugestehen. Eine Frau gab den vernünftigen Rat: „Achten Sie darauf, daß Ihre Eltern vertraute Möbel und Fotos haben, die ihnen viel bedeuten.“
Um die tatsächlichen Bedürfnisse der Eltern herausfinden zu können, ist es unerläßlich, mit ihnen darüber zu reden. Man muß sich ihre Sorgen anhören und ein feines Gespür dafür entwickeln, was sie einem mitteilen wollen. Man sollte ihnen erklären, was man für sie tun kann und was nicht, damit sie nicht aufgrund falscher Erwartungen enttäuscht sind. „Es muß geklärt werden, was von den einzelnen Familienmitgliedern erwartet werden kann“, empfahl ein Mann. „Man sollte häufig Gespräche führen, damit keine Verbitterung und kein Groll aufkommen.“ Bei irgendwelchen langfristigen Versprechungen („Ich rufe dich jeden Montagnachmittag an“ oder: „Ich mache mit dir jedes Wochenende einen Ausflug“) ist es ratsam, klarzustellen, daß man das eine bestimmte Zeit lang probieren möchte, um zu sehen, ob es zu schaffen ist. Falls sich die Regelung nämlich als schwer durchführbar erweist, kann man sie ohne weiteres abändern.
Nichts von dem, was bis hierher gesagt wurde, sollte als Argument verstanden werden, seinen Eltern die ihnen zustehende Ehre und Hilfe vorzuenthalten. Der Standpunkt unseres Schöpfers auf diesem Gebiet ist klar. Erwachsene Kinder schulden es ihren Eltern, sie zu achten, zu pflegen und zu unterstützen. Jesus verurteilte die selbstgerechten Pharisäer, weil sie die Schrift verdrehten, um die Vernachlässigung der Eltern zu rechtfertigen. Die anschaulichen Worte in Sprüche 30:17 offenbaren Gottes Abscheu vor jemandem, der gegenüber seinen Eltern respektlos ist: „Das Auge, das einen Vater verspottet und das den Gehorsam gegenüber einer Mutter verachtet — die Raben des Wildbachtals werden es aushacken, und die Söhne des Adlers werden es auffressen.“ (Siehe Markus 7:9-13; 1. Timotheus 5:4, 8.)
Während man seinen Eltern die notwendige Hilfe leistet, wird man wahrscheinlich mit neuen Belastungen konfrontiert. Wie kann man damit fertig werden? Der nächste Artikel gibt einige Anregungen.
[Bilder auf Seite 5]
Ältere unternehmen gern etwas mit ihren Angehörigen, aber sie möchten auch manchmal allein mit Bekannten zusammensein