Anderen beim Lesenlernen helfen
WER sind die Millionen, die weder lesen noch schreiben können? Im großen und ganzen handelt es sich um verantwortungsbewußte, fleißige Bürger. In den Entwicklungsländern tragen sie dazu bei, daß die große Mehrheit der Bevölkerung mit Nahrung, Kleidung und Obdach versorgt wird. In den Industrieländern verrichten sie Arbeiten, die sonst niemand tun will — anstrengende, eintönige, niedrige Tätigkeiten, die jedoch für die Gesellschaft unerläßlich sind.
Wenn jemand die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens nicht erworben hat, so liegt es meistens daran, daß er nicht die Gelegenheit dazu hatte. Als Gesamtheit sind Analphabeten nicht dumm, unwissend oder unbegabt. „Ich habe keine Probleme mit dem Denken“, sagte ein typischer Teilnehmer eines Lese- und Schreibkurses. „Mein Problem ist nur das Lesen.“
Mangel an Gelegenheit
Oft geht Analphabetismus mit Armut einher. Auf familiärer Ebene bewirkt die Armut, daß man mehr darum besorgt ist, etwas zu essen auf den Tisch zu bringen, als Bildung zu erwerben. Wenn die Kinder zu Hause zum Arbeiten gebraucht werden, gehen sie nicht zur Schule. Und viele, die eine Schule besuchen, brechen die Ausbildung vorzeitig ab.
Die Armut fordert auch auf staatlicher Ebene einen Tribut. Die Entwicklungsländer sehen sich unter der Last ihrer Auslandsschulden gezwungen, bei der Bildung zu sparen. In Afrika zum Beispiel wurden die Gesamtausgaben für das Bildungswesen in der ersten Hälfte der 80er Jahre um fast 30 Prozent gedrosselt. Während reiche Länder im Jahr umgerechnet mehr als 6 000 Dollar für jedes Schulkind ausgeben, bringen manche armen Länder in Afrika und in Südasien nur 2 Dollar auf. Daher mangelt es dort an Schulen, und die Klassen sind überfüllt.
Auch Kriege und Bürgerunruhen leisten dem Analphabetentum Vorschub. Nach Schätzungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen befinden sich sieben Millionen Kinder in Flüchtlingslagern, wo die Bildungsmöglichkeiten oft zu wünschen übriglassen. In einem afrikanischen Land konnten 1,2 Millionen Kinder unter 15 Jahren wegen eines grausamen Bürgerkriegs die Schule nicht besuchen.
Manchen, die in der Kindheit nicht lesen und schreiben gelernt haben, bietet sich später die Gelegenheit dazu, aber sie betrachten das nicht unbedingt als lohnend. Über den typischen Analphabeten vom Land schreibt das Buch Adult Education for Developing Countries: „Ein Erwachsener, der einigermaßen zurechtkommt, ohne lesen und schreiben zu können, wird — außer wenn besondere Umstände eintreten — wohl kaum den brennenden Wunsch haben, diese Fertigkeiten zu erwerben. ... Die Schlußfolgerung, er sei mit seinem Los vollauf zufrieden, wäre völlig verkehrt; allerdings ist er vielleicht nicht unzufrieden genug, um an seiner Lage etwas zu ändern.“
Viele wünschen sich jedoch sehnlichst, ihre Situation zu verbessern. Die Beweggründe sind natürlich unterschiedlich. Manche möchten sich einfach Bildung aneignen und ihr Selbstwertgefühl stärken. Andere lassen sich von finanziellen Erwägungen motivieren. Arbeitslose gehen davon aus, daß sie eher eine Beschäftigung finden, wenn sie lesen und schreiben können. Andere, die einen Arbeitsplatz haben, suchen womöglich einen besseren.
In dem Bewußtsein, daß zwischen der Lese- und Schreibfertigkeit und dem Entwicklungsprozeß eine enge Verbindung besteht — sowohl auf staatlicher als auch auf individueller Ebene —, haben Regierungen und Organisationen Programme in Angriff genommen, um Erwachsenen Lesen und Schreiben beizubringen. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn sie verlangt von einem Lehrer Einfühlungsvermögen und Verständnis für die besonderen Umstände des erwachsenen Unterrichtsteilnehmers.
Porträt eines erwachsenen Lernenden
Wer Erwachsene unterrichtet, sollte sich über die Unterschiede zwischen erwachsenen Lernenden und Schulkindern im klaren sein. Die Persönlichkeit, die Gewohnheiten, die Standpunkte und die Interessen sind bei Erwachsenen im Gegensatz zu Kindern bereits stark ausgeprägt, so daß Erwachsene weniger flexibel sind. Andererseits haben sie einen Erfahrungsschatz, auf dem sie aufbauen können, und sie sind in der Lage, Fakten und Begriffe zu verstehen, die für Kinder verwirrend sind. Allerdings verfügen sie in der Regel nicht über soviel Freizeit wie Kinder. Ein bedeutender Unterschied besteht auch darin, daß Erwachsene im Gegensatz zu Kindern die Freiheit haben, ihre Ausbildung jederzeit abzubrechen.
Viele Analphabeten weisen einzigartige Begabungen auf und sind auf verschiedenen Gebieten erfolgreich; nur haben sie die Fertigkeiten des Lesens und des Schreibens nicht entwickelt. Der Lehrer muß sie nun ermutigen, sich die Anpassungsfähigkeit, die Kreativität und die Ausdauer, die sie in anderen Lebensbereichen gezeigt haben, zunutze zu machen.
Ein Analphabet braucht Mut, um seine mißliche Lage einzugestehen und um Hilfe zu bitten. Die Persönlichkeit und die Umstände sind zwar von Mensch zu Mensch verschieden, doch sind viele Erwachsene ängstlich und trauen sich zuwenig zu, wenn es um das Lesen- und Schreibenlernen geht. Viele blicken auf eine leidvolle Geschichte schulischen Versagens zurück. Andere denken, sie seien zu alt, um etwas Neues zu lernen. „Einem alten Menschen bringt man keine Linkshändigkeit mehr bei“, lautet ein nigerianisches Sprichwort.
Der Lehrer kann das Selbstvertrauen des Lernenden fördern und das Interesse wachhalten, wenn er Fortschritte sogleich wahrnimmt und ihn dafür lobt. Der Unterricht sollte so aufgebaut sein, daß Mißerfolge auf ein Minimum beschränkt bleiben und kontinuierliche Erfolge durch das Erreichen von Lernzielen gewährleistet sind. In der Broschüre Educating the Adult heißt es: „Von allen Faktoren, die zu einer anhaltenden Motivation beitragen, ist das Erfolgserlebnis wahrscheinlich der entscheidendste.“
Erwachsene knüpfen an den Unterricht im allgemeinen bestimmte Erwartungen und möchten unmittelbare Fortschritte sehen. Ein Professor für Erwachsenenbildung in Afrika sagte: „Wenn sie erst einmal begonnen haben, möchten sie möglichst schnell lernen, was sie wissen müssen, und dann mit dem Unterricht aufhören.“
Manchmal stecken sich die Unterrichtsteilnehmer allzu ehrgeizige Ziele. Der Lehrer sollte ihnen von Anfang an helfen, sich kleine Etappenziele zu setzen, und ihnen dann beim Erreichen dieser Ziele zur Seite stehen. Nehmen wir einmal an, ein Christ meldet sich zum Lese- und Schreibunterricht an, weil er gern die Bibel und biblische Schriften lesen möchte. Das wäre ein langfristiges Ziel. Auf dem Weg dorthin kann der Lehrer ihn anregen, sich Etappenziele zu stecken wie zum Beispiel das Alphabet zu beherrschen, ausgewählte Texte in der Bibel zu finden und zu lesen und aus einfach geschriebenen biblischen Publikationen vorzulesen. Das fortlaufende Erreichen von Zielen hält die Motivation wach und spornt zum Weiterlernen an.
Ein guter Lehrer kann seine Schüler motivieren, indem er sie ermutigt und lobt und ihnen beim Erreichen sinnvoller, praktikabler Ziele hilft. Erwachsene, die Fortschritte machen möchten, sollten indessen nicht erwarten, alles vorgekaut zu bekommen. Sie müssen bereit sein, die Verantwortung für ihre Bildung selbst zu übernehmen und sich beim Lernen anzustrengen. Wenn sie das tun, werden sie Lesen und Schreiben lernen, und diese Fertigkeiten werden ihr Leben verändern.
[Kasten auf Seite 6]
Was beim Lese- und Schreibunterricht für Erwachsene zu beachten ist
1. Es ist unerläßlich, den Lernenden zu motivieren. Man sollte von der ersten Unterrichtsstunde an die Vorteile des Lesen- und Schreibenlernens betonen und den Unterrichtsteilnehmer ermutigen, sich sowohl vernünftige Etappenziele als auch langfristige Ziele zu stecken.
2. Damit der Fortschritt gewährleistet ist, sollte der Unterricht mehrmals in der Woche stattfinden. Einmal wöchentlich ist nicht genug. Der Lernende sollte zwischen den Unterrichtsstunden Hausaufgaben erledigen.
3. Es ist nicht gut, zu hohe Anforderungen zu stellen oder den Unterrichtsteilnehmer mit zuviel Stoff in einer Stunde zu überhäufen. Das kann ihn entmutigen und veranlassen, den Unterricht nicht mehr zu besuchen.
4. Der Lehrer sollte durchweg ermutigend und positiv sein. Lese- und Schreibfertigkeiten werden mit Hilfe von kleinen, aufeinanderfolgenden Schritten entwickelt. Die Fortschritte sollten dem Lernenden ein Gefühl der Befriedigung vermitteln.
5. Es ist ratsam, daß der Unterrichtsteilnehmer das Gelernte möglichst bald im täglichen Leben anwendet.
6. Für Nebensächlichkeiten braucht man keine Zeit zu verschwenden. Erwachsene haben meistens viel zu tun. Wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt, kann man die Unterrichtsstunden am besten ausnutzen.
7. Der Lernende sollte immer respektvoll und mit Würde behandelt werden und nicht in Verlegenheit gebracht oder herabgesetzt werden.
8. Individuelle Probleme sind zu berücksichtigen. Jemand kann womöglich keine kleingedruckte Schrift lesen, weil er eine Brille braucht. Ein anderer ist vielleicht schwerhörig und kann deshalb die korrekte Aussprache schlecht verstehen.
9. Der Unterrichtsteilnehmer sollte die Druckschrift lernen, bevor er es mit der Schreibschrift versucht. Die Druckschrift ist leichter zu erlernen und zu schreiben, und die Buchstaben sind der Schrift in Büchern und Zeitschriften ähnlicher.
10. Eine gute Methode, jemandem das Schreiben beizubringen, besteht darin, ihn Buchstaben durchpausen zu lassen. Er könnte einen Buchstaben mehrmals abpausen, bevor er versucht, ihn selbst zu schreiben.
11. Beim Lesen sind oft schneller Fortschritte zu beobachten als beim Schreiben. Man braucht neue Leseübungen nicht aufzuschieben, nur weil der Unterrichtsteilnehmer nicht in der Lage ist, die Schreibübungen auszuführen, die er als Hausaufgabe erhalten hat. Andererseits kann man jedoch neue Buchstaben leichter lernen und sich besser einprägen, wenn man übt, sie zu schreiben.
12. Der erwachsene Unterrichtsteilnehmer mag zwar imstande sein, mit den Händen knifflige Arbeiten auszuführen, aber das Schreiben mit einem Stift kann für ihn ein schwieriges und frustrierendes Unterfangen sein. Man sollte keine formvollendete Schrift verlangen.