Geheimnisvolle Krankheiten auf Guam
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN AUF GUAM
SIE hatte es sich schon gedacht. Und doch trafen sie die Worte des Arztes hart. „Alle durchgeführten Tests scheinen zu bestätigen, daß Ihr Vater an Lytico und an Bodig leidet.“ Sie wußte, daß beide Krankheiten unheilbar sind.
Auf Guam ist die weltweit höchste Prävalenz dieser Krankheiten zu finden; sie ist um ein vielfaches höher als die Erkrankungsrate in den Vereinigten Staaten. Worum handelt es sich bei den gefürchteten Leiden, an denen der Vater der anfangs erwähnten Frau schließlich sterben wird? Was verursacht sie? Und was kann die Frau tun, um ihm das Leben in der Zeit, die ihm verbleibt, erträglich zu machen?
Was sind Lytico und Bodig?
Sowohl Lytico als auch Bodig sind degenerative Erkrankungen des neuromuskulären Systems. Medizinern ist Lytico unter dem Namen amyotrophische Lateralsklerose (ALS) oder auch Lou-Gehrig-Krankheit bekannt. Als Lou Gehrig, ein bekannter Spieler der Baseballmannschaft New York Yankees, im Jahr 1941 an dieser Krankheit starb, wurde sie nach ihm benannt. Lytico ist der auf Guam gebräuchliche Name für ALS.
ALS betrifft die Motoneuronen sowie die Nervenbahnen im Rückenmark. Die Funktionen der Hand- und der Beinmuskulatur sowie die der Rachenmuskeln verlangsamen sich immer mehr bis zur Lähmung. Eine Zeitlang bleiben die Fortpflanzungs- und die Empfindungsfähigkeit erhalten, und auch die Kontrolle über die Darm- und Blasentätigkeit funktioniert. Einige ALS-Kranke haben sogar Kinder bekommen. Eine Frau bekam in den 14 Jahren, in denen sie an ALS litt, sechs gesunde Kinder; sie starb im Alter von 43 Jahren. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung führt jedoch eine Harnweginfektion, eine Lungenentzündung oder eine Atmungsinsuffizienz zum Tod. Am häufigsten erkranken Erwachsene zwischen 35 und 60 Jahren an ALS. Der jüngste ALS-Patient auf Guam war 19 Jahre alt.
Bodig ist auf Guam der einheimische Name für Hirnatrophie. Dabei handelt es sich um eine Kombination der Symptome des Parkinson-Syndroms und der Alzheimer-Krankheit, deren medizinischer Name Parkinson-Demenz (PD) lautet. Entweder zeigen sich zuerst die Symptome des Parkinson-Syndroms (Bewegungsverlangsamung, Muskelsteifheit, Tremor) oder Veränderungen der geistigen Vorgänge (Gedächtnisverlust, Desorientiertheit, Persönlichkeitsveränderungen). Bei manchen treten die Symptome der beiden Krankheiten auch gleichzeitig auf. Im fortgeschrittenen Stadium liegt sich der Patient wund, es kommt zu unkontrolliertem Abgang von Harn und Stuhl, zu Osteoporose, zu Knochenbrüchen und zu Anämie; schließlich tritt der Tod infolge von Infektionen ein.
Lytico und Bodig werden als zwei verschiedene Krankheiten angesehen. Aufgrund von Forschungen sind einige hingegen zu der Ansicht gelangt, es handle sich eher um ein und dasselbe Leiden, das sich durch unterschiedliche Symptome äußere.
Noch mehr Rätsel
Man bemüht sich vor allem um die Klärung folgender Fragen: 1. Wieso sind 98 Prozent der ALS- und PD-Patienten auf den Marianen reinblütige Chamorro und die übrigen Patienten Filipinos, die schon lange auf Guam leben? 2. Warum liegen die einzigen Orte, wo es eine ähnlich hohe Erkrankungsrate gibt, auf der gleichen geographischen Länge? 3. Warum leiden einige Betroffene auf den Marianen sowohl an ALS als auch an PD, wogegen Patienten anderswo nur von einer der beiden Krankheiten betroffen sind? 4. Wie gelangt konzentriertes Aluminium in das Zentralnervensystem der Patienten? 5. Wieso findet man in den Gehirnzellen Erkrankter einen hohen Aluminiumanteil, jedoch nur wenig Zink? Umweltstudien in den besonders betroffenen Gebieten des Westpazifiks haben ergeben, daß der Anteil an Aluminium, Mangan und Eisen im Wasser und im Boden hoch ist, der Anteil an Kalzium, Magnesium und Zink dagegen niedrig.
Bemühungen, das Rätsel zu lösen
Schon seit etlichen Jahren versuchen Forscher von Guam, aus Japan und aus Kanada, diesen geheimnisvollen Krankheiten auf die Spur zu kommen. Die Forschergruppen haben mehrere Theorien vorgebracht, gemäß denen sie auf folgende Ursachen hinweisen: ein seltener genetischer Faktor, eine Slow-Virus-Infektion oder eine chronische Vergiftung durch kleinste Metallmengen.
Wie ein Pharmakologe andeutete, können schon zwei bis drei Milligramm Aluminium in den Gehirnzellen eine Störung der normalen Hirnfunktionen hervorrufen. Aluminiumverbindungen sind nicht nur im Boden und im Wasser zu finden, sie kommen außerdem in großem Umfang in Backpulvern, in bereits mit Backpulver versetztem Mehl, in Back- und Pfannkuchenmischungen und in tiefgefrorenem Teig zum Einsatz sowie in einigen Arzneimitteln, die zur Bindung von Magensäure oder gegen Hämorrhoiden verordnet werden, und auch in Deodorants. Aluminiumfolie und Aluminiumkochtöpfe spielen ebenfalls eine Rolle, denn besonders wenn säurehaltige oder alkalisierende Nahrungsmittel darin zubereitet werden, kommt es zur Freisetzung von Aluminium.
Dr. Kwang-Ming Chen, Neurologe und eine Autorität auf dem Gebiet der beiden seltenen Krankheiten ALS und PD, sagte: „Umfassende Studien, die vom National Institute of Neurological and Communicative Diseases and Stroke (NINCDS) in [den] letzten 30 Jahren durchgeführt wurden, konnten weder die Ursache dieser zerstörerischsten und am schwersten definierbaren Erkrankungen des Zentralnervensystems (ZNS), die es gibt, vollständig erklären noch ihr auffällig häufiges Vorkommen [auf Guam].“ Er deutete jedoch an, daß als Ursache viel eher eine chronische Vergiftung durch kleinste Metallmengen in Frage kommt als eine Slow-Virus-Infektion oder ein seltener genetischer Faktor. Die Forschungen gehen weiter. Solange sie zu keinem Ergebnis führen, kann man nicht viel mehr tun, als zu versuchen, mit den Schwierigkeiten, die diese Krankheiten mit sich bringen, fertig zu werden und Betroffenen die größtmögliche Hilfe zu bieten.
Womit zu rechnen ist und wie man damit umgehen kann
Die von uns befragten Familien auf Guam sagten, sie hätten zwar mit Bestürzung und Trauer auf die Diagnose reagiert, doch sie hätten sich damit abgefunden. Sie wußten von Anfang an, daß es keine Heilung gibt.
Sowohl der Patient als auch seine Angehörigen machen eine Zeit großer Frustration und Verzweiflung durch. Als ein PD-Kranker gefragt wurde, was ihm am meisten Kummer bereite, sagte er: „Die Tatsache, daß ich nicht deutlich sprechen kann und daß ich es nicht schaffe, im Haus umherzugehen.“ Die Persönlichkeitsveränderungen und die Vergeßlichkeit des Betroffenen erschweren es den Angehörigen, die Auswirkungen der Krankheit zu ertragen. Daß der Patient sich wundliegt und es zur unwillkürlichen Blasen- und Darmentleerung kommt, macht die Pflege noch aufwendiger. Da der ALS-Kranke geistig rege bleibt, ist er im allgemeinen zwar kooperativer, aber im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit ganz und gar auf die Hilfe anderer angewiesen.
Häufig muß man ALS- und PD -Kranken mit einer Saugpumpe den Rachen frei machen. Die Nahrung sollte in Breiform zubereitet werden, und mit dem Löffel müssen ganz kleine Mengen tief in den Rachen gesteckt werden, damit der Kranke nicht erstickt. Fällt dem Patienten das Atmen schwer, muß Sauerstoff eingesetzt werden.
Die Home Care Service Agency auf Guam bietet Physiotherapie an, der Kranke wird auf Infektionen hin untersucht, und emotionaler Beistand wird geleistet. Bei der Lytico and Bodig Association wiederum sind Stützgestelle, Schienen, Patientenbetten, Rollstühle, Matratzen und Bettpfannen erhältlich. Seit 1970 werden an Parkinson-Demenz Leidende mit L-Dopa behandelt, einem Mittel, das die Muskelsteifheit etwas nimmt und zu einer Verbesserung der Bewegungsverlangsamung führt. Leider gibt es für beide Krankheiten kein Medikament, das Heilung bringt.
Erkrankt ein Familienmitglied, ist die Zusammenarbeit in der Familie gewöhnlich außerordentlich gut. Eine Frau, deren Vater und Schwester sowie sechs andere Angehörige an ALS oder an PD gestorben sind, berichtete: „Jeder gab sich Mühe mitzuarbeiten.“ Und über den Mann ihrer kranken Schwester sagte sie anerkennend: „Er war so lieb zu ihr! Jeden Tag fuhr er sie im Rollstuhl spazieren.“
Eine andere Frau blieb viele Jahre ledig, damit sie sich um ihre Mutter kümmern konnte. Sie hatte bereits drei Angehörige durch ALS verloren, und bei anderen Angehörigen zeigten sich erste Symptome. Noch eine andere Frau, die 24 Jahre lang vollständig gelähmt war, hatte drei Töchter, von denen zwei die Schule abbrachen, um ihre Mutter Tag und Nacht zu pflegen. Sie drehten sie jeweils nach einer halben Stunde von einer Seite auf die andere. Wegen der hohen Anforderungen, die eine ständige Pflegebereitschaft mit sich bringt, haben sich manche Familien dafür entschieden, den Kranken ins Krankenhaus einweisen zu lassen, wo geschultes Personal sich seiner annehmen kann.
Familien, die die Schwierigkeiten und Probleme in Verbindung mit ALS und PD bewältigt haben, geben folgende Anregungen: Gehe mit dem Kranken liebevoll, aber bestimmt um. Werde nicht ungeduldig, und erwarte nicht zuviel von ihm. Habe Glauben an Gott. Bete oft. Sorge dafür, daß die Angehörigen, die den Großteil der Pflege übernehmen, auch etwas Zeit für sich haben. Mache mit dem Kranken von Zeit zu Zeit einen Ausflug, und laß ihn am gesellschaftlichen Leben im Dorf teilhaben. Schäme dich nicht, daß einer deiner Angehörigen betroffen ist. Ermutige Kinder, Enkelkinder und Freunde, den Patienten zu besuchen, denn er fühlt sich oft einsam.
Die Medizin kann das Geheimnis um die amyotrophische Lateralsklerose und die Parkinson-Demenz nicht vollständig aufklären, aber trotzdem können Betroffene und ihre Angehörigen Hoffnung schöpfen. Gemäß der Bibel werden bald, und zwar in Gottes neuer Welt, alle Krankheiten, jede Form von Schmerz und der Tod beseitigt sein. Geist und Körper werden vollkommen funktionieren, und die Menschen werden die Aussicht haben, ewig zu leben. Sogar geliebte Verstorbene werden zu irdischem Leben auferweckt werden. Lies dem Kranken daher bitte aus Gottes Wort, der Bibel, vor, damit er mehr über diese wunderbare Hoffnung erfährt (Psalm 37:11, 29; Jesaja 33:24; 35:5-7; Apostelgeschichte 24:15; Offenbarung 21:3-5).
[Bild auf Seite 20]
Für Familienangehörige ist es eine Herausforderung, mit unheilbaren Krankheiten wie den erwähnten fertig zu werden