Wenn Eltern Kinder entführen
NACH jahrelanger Ehe, in der ihr Mann sie immer wieder heftig geschlagen, seelisch mißhandelt und zu guter Letzt mit einer anderen Frau hintergangen hatte, reichte Cheryl die Scheidung ein.a Als ihr das Gericht das Sorgerecht für die Kinder übertrug, begann sich ihr Leben wieder zu normalisieren und allmählich Ruhe einzukehren — bis eines Tages das Telefon klingelte. Es war ihr Exmann. Er sagte: „Wenn du die Kinder wiedersehen willst, mußt du mich wieder heiraten.“ Der Vater ließ die Kinder, die ihn einen Monat lang in seinem Heimatland besucht hatten, nicht wieder zu ihrer Mutter zurück; er hatte sie sozusagen entführt.
Voller Verzweiflung wandte sich Cheryl an das Außenministerium der Vereinigten Staaten, fand aber keinen gesetzlichen Weg, ihre Kinder aus dem anderen Land zurückzuholen. Das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit, das sie während all der Jahre, in denen sie geschlagen wurde, verspürt hatte, überkam sie wieder. „Das Gefühl ist fast dasselbe“, erklärt sie. „Man weiß nicht, wie man dem Ganzen ein Ende machen kann.“
„Psychoterror“
Elterliche Kindesentführung oder Kindesentziehung ist als „die höchste Form von Psychoterror“ bezeichnet worden, der auf einen Elternteil oder ein Kind ausgeübt werden kann. Carolyn Zogg, Geschäftsführerin der Organisation Child Find of America, Inc., sagte über die Entführer: „Viele Eltern, die so etwas tun, wollen es dem anderen damit heimzahlen, und zwar auf die schlimmste Weise und an der empfindlichsten Stelle, an einer Stelle, die ... [den sorgeberechtigten Vätern und Müttern] am meisten am Herzen liegt — ihr Goldstück, ihr Kind. ... Sie denken also nicht an das Kind, sondern nur an sich und ihre Rachegefühle — an Vergelten und Heimzahlen.“
Kindesentziehung ruft nicht nur im Vater oder in der Mutter Gefühle der Wut, des Verlusts, der Hilflosigkeit und der Angst hervor, sondern schadet bis zu einem gewissen Grad auch fast immer dem psychischen Wohl des Kindes. In manchen Fällen ist das Kind vielleicht gezwungen, auf der Flucht zu leben, und darf mit niemandem Freundschaft schließen, oder es muß sich Verleumdungen und Lügen über den anderen Elternteil anhören. Ein solches Erlebnis kann eine Vielzahl von Störungen hervorrufen wie Bettnässen, Schlaflosigkeit, übertriebene Anhänglichkeit, Furcht vor Fenstern und Türen oder extreme Angstzustände. Sogar bei älteren Kindern kann es tiefe Traurigkeit und Wut auslösen.
In den Vereinigten Staaten gibt es jedes Jahr über 350 000 Fälle, in denen ein Elternteil ein Kind entgegen der gerichtlichen Sorgerechtsregelung zu sich holt oder es nicht innerhalb der angeordneten Zeitspanne zurückbringt. In über 100 000 dieser Fälle wird das Kind von einem Familienangehörigen versteckt, um es auf Dauer von dem anderen Elternteil fernzuhalten. Manche Kinder werden sogar in einen anderen Bundesstaat gebracht oder außer Landes geschafft.
Andere Motive
Werden Kinder immer nur aus dem Wunsch nach Versöhnung oder aus einem Rachegefühl heraus entführt? Wie Michael Knipfing von Child Find erklärte, befürchten einige Eltern, das Sorgerecht an den Exgatten zu verlieren, und „nehmen vor lauter Angst die Sache selbst in die Hand“. In anderen Fällen hingegen ist die Frage um das Sorgerecht vielleicht geklärt, aber ein Elternteil verweigert dem anderen das Umgangsrecht; die Folge ist Frustration. Knipfing sagte dazu: „Wenn man sein Kind liebt und es nicht sehen darf, kommt man leicht auf den Gedanken, die einzige verbleibende Alternative sei, sich das Kind zu schnappen und unterzutauchen.“
Außerdem bemerkte er, die meisten seien sich über die Folgen einer Kindesentführung nicht im klaren. Sie würden sich nicht vergegenwärtigen, daß es schwer wird, eine Arbeit zu finden, und daß gegen sie ein Haftbefehl erlassen wird. Für sie sei das Ganze eine Sache zwischen ihnen und dem anderen Elternteil. Sie würden nicht darüber nachdenken, daß die Polizei ins Spiel kommt. Schließlich benötigten sie zwei Anwälte, weil sie nun außer einem Zivilverfahren wegen des Sorgerechts für ihr Kind auch noch ein Strafverfahren am Hals hätten.
Manche Eltern hegen vielleicht den Verdacht, daß der andere Elternteil ihrem Kind etwas zuleide tut. Reagiert das Rechtssystem nur langsam, könnte es sein, daß eine verzweifelte Mutter oder ein verzweifelter Vater ungeachtet der Folgen auf eigene Faust handelt. Das konnte man im Fall der fünfjährigen Hilary Morgan beobachten. Auf Anraten eines Kinderpsychiaters sollten die Besuche von Hilary bei ihrem Vater aufhören, da „klare und eindeutige“ Beweise für Mißbrauch vorlagen. Das Gericht entschied jedoch, die Beweise für Mißbrauch seien nicht überzeugend genug, und verfügte unbeaufsichtigte Besuche. Entgegen der gerichtlichen Verfügung versteckte Hilarys Mutter, Dr. Elizabeth Morgan, ihre Tochter. Ein Elternteil, der in einem solchen Fall sein Kind entführt und sich mit ihm in Sicherheit bringt, stößt in der Öffentlichkeit auf großes Mitgefühl.
Für Elizabeth Morgan bedeutete diese Entführung jedoch den Verlust ihrer chirurgischen Praxis, über zwei Jahre Gefängnis und infolge von Arzt- und Gerichtskosten über 1,5 Millionen Dollar Schulden. Sie erklärte gegenüber der Zeitung U.S.News & World Report: „Fachleute sagen mir, mein Kind hätte einen bleibenden geistigen Schaden davongetragen, hätte ich damals dem Mißbrauch keinen Riegel vorgeschoben. ... Ich mußte tun, was das Gericht nicht tun wollte: mein Kind retten.“
In bezug auf elterliche Entführungen bemerkten die beiden Forscher Greif und Hegar treffenderweise: „Hierbei handelt es sich um ausgesprochen vielschichtige Ereignisse, die sich wie tiefes Wasser je nach Blickwinkel immer etwas anders darstellen; jedesmal, wenn man ins Wasser schaut, entdeckt man etwas Neues“ (When Parents Kidnap—The Families Behind the Headlines).
Außer den Kindern, die von einem Elternteil oder von einem Fremden entführt worden sind, gibt es weltweit noch Millionen andere verschwundene Kinder — die sogenannten verlassenen Kinder und die Ausreißer. Was sind das für Kinder, und wie ergeht es ihnen?
[Fußnote]
a Der Name wurde geändert.