Erdbebensichere Bauweisen
Von unserem Korrespondenten in Japan
„HILFE! Helft mir!“ Im Dunkel der frühen Morgenstunden des 17. Januar 1994 rief ein Mann im Erdgeschoß eines Wohnhauses um Hilfe; die beiden obersten Stockwerke waren in sich zusammengebrochen und lagen übereinander wie geschichtete Pfannkuchen. Ein Erdbeben der Stärke 6,6 auf der Richter-Skala hatte Los Angeles (Kalifornien, USA) erschüttert; in jenem Wohnhaus kamen 16 Menschen um. Das Beben forderte insgesamt über 50 Menschenleben.
Am 30. September 1993 wurde der Bundesstaat Maharashtra (Westindien) von einem etwas schwächeren Erdbeben heimgesucht. Dabei verloren etwa 30 000 Menschen ihr Leben. „Hätte das Beben irgendwo anders stattgefunden, ... wo die Häuser sicher gebaut sind, wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen“, sagte Sri Krishna Singh, ein Seismologe. Die Mehrzahl der Häuser in diesem Bundesstaat war aus Lehmziegeln gebaut.
Ein Beben mit etwa der gleichen Stärke wie das in Indien erschütterte 1985 Tokio (Japan). Für diese Gegend war es das stärkste Beben seit 56 Jahren. Doch es gab weder Tote noch Brände, und der angerichtete Sachschaden hielt sich in Grenzen. Wieso richtete das eine Beben einen so hohen Schaden an, das andere dagegen nicht?
Das liegt unter anderem an der Bauweise der Gebäude. In zahlreichen erdbebengefährdeten Ländern müssen sich Bauingenieure an strenge Bauvorschriften halten, damit ein Bauwerk als erdbebenwiderstandsfähig gilt. Betrachten wir, was erdbebensicheres Bauen in Japan heißt.
Konstruktionsmerkmale erdbebensicherer Bauwerke
In die traditionellen japanischen Häuser war unwissentlich eine Erdbebensicherung eingebaut. Da man als Baustoff meistens Holz verwendete, gab es viele Fugen. Dadurch konnten die Häuser bei einer Erschütterung nachgeben und sich biegen, ohne zusammenzubrechen. Pagoden und Schlösser, die im Mittelalter auf diese Weise gebaut wurden, stehen heute noch. Eine genauere Untersuchung dieser Konstruktionen ergab, daß das Geheimnis mehr in der Nachgiebigkeit der Bauwerke, nicht so sehr in ihrer Steifheit, besteht. Dieses Wissen ist in die Bauweise moderner Gebäude eingeflossen.
Ob Hochhäuser Erdbeben überstehen oder nicht, hängt davon ab, wie effektiv Stahl beim Bauen eingesetzt wurde. Nicht nur Stahlhaupt- und -nebenträger kommen zum Einsatz, sondern in Betonstützen, -deckenplatten und -wänden wird durchgehend Betonstabstahl verwendet, um eine stabile, aber dennoch nachgiebige Konstruktion zu erreichen. Da Stahl nachgiebig ist, bricht das Gebäude bei einem Erdbeben nicht so schnell zusammen.
Außerdem weiß man dank neuester Forschungen, wie sich Bodenerschütterungen auf Bauwerke auswirken. Daher wird beim Planen erdbebensicherer Gebäude die wichtige Rolle der Eigenschwingung berücksichtigt. Ein kleines Bauwerk oder eine steife Konstruktion hat eine höhere und damit zerstörerische Frequenz als ein hohes oder ein nachgiebiges Gebäude. Wichtig ist außerdem, daß sich die Eigenschwingung des Bauwerks von den Schwingungen des Baugrunds unterscheidet. Dadurch wird der Resonanzeffekt abgeschwächt, durch den die Kraft eines Erdbebens verstärkt wird.
Auch die Fundamentierung spielt eine Rolle. Eine Firma hat eine Konstruktion mit Gummilagern und viskosen Dämpfern erfolgreich getestet. Die Dämpfer absorbieren die Stöße und verringern die Auswirkungen des Bebens in den oberen Stockwerken um etwa 60 Prozent. In einigen Fällen müssen Pfähle in das festere Erdreich gerammt werden. Sogar ein Kellergeschoß kann einem Bauwerk genug Stabilität verleihen, so daß es nicht umkippt.
Ein erdbebensicheres Gebäude errichtet
Das Zweigbüro der Watch Tower Society in Japan erweiterte 1989 die dortige Druckerei. Das neue, sechsgeschossige Druckereigebäude ist 67 Meter lang und 45 Meter breit sowie voll unterkellert. Um seine Erdbebensicherheit zu garantieren, wurden 465 Betonpfähle in den Boden getrieben.
Dazu bediente man sich auf der Baustelle einer leisen, vibrationsfreien Methode. Um die Pfähle herzustellen, die einen Durchmesser von 80 Zentimetern haben und eine Gesamtlänge von 12 Metern erreichen sollten, wurden zunächst Röhren verwendet. Eine Bohrschnecke mit Bohrspitzen wurde in die Röhre eingeführt, und das Ganze wurde aufrecht an der Stelle aufgestellt, an der der Pfahl sitzen sollte. Mit jeder Drehung der Schnecke wurde Erde durch die Röhre nach oben gefördert, während die Röhre selbst nach und nach in den entstandenen Hohlraum gepreßt wurde. Um die Bohrtiefe zu vergrößern, wurden an die bereits eingerammten Röhren weitere Röhrenabschnitte angefügt.
War die gewünschte Tiefe erreicht, wurden die Bohrspitzen gespreizt, und am unteren Ende der Röhre wurde ein größerer Hohlraum geschaffen. Nachdem die Bohrschnecke ihre Arbeit getan hatte, füllte man den Hohlraum mit Beton aus, und wenn dieser erstarrt war, saß der fertige Pfahl fest an seinem Platz.
Nachdem die Fundamentierung mittels der Pfähle beendet war, wurden die Pfähle durch Träger miteinander verbunden, auf die dann die Bodenplatte und die Kellerwände gesetzt wurden. Bei einer solchen Fundamentierung sollte das Gebäude so manchen heftigen Erdstoß unbeschadet überstehen.
Ist das Bauwerk, in dem wir wohnen, erdbebensicher? Keine Bauweise und keine Vorsichtsmaßnahme kann garantieren, daß ein Bauwerk bei einem Erdbeben unbeschädigt bleibt. Ein Beben mag so schwer sein, daß selbst die erdbebensichersten Gebäude seiner Zerstörungskraft nicht standhalten, wie das im Januar in der japanischen Stadt Kobe deutlich wurde. Dennoch kann man sich bei einem Erdbeben sicherer fühlen, wenn man in einem Gebäude wohnt, das mit Überlegung gebaut wurde.