Frauen in Indien — Ihr Aufbruch ins 21. Jahrhundert
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN INDIEN
Sie sind groß oder klein. Sie sind schlank oder korpulent. Sie haben Humor oder sind mürrisch. Sie sind steinreich oder bettelarm. Sie sind vielseitig gebildet oder vollkommen ungebildet. Wer sind sie? Es sind die Frauen in Indien, die sich zum Aufbruch ins 21. Jahrhundert rüsten.
DIE meisten, die außerhalb Indiens leben, stellen sich unter einer Inderin ein anmutiges, hübsches, geheimnisvolles, bezauberndes Geschöpf vor. Viele Männer ziehen bei ihrer Suche nach einer Frau Indien in Betracht, unter anderem weil sie meinen, Inderinnen seien im Gegensatz zu ihren unabhängig denkenden Geschlechtsgenossinnen im Westen eher bereit, sich unterzuordnen, ihrem Mann zu gefallen und eine gute Hausfrau abzugeben. Es wäre jedoch irreführend, bei diesem Schmelztiegel der ethnischen und religiösen Gruppen und der sozialen Schichten von der typischen Inderin zu sprechen. Im faszinierenden Indien ist jeder Typ Frau vertreten.
Die Geschichte Indiens ist die Geschichte zahlreicher Kulturen, die entweder friedlich oder durch Gewalt miteinander verschmolzen wurden. Über die Herkunft der ersten Bewohner Indiens, der Drawida, wird spekuliert. Anscheinend gehen sie auf eine Verschmelzung von australischen Völkern und Völkern des südlichen Mittelmeerraums zurück, wobei kretische Einflüsse eine besondere Rolle spielten. Als die Arier und die Perser von Nordwesten nach Indien vordrangen und die Mongolen von Nordosten, zogen sich die Drawida nach Süden zurück. Daher sind die Frauen im Süden Indiens in der Regel kleiner und dunkelhäutiger als die Frauen im Norden, die aber dennoch dunkles Haar und dunkle Augen haben. Im Nordosten haben die Menschen oft ein orientalisches Aussehen.
Auf die soziale Stellung der Frau in Indien hat die Religion einen großen Einfluß ausgeübt. Da das moderne Indien ein säkularisierter Staat ist, wird alles unternommen, um die traditionellen Ansichten, die die Frauen in Indien am Fortschritt gehindert haben, zu korrigieren. Umfassende Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen für alle Frauen, nicht nur für wohlhabende und einflußreiche, sind angelaufen. Lese- und Rechtschreibunterricht, berufsorientierter Unterricht in Dörfern und kostenloser Schulbesuch für Mädchen — all das hebt das Ansehen der Frauen in Indien.
Am 22. Juni 1994 wurde ein großer Schritt nach vorn getan, als im Bundesstaat Maharashtra ein staatliches Frauenprogramm verabschiedet wurde. Indiens Vizepräsident K. R. Narayanan bezeichnete es als „historisch“ und „revolutionär“. Es packt die Grundprobleme der Frauen an — unter anderem geht es um die Eigentumsrechte, um Vormundschaft, um verbesserte Wohnbedingungen und um Gleichberechtigung im Arbeitsleben.
Da die Frauen nun nicht mehr ans Haus gebunden sind — immer mehr gehen aufs College und stehen im Berufsleben —, erhebt sich die Frage, inwiefern dies die Moralvorstellungen beeinflußt. Es wird von Drogenmißbrauch und von einem Verfall der Moral an den Colleges berichtet. Die Medien spielen bei der Metamorphose mancher junger Inderinnen eine bedeutende Rolle. Im Vergleich zu den indischen Filmen, die vor 30 Jahren liefen, würden Frauen in den modernen Filmen ganz anders dargestellt, so lautet die Meinung vieler. Eine Inderin sagte dazu: „Die sittsame, sanfte, aufopferungsvolle Filmheldin, die ich aus meiner Schulzeit kenne, ist dem modernen Mädchen gewichen, das, wenn es unglücklich ist, Mann und Schwiegereltern verläßt und für seine Rechte und seine Unabhängigkeit kämpft.“
Was die Kleidung und das Verhalten betrifft, geht es in Indien im Vergleich zu anderen Ländern insgesamt gesehen immer noch maßvoll zu. Der wunderschöne Sari, die vorherrschende Frauenkleidung, bedeckt fast den ganzen Körper. Vor allem im Norden tragen die jungen Frauen gern ein luftiges Kleidungsstück, shalwar-kameez genannt, das über einer pyjamaähnlichen Hose getragen wird. Westliche Mode, die hauptsächlich in Bombay und Kalkutta sowie in Goa getragen wird, zeichnet sich im allgemeinen durch einen dezenten Stil und eine vernünftige Länge aus.
Neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt
Welche Berufe stehen Inderinnen bei ihrem Aufbruch ins 21. Jahrhundert offen? Ein Großteil der indischen Bevölkerung lebt in Dörfern, wo Landwirtschaft betrieben wird. Millionen Menschen arbeiten auf Feldern. Die Frauen arbeiten Seite an Seite mit den Männern und verrichten jede Art von Landarbeit. Außerdem schaffen sie aus großen Entfernungen Wasser aus Flüssen und Brunnen herbei und sammeln mühselig Brennholz. Bei der Arbeit tragen sie ihr Baby entweder auf der Hüfte, oder es wird in eine zwischen Bäumen ausgespannte Hängematte gelegt.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind indische Familien auf der Suche nach Arbeit aus den Landgebieten in die Städte geströmt. Die Frauen haben in kleineren und größeren Betrieben der Textilindustrie gearbeitet. Die Modernisierung in der Textilindustrie hat sie allerdings schwerer getroffen als die Männer. Denn im Gegensatz zu den Frauen wurden die Männer in der Bedienung der Maschinen ausgebildet. Das bedeutete ziemliche Härten für die Frauen. Sie mußten sich nun damit begnügen, Material auf Baustellen zu tragen, mit schweren Säcken beladene Handkarren zu ziehen, gebrauchte Kleidung zu verkaufen oder andere schlechtbezahlte Arbeiten zu übernehmen.
Sozialreformer haben sich bemüht, das Los der Frauen zu erleichtern. Bewegungen wie die Self-Employed Women’s Association (SEWA), eine Organisation zur wirtschaftlichen Förderung von Frauen, sind entstanden, deren Zielsetzung darin besteht, den ungebildeten Arbeiterinnen zu helfen, auf ihre Gesundheit zu achten, damit sie arbeitsfähig bleiben, ihnen zu helfen, wenigstens so gut lesen und schreiben zu können, daß sie nicht in die Fänge korrupter Arbeitgeber geraten, sowie qualifiziertere Arbeiterinnen zu werden und sparen zu lernen, damit sie zu Eigenkapital kommen und nicht die hohen Zinsen zahlen müssen, die von skrupellosen Geldverleihern berechnet werden. Als die prominente Soziologin Zarina Bhatti über die Rolle des Feminismus als soziales Mittel befragt wurde, sagte sie: „In Indien bedeutet Feminismus, sich die Probleme der Frauen anzuhören, die Frauen zu organisieren, zu versuchen, ihnen Fachkenntnisse zu vermitteln, sowie ihre Gesundheit und ihre Ernährung zu gewährleisten.“
Außerdem haben sich nicht nur die Ansichten über die Situation gebildeter Frauen aus wohlhabenden Familien geändert, die bereits früher einen höheren gesellschaftlichen Rang einnahmen, sondern auch die Ansichten über die Möglichkeiten von Frauen aus der Mittelschicht. Heute sind Frauen beider Schichten in allen möglichen Arbeitsbereichen zu finden, nicht nur im Erziehungswesen und in der Medizin. Sie arbeiten als Pilotin, als Stewardeß, als Fotomodell, als Polizistin oder haben leitende Stellungen inne. Jahrelang bekleidete in Indien, der weltweit größten Demokratie, eine Frau den Posten des Premierministers. Inderinnen haben bei den Streitkräften Offiziersstellen inne, arbeiten als Rechtsanwälte oder Oberrichter, und Tausende sind Kleinstunternehmer geworden.
Wandel auf dem Gebiet der Eheschließung
Angesichts des Trends hin zu finanzieller Unabhängigkeit erhebt sich die Frage, wie die moderne Inderin über das Heiraten denkt. Das 19. und 20. Jahrhundert brachte große Veränderungen für verheiratete Inderinnen mit sich. Der alte sati-Brauch, gemäß dem sich eine Witwe freiwillig mit ihrem verstorbenen Mann auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ, wurde unter der britischen Herrschaft abgeschafft. Die Kinderehe wurde gesetzlich verboten, so daß heute kein Mädchen unter 18 Jahren legal heiraten kann. Mitgift von der Familie eines Mädchens zu verlangen ist ebenfalls per Gesetz verboten worden; dennoch existiert dieser verwerfliche Brauch immer noch. Tausende von jungverheirateten Frauen sind auf die eine oder andere Weise umgebracht worden — entweder weil die Mitgift zu mager ausfiel oder weil man durch eine zweite Heirat zu noch mehr Geld kommen konnte.
Nach und nach wird sich den eigentlichen Ursachen der Mitgiftmorde zugewandt. Der Tradition gemäß ging ein indisches Mädchen nach der Heirat in das Elternhaus ihres Mannes, wo es blieb, bis es starb. Unter keinen Umständen hätten die Eltern das Mädchen zurückgenommen. Da die meisten Frauen keine ordentliche Schulbildung besaßen, war es ihnen unmöglich, das Haus ihres Mannes zu verlassen und für sich selbst zu sorgen. Häufig wurden junge Frauen gequält und standen Todesängste aus, und wenn ihre Eltern die habgierigen Schwiegereltern nicht durch noch mehr Geld oder durch noch mehr Güter zufriedenstellen konnten, sahen die jungen Frauen in qualvoller Erwartung ihrem endgültigen Geschick entgegen, das sie meistens in Form eines geplanten, tödlichen Unfalls traf — entweder explodierte der Herd, oder ihr zarter Sari fing Feuer.
Heutzutage haben verheiratete Frauen durch Gesetze, durch weibliche Polizeieinheiten, durch Frauengerichte und durch Selbsthilfegruppen die Möglichkeit, Hilfe zu suchen, wenn sie ihr Leben bedroht sehen. Auf Grund der besseren Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten entscheidet sich so manches Mädchen dafür, gar nicht zu heiraten oder erst später, nachdem es beruflich vorangekommen ist. Insofern ist die Abhängigkeit der Frauen von den Männern, die oftmals in Tyrannei ausartete, nicht mehr so groß.
Augenmerk zunehmend auf weibliche Säuglinge gerichtet
Der übermächtige Wunsch nach männlichen Nachkommen ist ein weiteres Problem für Frauen, das sich aber mit dem Herannahen des 21. Jahrhunderts langsam löst. Dieser Wunsch, der auf alten religiösen Lehren und wirtschaftlichen Erwägungen basiert, hat häufig dazu geführt, daß weibliche Säuglinge getötet und Mädchen schlecht behandelt wurden, indem sie weniger zu essen bekamen als die Jungen sowie eine schlechtere Schulbildung und Gesundheitsfürsorge erhielten.
In jüngerer Zeit hat sich die Amniozentese, die dem Zweck der Geschlechtsbestimmung dient, durchgesetzt; häufig zieht sie die Abtreibung von Mädchen nach sich. Obwohl der Geschlechtstest gesetzlich eingeschränkt ist, ist er dennoch ein ziemlich übliches Verfahren. Es wird alles unternommen, um die vorherrschende Ansicht, männliche Nachkommen seien wünschenswerter, zu ändern.
Von Menschen erdachte Philosophien haben in vielerlei Hinsicht dazu beigetragen, daß Frauen als niedriger eingestuft werden. Das wird an der Behandlung von Witwen deutlich. Im alten Indien wurde gegen die Wiederverheiratung von Witwen nichts eingewendet. Etwa ab dem 6. Jahrhundert u. Z. gingen die Gesetzgeber dagegen an, und das Los der Witwen wurde beklagenswert. Da eine Wiederverheiratung nicht erlaubt war, die Angehörigen den Witwen oftmals den Besitz ihres verstorbenen Mannes wegnahmen und da sie behandelt wurden, als würden sie wie ein Fluch auf der Familie lasten, zogen es viele Witwen vor, sich mit ihrem Mann auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen, als Mißhandlungen ertragen und ein unwürdiges Leben führen zu müssen.
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts haben Reformer versucht, das Los solcher Frauen zu erleichtern, aber tief eingefleischte Gefühle sind hartnäckig. In vielen Dorfgemeinschaften ergeht es den Witwen — manchmal handelt es sich um sehr junge Frauen, die mit einem älteren Mann verheiratet waren — wirklich schlecht. Dr. Saharada Jain vom Institute for Development Studies sagt: „Das Witwentum führt hauptsächlich deswegen zu einem Trauma, weil die Psyche der Frau ganz und gar von der Stellung des Mannes bestimmt wird.“ Bestrebungen sind im Gang, Witwen zu ermöglichen, dem 21. Jahrhundert mit Würde entgegenzugehen.
Unterschied zwischen Frauen vom Land und aus der Stadt
Es besteht ein großer Unterschied zwischen den Frauen, die in einer Stadt leben, und denen vom Land. Schätzungsweise 25 Prozent der Landfrauen können lesen und schreiben; in den Städten profitieren weit mehr von den Schulen und Colleges. In der Absicht, den Frauen vom Land zu helfen, organisieren Sozialarbeiter Lese- und Rechtschreibkurse, sie unterweisen die Frauen in Gesundheitsfürsorge und schaffen Beschäftigungsprojekte. Die Regierungen einiger Bundesstaaten haben 30 Prozent der Stellen im öffentlichen Sektor, in Genossenschaften und in Selbstverwaltungen für Frauen reserviert. Frauenbewegungen wollen das Leid und das Elend von Millionen Frauen in Indien erleichtern. Bis zu einem gewissen Maß hat das Erfolg gezeitigt. Was läßt sich daher über die Zukunft der Frauen in Indien sagen?
Aufbruch ins 21. Jahrhundert
Ist die Rolle der Frau in Indien an der Schwelle des 21. Jahrhunderts in Veränderung begriffen? Ja, und diese Veränderung geht schnell vor sich. Inderinnen sind jedoch eigentlich in einer ähnlichen Situation wie ihre Geschlechtsgenossinnen in der ganzen Welt. Es gibt Fortschritte, aber auch Rückschläge. Da ist Hoffnung, aber auch Verzweiflung. Wunderschöne Häuser und ein luxuriöser Lebensstil stehen Slums, bitterer Armut und nagendem Hunger gegenüber. Millionen Frauen haben gerade genug zum Überleben, alles andere liegt völlig außerhalb ihrer Möglichkeiten. Andere dagegen scheinen sich alles leisten zu können, was das Leben zu bieten hat. Die meisten Frauen in Indien sehen einer ungewissen Zukunft entgegen; sie haben Träume, sie haben aber auch Befürchtungen.
Einige Frauen dagegen sehen einer strahlenden Zukunft entgegen, vor allem diejenigen, die die Hoffnung haben, hier auf der Erde in einem Paradies zu leben, das unter der Herrschaft des Königreiches Jehovas mit Christus Jesus an der Spitze Wirklichkeit werden wird (Offenbarung 21:1, 4, 5). Sie blicken dem 21. Jahrhundert voller Vertrauen entgegen, denn dann werden Frauen das Leben richtig genießen können.
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Eine Frau trägt Ziegelsteine auf eine Baustelle
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Eine Frau schöpft Wasser für den Hausgebrauch
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Eine Frau in einer Besprechung mit Männern
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