Wo Adler zum großen Fischessen landen
FESTLICH gekleidet für das Diner, kommen sie zu Tausenden aus ganz Alaska, aus Britisch-Kolumbien und sogar aus dem weitentfernten Staat Washington. Es sind höchst beeindruckende, vornehm aussehende Vögel mit einem weißen Kopf und prächtigen weißen Schwanzfedern, die sie fächerförmig ausbreiten, um sachte landen zu können. Die durchschnittlich 6 Kilogramm schweren, dunkelbraunen Prachtexemplare mit einer Flügelspannweite von 1,8 bis 2,4 Metern — die Weibchen sind ein wenig größer als die Männchen — reisen mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde; wenn ihr scharfes Auge aber aus gut einem Kilometer Entfernung einen Fisch erspäht, können sie mit 160 Sachen herabstoßen und sich ihn schnappen.
Ihr Diner am Chilkat verlangt ihnen allerdings keine so spektakulären Flugkunststücke ab. Der Hauptgang, Lachs, läuft ihnen nicht davon. Die Fische liegen in Hülle und Fülle vor ihnen und warten nur darauf, verzehrt zu werden. Dieses Festessen wird ihnen im Chilkat-Weißkopfseeadler-Reservat serviert, das 1982 vom US-Bundesstaat Alaska „zum Schutz und Erhalt des weltweit größten Weißkopfseeadler-Bestands und seines unverzichtbaren Habitats“ gegründet wurde.
Das 19 000 Hektar große Reservat umfaßt Schwemmland der Flüsse Chilkat, Klehini und Tsirku, wobei ausschließlich Gebiete dazugehören, die ein idealer Lebensraum für den Weißkopfseeadler sind. Die spezielle Region, auf die sich der Adlerbestand konzentriert und wohin die Besucher strömen, um die Adler zu sehen, ist ein Gebiet von acht Kilometer Länge entlang dem Chilkat und dem Haines Highway zwischen Haines und Klukwan.
Ein von der Regierung herausgegebener Prospekt mit dem Titel „Alaska Chilkat Bald Eagle Preserve“ (Das Chilkat-Weißkopfseeadler-Reservat Alaskas) erklärt, warum der Fluß gerade auf diesen acht Kilometern den Adlern eine Delikatesse wie abgelaichten Lachs vorsetzen kann.
„Daß der Chilkat in den eisigen Monaten auf einer Länge von acht Kilometern offenes Wasser führt, ist auf ein Phänomen der Natur zurückzuführen, das man ein ,Alluvial- oder Schwemmfächer-Reservoir‘ nennt. Wo der Tsirku, der Klehini und der Chilkat zusammenfließen, hat sich Kies, Gestein, Sand und Gletscherschutt fächerförmig angehäuft, und dieser Tsirku-Schwemmfächer dient als großes Wasserreservoir.“
Für gewöhnlich lagert ein Fluß, der in ein anderes Gewässer einmündet und langsamer fließt, die Sedimente so ab, daß sich zwar ein Delta bildet, dabei jedoch kein Wasserreservoir zurückbleibt. Dort, wo der Tsirku in den Chilkat mündet, gibt es allerdings Erdfalten; Glazialerosion bewirkte, daß mehr als 230 Meter tief unter dem Meeresspiegel ein großes Becken entstand. Als die Gletschermassen zurückgingen, ließen sie Schutt zurück, und durch die Flüsse wurde zusätzlich Kies und Sand abgelagert, bis sich auf dem Muttergestein der Mulde schließlich lockere, poröse Ablagerungen 230 Meter dick aufgeschichtet hatten.
Eine Darstellung zeigt, daß im Frühling, im Sommer und im Frühherbst, also während der wärmeren Jahreszeiten, das Schmelzwasser von Schnee und Gletschereis in den Alluvialfächer fließt. Das Wasser fließt schneller zu, als es ablaufen kann, wodurch ein riesiges Wasserreservoir entsteht. In dem Prospekt über das Adlerreservat heißt es weiter: „Der Winter bringt einen Kälteeinbruch mit sich, der die umliegenden Gewässer gefrieren läßt. Die Wassertemperatur in diesem großen Reservoir bleibt jedoch weiterhin 5 bis 10 Grad wärmer als in den umliegenden Gewässern. Dieses wärmere Wasser wird in den Chilkat ‚gefiltert‘ und verhindert, daß er zufriert.
Fünf Lachsarten laichen in diesen Flüssen und weiteren nahen Flüssen und Wasserläufen. Die Lachswanderung beginnt im Sommer und zieht sich bis in den Spätherbst oder frühen Winter hin. Die Lachse sterben kurz nach dem Ablaichen, und die toten Fischkörper bieten den Adlern mengenweise Nahrung.“
Das Lachsfestessen dauert von Oktober bis Februar, und kurz darauf zerstreuen sich die Adler zu Tausenden weit in die umliegenden Landstriche. Für 200 bis 400 Adler ist das Reservat hingegen das ganze Jahr über das Zuhause. Zusätzlich zu den Fischen, die sie fangen, gehören zu ihrer Kost auch Wasservögel, kleine Säugetiere und Aas.
Spannende Werbung — dauerhafte „Ehen“
Adler können bis zu 40 Jahre alt werden; sie paaren sich fürs Leben, bleiben aber gewöhnlich nur in der Nistzeit zusammen. Die Zeit der Werbung beginnt im April, und gemäß der Broschüre Eagles—The Alaska Chilkat Bald Eagle Preserve „können dazu eindrucksvolle Liebesflüge von Adlern gehören, die mit ineinandergreifenden Klauen in den Sturzflug gehen und sich in der Luft überschlagen“. Und dabei noch Händchen halten? Klingt ja wildromantisch!
In dem Reservat hat man 94 Horste beobachtet. Von Ende Mai bis Anfang Juni schlüpfen in der Regel ein bis drei Junge aus; die Brutdauer beträgt 34 oder 35 Tage. Die Jungen verlassen den Horst im September, müssen sich allerdings mit einem braun und weiß getüpfelten Gefieder zufriedengeben. Das ausgefallene weiße Kopfgefieder und die weißen Schwanzfedern erhalten sie erst, wenn sie vier oder fünf Jahre alt sind.
Die Broschüre liefert auch Hintergrundinformationen über den Überlebenskampf des Adlers und gibt Sicherheitsempfehlungen für Besucher, damit die Freude am Reservat ungetrübt bleibt:
„Das Chilkat-Weißkopfseeadler-Reservat umfaßt ein 19 000 Hektar großes Adlerschutzgebiet. Der Adler war allerdings nicht immer geschützt; einst war er eine willkommene Beute für Prämienjäger. Auf Grund von Berichten über den enormen Appetit des Adlers auf frischen Lachs und auf Kleintiere wurde 1917 von der gesetzgebenden Körperschaft des Territoriums Alaska eine Abschußprämie auf Adler ausgesetzt. Veteranen des Forts William H. Seward in Haines können davon erzählen, wie sie ihr mageres Einkommen bei der Armee aufgebessert haben — für jedes Krallenpaar zahlte man ihnen einen Dollar (später sogar zwei).
Untersuchungen ergaben dann, daß der Schaden, den die Adler an den wandernden Lachsen angerichtet hatten, aufgebauscht worden war, und 1953 stellte man das Zahlen von Abschußprämien ein. Zum damaligen Zeitpunkt waren bereits mehr als 128 000 Adler abgeschossen worden. Man schätzt, daß der Adlerbestand in Südostalaska in den 40er Jahren, als die Abschußprämie noch ausgesetzt war, der Hälfte des Bestands der 70er Jahre entsprach.
Als Alaska 1959 Bundesstaat wurde, kam der Weißkopfseeadler dort unter das Weißkopfseeadler-Gesetz aus dem Jahr 1940 und wurde somit gesetzlich geschützt. Einen Adler zu töten ist eine Straftat nach Bundesrecht, und der Besitz eines lebenden oder toten Adlers oder irgendwelcher Körperteile (Federn eingeschlossen!) ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls gesetzwidrig.
Im Jahr 1972 gründete die gesetzgebende Körperschaft des Staates Alaska das Chilkat-Habitat und unterstellte es der Fish-and-Game-Behörde, um den Schutz der hauptsächlichen Adlerbestände zu gewährleisten. Ausgedehnte Flächen des Adlerhabitats blieben ungeschützt, und es tobte ein langer, oftmals erbitterter Kampf zwischen Umweltschützern und Befürwortern einer fortschrittlichen Bodennutzung im Tal des Chilkat. Ein intensiv betriebenes Forschungsprogramm der National Audubon Society sowie die öffentlich geförderte Studie der Ressourcen im Bereich Haines/Klukwan hatte zur Folge, daß sich Holzfäller, Fischer, Umweltschützer, Geschäftsleute und Lokalpolitiker schließlich auf einen Kompromiß verständigten. 1982 erhob die gesetzgebende Körperschaft Alaskas diesen Kompromiß zum Gesetz und schuf damit das 19 000 Hektar umfassende Chilkat-Weißkopfseeadler-Reservat.
In dem Reservat ist Abholzung und Bergbau zwar verboten, doch kann mit der traditionellen Nutzung des Landes wie Beerenpflücken, Fischen und Jagen fortgefahren werden. Das Reservat wird von der Alaska Division of Parks verwaltet, der ein zwölfköpfiger, aus Einheimischen, Regierungsvertretern und einem Biologen bestehender Beirat zur Seite steht.
Wie man die natürlichen Ressourcen des Tales umweltfreundlich nutzen kann, ist weiterhin ungeklärt, und Landnutzungskonflikte können noch immer Kontroversen im Tal des Chilkat auslösen. Aber die Einheimischen sind stolz darauf, daß man zum Schutz der Adler eine lokale Lösung gefunden hat.“
Das Hauptgebiet, wo der Besucher die Adler sehen kann, befindet sich entlang dem Haines Highway, der parallel zum Chilkat verläuft, und dort gibt es zu diesem Zweck eingerichtete Beobachtungsplätze.
[Karte auf Seite 15]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Chilkat River Chilkoot River
Klehini River KLUKWAN
Gebiet mit Beobachtungsplätzen
(Schwemmfächer)
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Haines Highway
Tsirku River ▴ Chilkoot Lake
Chilkat Lake ▴
Chilkat River ▴ Lutak Inlet
Takhin River ▴
HAINES
[Nachweis]
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[Bildnachweis auf Seite 15]
Weißkopfseeadler Seite 15—18: Alaska Division of Tourism