Die Herausforderung, mit dem Tourette-Syndrom zurechtzukommen
ALS kleines Kind war Edward überaktiv. In einem Anfall von Raserei leerte er Schränke, warf Kissen durch die Gegend und schleppte Stühle von einem Zimmer ins andere. Er war, wie seine Mutter sagt, die „reinste Landplage“.
Doch als er in die Schule kam, zeigte er ein noch erschreckenderes Verhalten. Zuerst gab er seltsame heulende Töne von sich. Später stellten sich Gesichts- und Halszuckungen ein. Er grunzte, bellte und stieß noch andere merkwürdige Laute aus. Er verfiel sogar ganz plötzlich in eine vulgäre Ausdrucksweise.
Ein Beobachter hätte meinen können, Edward sei ein verzogenes Kind, dem ein wenig mehr Strenge guttun würde. In Wirklichkeit litt er jedoch am Tourette-Syndrom, einer neurologischen Störung, die sich in muskulären und vokalen Tics äußert.
Bei vielen Kindern sind vorübergehende unbedeutende Tics Bestandteil einer normalen Entwicklungsphase. Das Tourette-Syndrom dagegen ist mit seinen meist lebenslang anhaltenden Symptomen die schwerste Art von Tic-Störungen.a Obwohl diese äußerst belastende Erkrankung in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen immer mehr zur Kenntnis genommen wird, ist sie doch noch vielen Menschen unbekannt, und die eigenartigen Symptome führen leicht zu Mißverständnissen.
Wodurch werden die Tics verursacht?
Die muskulären Tics, mit denen das Tourette-Syndrom einhergeht, können zugegebenermaßen absonderlich wirken. Die Zuckungen treten im Bereich des Gesichts, des Halses, der Schultern oder an den Gliedmaßen auf. Zu den Symptomen gehören auch eigentümliche Zwangshandlungen, wie zum Beispiel sich immer wieder an die Nase zu fassen, die Augen zu rollen, sich an den Haaren zu ziehen oder die Haare zurückzuwerfen.
Vokale Tics sind oft noch störender. Sie schließen unwillkürliches Räuspern, Schnüffeln, Bellen, Pfeifen, Fluchen und Wiederholen von Wörtern oder Wendungen ein. „Mit sieben Jahren sprach meine Tochter alles nach“, erzählt Holly. „Beim Fernsehen wiederholte sie alles, was sie hörte, und wenn man ihr etwas sagte, plapperte sie es nach. Sie wirkte richtig neunmalklug.“
Wodurch werden die seltsamen Tics hervorgerufen? Nach Ansicht von Fachleuten könnte ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn dazu beitragen. Allerdings gibt es über die Erkrankung noch viel zu lernen. Chemischen Abnormitäten wird großes Gewicht beigemessen, doch das American Journal of Psychiatry schreibt: „Worin die Abnormitäten genau bestehen, muß erst noch festgestellt werden.“b
Was auch immer die genaue Ursache ist, die meisten Experten halten das Tourette-Syndrom für eine körperliche Erkrankung, über die der Betroffene kaum Kontrolle hat. Einem Kind oder einem Erwachsenen, der am Tourette-Syndrom leidet, einfach zu sagen: „Hör damit auf“ oder: „Mach nicht so ein Geräusch“ ist folglich zwecklos. „Ihm liegt viel mehr daran, damit aufzuhören, als unsereinem“, heißt es in der Broschüre Coping With Tourette Syndrome. Wenn man Druck ausübt, wird die Belastung wahrscheinlich noch stärker, was dazu führen kann, daß die Tics zunehmen. Es gibt sowohl für den Betroffenen als auch für seine Angehörigen und Freunde wirksamere Möglichkeiten, mit dem Tourette-Syndrom zurechtzukommen.
Elterliche Unterstützung
Elinor Peretsman von der Tourette-Syndrom-Vereinigung sagte gegenüber Erwachet!: „Erwachsene, die mit dem Tourette-Syndrom aufgewachsen sind und jetzt ihr Leben meistern, sagen übereinstimmend, daß ihre Angehörigen ihnen enorm geholfen haben. Sie erhielten Liebe und Unterstützung und wurden nicht für ihre Lage verantwortlich gemacht oder deswegen beschimpft.“
Ein Kind, das am Tourette-Syndrom leidet, ist auf elterliche Unterstützung angewiesen und muß sie auch spüren können. Damit das erreicht wird, müssen die Eltern als Team zusammenarbeiten. Keinem von beiden sollte die Last allein aufgebürdet werden. Wenn das Kind spürt, daß sich ein Elternteil passiv verhält und sich zurückzieht, fängt es womöglich an, die Schuld an seiner Lage sich selbst zuzuschieben. „Was habe ich nur getan, daß ich so geworden bin?“ jammerte eine betroffene Jugendliche. Doch wie bereits erwähnt, sind die Tics ungewollte Abläufe. Diese Tatsache können beide Eltern dadurch bekräftigen, daß sie am Leben des Kindes regen Anteil nehmen.
Das ist anerkanntermaßen nicht immer leicht. Manchmal sind den Eltern — besonders dem Vater — die Symptome peinlich. „Ich nehme meinen Jungen nur äußerst ungern mit ins Kino oder zu Sportveranstaltungen“, gesteht ein Vater. „Die Leute drehen sich um und starren ihn an, wenn bei ihm ein Tic auftritt. Ich ärgere mich dann über ihre Reaktion, fühle mich aber hilflos, weil ich an der Situation nichts ändern kann, und am Ende lass’ ich meinen Ärger an meinem Sohn aus.“
Wie diese offene Aussage erkennen läßt, ist die größte Hürde für Eltern oft die eigene Einstellung. Sie sollten sich daher fragen: „Stört es mich mehr, daß ich in Verlegenheit gerate oder daß mein Kind in Verlegenheit gerät?“ „Man sollte Gefühle peinlicher Berührtheit unbedingt beiseite schieben“, sagt eine Mutter mit allem Nachdruck. Man darf nicht übersehen, daß die eigene Verlegenheit im Vergleich zu der des Betroffenen gering und unbedeutend ist.
Mütter dagegen müssen sich meistens davor in acht nehmen, ins andere Extrem zu verfallen und sich auf Kosten des Ehemannes und der anderen Kinder ausschließlich auf dieses eine Kind zu konzentrieren. Ausgeglichenheit ist erforderlich, damit keiner zu kurz kommt. Eltern brauchen auch Zeit für sich selbst. Eine Mutter mit Namen Holly fügt noch hinzu: „Man muß den anderen Kindern individuell Zeit widmen, damit sie sich von dem Kind mit dem Tourette-Syndrom nicht verdrängt fühlen.“ Natürlich müssen die Eltern gemeinsam an einem ausgewogenen Familienleben arbeiten.
Wie steht es mit erzieherischen Maßnahmen? Das Tourette-Syndrom schließt die Notwendigkeit der Schulung nicht aus. Ganz im Gegenteil, da die Erkrankung oft mit impulsivem Verhalten einhergeht, sind Anleitung und eine gewisse Ordnung um so wichtiger.
Natürlich ist jedes Kind anders. Art und Schweregrad der Symptome sind unterschiedlich. Experten sind jedoch der Meinung, daß man Kindern ungeachtet der Tics den Unterschied zwischen annehmbarem und unannehmbarem Verhalten beibringen kann.
Unterstützung durch Freunde
Haben wir in unserem Bekanntenkreis jemand, der am Tourette-Syndrom leidet? Wenn ja, dann können wir sehr dazu beitragen, ihm das Leben zu erleichtern. Wie?
Als erstes müssen wir lernen, den Menschen zu sehen, der sich hinter der Krankheit verbirgt. In dem Informationsblatt Harvard Medical School Health Letter wird gesagt: „Hinter den ungewöhnlichen Bewegungen, den seltsamen Lauten und dem anomalen Verhalten steckt jemand, der sich verzweifelt wünscht, normal zu sein, und das Bedürfnis hat, als Mensch und auch als Patient verstanden zu werden.“ Tourette-Kranke sind sich schmerzlich ihrer Andersartigkeit bewußt. Dieses Gefühl kann eine größere Behinderung sein als die Tics.
Wir sollten uns also von jemandem, der am Tourette-Syndrom leidet, nicht zurückziehen. Er braucht Kontakt. Und der Umgang mit ihm kann uns durchaus zugute kommen. Nancy, die Mutter eines 15jährigen betroffenen Jungen, sagt: „Wer meinem Sohn aus dem Weg geht, verpaßt die Gelegenheit, Einfühlungsvermögen zu lernen. Aus jeder Erfahrung lernt man etwas, und das Leben mit meinem Sohn hat mich gelehrt, verständnisvoller zu sein und niemand vorschnell zu verurteilen.“ Einsicht wird Freunden und Bekannten helfen, Beistand zu leisten, statt zu richten. (Vergleiche Sprüche 19:11.)
Debbie, eine Zeugin Jehovas, bei der die Symptome im Alter von 11 Jahren auftraten, berichtet: „Ich habe eine Menge Freunde im Königreichssaal; auch reisende Aufseher gehören zu denen, die mich gern haben und mit meinen Tics gut zurechtkommen.“
Hilfe für die Betroffenen
Viele sind schon erleichtert, wenn sie erfahren, daß die Tics nicht auf eine persönliche Schwäche zurückzuführen sind, sondern auf eine neurologische Störung, die einen Namen hat — Tourette-Syndrom. „Ich hatte noch nie davon gehört“, sagt Jim, „aber ich war erleichtert, als man meinem Leiden einen Namen gab. Ich dachte mir: ‚Na gut, dann bin ich wenigstens nicht der einzige.‘ So war es mir nämlich immer vorgekommen.“
Doch was kann man gegen die Tics tun? Vielen wurde durch Medikamente geholfen. Die Wirkung ist allerdings von Person zu Person unterschiedlich. Einige verspüren Nebenwirkungen wie Muskelstarre, Müdigkeit oder Depressionen. Shane, ein Jugendlicher, der mehrere Medikamente ausprobiert hat, berichtet: „Die Nebenwirkungen waren weniger erträglich als die Tics. Deshalb beschloß ich, lieber so lange wie möglich auf Medikamente zu verzichten.“ Bei anderen sind die Nebenwirkungen vielleicht nicht so stark. Darum ist es eine persönliche Entscheidung, ob man Medikamente einnimmt oder nicht.c
Mit oder ohne Medikamente — „der gesellschaftliche Terror, den es zu überwinden gilt, ist wohl eine der schwierigsten Herausforderungen“, schreibt das Parade Magazine. Kevin, ein junger Mann mit chronischen muskulären Tics, entschloß sich, der Herausforderung direkt zu begegnen. „Aus Angst, in eine peinliche Situation zu geraten“, so erzählt er, „lehnte ich früher ab, wenn mich andere zum Basketballspielen oder in die Wohnung eines Freundes mitnehmen wollten. Jetzt sage ich einfach geradeheraus, was ich habe, und fühle mich wesentlich wohler dabei.“
Was aber, wenn die Tics für andere unangenehm sind, beispielsweise bei Koprolalie, dem unwillkürlichen Ausstoßen obszöner Wörter? Der Betroffene kann in den Aussagen der Bibel Trost finden. Sie sichert uns zu, daß „Gott größer ist als unser Herz und alles weiß“ (1. Johannes 3:20). Er weiß, daß der Betroffene die „unzüchtige Rede“ ‘ablegen’ würde, wenn es sein Gesundheitszustand erlauben würde (Kolosser 3:8). Ja, unser Schöpfer versteht diese Erkrankung besser als irgendein Mensch. Er zieht niemand für eine körperliche Erkrankung zur Rechenschaft, über die derjenige keine Kontrolle hat.
Wer mit dem Tourette-Syndrom leben muß, steht täglich vor Herausforderungen. Debbie versichert allen Tourette-Kranken, daß sie trotz ihrer Situation „viel zustande bringen können“. Sie sagt: „Ich kann mich voll im Predigtwerk einsetzen und war schon oft Hilfspionier.“
Es kann natürlich sein, daß einigen, die stärkere Symptome haben, engere Grenzen gesetzt sind. Mark hat im Königreichssaal der Zeugen Jehovas schon Ansprachen in der Theokratischen Predigtdienstschule gehalten. Jetzt, im Alter von 15 Jahren, ist ihm das auf Grund von Zwangshandlungen wie Koprolalie und Schreien nicht mehr möglich. „Deswegen ist er als Zeuge Jehovas nicht weniger wert“, erklärt seine Mutter. „Mark liebt Jehova sehr und freut sich auf die Zeit, in der er von seiner schrecklichen Krankheit geheilt sein wird.“
Auch Debbie erhält durch diese Hoffnung Trost. Sie sagt: „Es ist wundervoll, zu wissen, daß ich und mit mir viele andere in der bevorstehenden neuen Welt nicht mehr das Tourette-Syndrom haben werden“ (Jesaja 33:24; Offenbarung 21:3, 4).
[Fußnoten]
a Das Tourette-Syndrom tritt bei Männern dreimal häufiger auf als bei Frauen. Deshalb gebrauchen wir hier das maskuline Geschlecht. Natürlich gelten für betroffene Frauen die gleichen Prinzipien.
b Studien haben gezeigt, daß bei der Hälfte der Tourette-Kranken auch Zwangshandlungen auftreten und daß wiederum die Hälfte Symptome einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung aufweist. Der Zusammenhang zwischen diesen Störungen und dem Tourette-Syndrom wird noch erforscht.
c Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Verhaltensstörungen ist zwar umstritten, doch manche Experten raten Eltern, darauf zu achten, ob irgendwelche Nahrungsmittel die Tics des Kindes zu verstärken scheinen.
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Die Rolle erzieherischer Maßnahmen
GANZ offensichtlich wäre es verkehrt, ein Kind für die unwillkürlichen Erscheinungen, die mit dem Tourette-Syndrom einhergehen, zu bestrafen. Sein Verhalten bedeutet nicht, daß es nicht richtig erzogen ist. Doch das Wort „Erziehung“ kann beinhalten, „durch Unterweisung und Übung zu schulen oder zu formen“. Die Tics können zwar nicht abgestellt werden, aber die Eltern können dem Kind beibringen, ein unannehmbares Verhalten, das ein Nebeneffekt der Störung ist, zu überwinden. Wie?
1. Man kann ihm beibringen, daß Handlungen nicht ohne Folgen sind. Ein Kind, das am Tourette-Syndrom leidet, muß wissen, daß seine impulsiven Handlungen Folgen nach sich ziehen. Das kann man ihm vor Augen führen, indem man ihm Fragen über alltägliche Angelegenheiten stellt, zum Beispiel: „Was passiert, wenn dieses Nahrungsmittel nicht in den Kühlschrank gestellt wird?“ Man sollte es antworten lassen. Das Kind sagt vielleicht: „Es verschimmelt.“ Darauf kann man es nach einer Maßnahme fragen, durch die sich das unerwünschte Ergebnis verhindern ließe. Wahrscheinlich wird es folgern: „Wir sollten es in den Kühlschrank stellen.“ Wenn man wiederholt und bei ganz unterschiedlichen Situationen so vorgeht, kann das Kind geschult werden, nachzudenken, bevor es impulsiv handelt.
2. Man sollte ihm Grenzen setzen. Das ist insbesondere wichtig, wenn das Kind durch sein Verhalten sich selbst oder anderen Schaden zufügen könnte. Wenn es beispielsweise unter dem Zwang steht, einen heißen Ofen anzufassen, kann man ihm sagen, daß es nicht in die Nähe des Ofens kommen darf. Einem Kind, das dazu neigt, übertrieben wütend zu werden, kann man beibringen, in ein anderes Zimmer zu gehen, bis es sich beruhigt hat. Man sollte ihm klarmachen, welche Handlungen akzeptabel sind und welche nicht.
3. Sofern möglich, sollte man dem Kind beibringen, anstößige Tics zu mildern. Einige können ihre Tics vorübergehend unter Kontrolle halten. Durch eine solche erzwungene Unterdrückung wird der Ausbruch aber oft nur hinausgezögert. Eine bessere Methode besteht darin, dem Kind zu helfen, Tics zu mildern, die in der Gesellschaft Anstoß erregen. Spucken ist zum Beispiel weniger anstößig, wenn das Kind ein Taschentuch zur Hand hat. Dadurch lernt es, die Verantwortung dafür zu übernehmen, mit diesem Symptom umzugehen, so daß es sich in der Gesellschaft zurechtfindet.
„Wir dürfen keine Angst vor erzieherischen Maßnahmen haben“, heißt es in der Broschüre Discipline and the TS Child. „Mit der Zeit erhält das Kind dadurch mehr Selbstvertrauen und das Bewußtsein, daß es selbständig handeln kann, ohne daß wir jedesmal, wenn es unter Menschen ist, dabeisein müssen.“
[Bild auf Seite 23]
„Ich lass’ mich durch meinen Gesundheitszustand nicht von normalen Betätigungen abhalten“