Verborgene Verwerfungen
AM 18. August 1994 kamen in Algerien mindestens 171 Menschen bei einem starken Erdbeben ums Leben. Es gab Hunderte von Verletzten, und Tausende wurden obdachlos. Einige Wochen zuvor hatten sich in Bolivien, in Indonesien und in Kolumbien ebenfalls schwere Beben ereignet, die insgesamt mehrere hundert Menschenleben forderten.
Wußten wir von diesen schweren Erdbeben? Wahrscheinlich nicht, es sei denn, wir waren persönlich betroffen oder wir leben in einem Nachbarland. Wenn es dagegen in Kalifornien (USA) zu einem starken Erdbeben kommt, verbreitet sich die Nachricht darüber wie ein Lauffeuer, und fast sofort sind wissenschaftliche Daten verfügbar.
Das rührt daher, daß keine andere Region so gründlich von Wissenschaftlern erforscht wird wie Südkalifornien, wo mehr als 700 Seismometer selbst schwache Beben, Beben der Magnitude 1,5, registrieren. Das Heer von Wissenschaftlern in diesem Gebiet erklärt die Fülle von Erkenntnissen, die dort über Erdbeben gewonnen werden.
Neue Erkenntnisse
Die intensiven Forschungen haben zweifellos dazu beigetragen, daß Wissenschaftler in vielen Ländern das Phänomen Erdbeben besser verstehen und sogar versuchen, sie rechtzeitig vorherzusagen, um Menschenleben zu retten. Dieser Zweig der Naturwissenschaft ist äußerst wichtig, denn jedes Jahr verwüsten etwa 40 schwere Erdbeben Teile der Erde. Es kommt auch zu kleineren Erdbeben, die im Grunde ungefährlich, aber dennoch fühlbar sind. Jedes Jahr ereignen sich 40 000 bis 50 000 solcher Beben.
Die meisten Erdbeben entstehen offensichtlich dadurch, daß große Platten des Grundgesteins unter Belastung aufbrechen und sich in neue Positionen schieben. Brüche im oberen Erdmantel sind in der Regel die Ursache dafür. Diese Bruchzonen nennt man Verwerfungen oder Störungen.
In den meisten Fällen sind Wissenschaftler in der Lage, die Störungen zu kartieren und dadurch seismisch gefährdete Gebiete zu bestimmen. Warum nur in den meisten Fällen? Weil die Wissenschaftler unlängst feststellen mußten, daß ihre Karten doch nicht so umfassend sind, wie sie dachten. Zum Beispiel sind sie über kürzlich gewonnene Erkenntnisse beunruhigt, die zeigen, daß sich in Kalifornien die Mehrzahl der instrumentell meßbaren Erdbeben an verborgenen Verwerfungen ereignen — sehr häufig in Gegenden, die von Geologen früher für relativ erdbebensicher gehalten wurden.
Die Geologen Ross Stein vom Amerikanischen Geologischen Dienst und Robert Yeats von der Universität von Oregon sagten: „Sanft gewelltes oder gefaltetes Gelände ... weckt ganz und gar keine Assoziationen von Naturgewalten, sondern suggeriert eher Frieden als Gefahr.“ Dennoch sind sie bei ihren Forschungen auf durch Erdbeben hervorgerufene aktive Verwerfungen unter gefalteten Gesteinsgewölben gestoßen, von denen viele wegen des Erdöls, das sich dort angesammelt hat, angebohrt werden. Wieso sind diese Verwerfungen so lange unentdeckt geblieben, und wie groß ist die Gefahr, die sie darstellen?
Eine Gefahr, die nicht ignoriert werden darf
Geologen wissen seit langem, daß Gesteinsblöcke gestaucht werden können und sich dann falten — ähnlich wie ein Teppich beim Zusammenschieben Falten wirft. Man nahm jedoch allgemein an, daß es sich dabei um einen allmählichen Prozeß handelt. Jüngste Beobachtungen aktiver Gesteinsauffaltungen haben hingegen gezeigt, daß sie sich abrupt aufwölben — manchmal 5 Meter in einigen Sekunden. Durch die Faltung werden die darunterliegenden Gesteinsmassen zusammengedrückt. Die dadurch entstehende Spannung läßt das Gestein tief unter der Falte aufbrechen, und die Gesteinsblöcke schieben sich übereinander. Die scheinbar ungefährlichen Falten, unter denen sich aktive Verwerfungen verbergen, reifen zu Erdbeben heran, bevor Seismologen die Gelegenheit haben, sie zu ermitteln. Solche tief verborgenen, aktiven Verwerfungen können ebenso schwere Erdbeben auslösen wie markante, an der Erdoberfläche erkennbare Störungen.
Das Erdbeben, das sich am 17. Januar 1994 in Northridge im Großraum Los Angeles ereignete, ist ein jüngeres Beispiel dafür, was eine verborgene Verwerfung anrichten kann. Das Beben wurde durch eine aktive Verwerfungszone verursacht, die sich in einer Tiefe von 8 bis 19 Kilometern gebildet hatte. Vor dem Erdbeben wußten Wissenschaftler nichts von dem Vorhandensein dieser Störung. Es gab 61 Tote und mehr als 9 000 Verletzte, und großer Sachschaden entstand.
Wie Wissenschaftler vermuten, sind verborgene Verwerfungen der Auslöser einer Reihe von schweren Erdbeben, nicht nur in Kalifornien, sondern auch in Algerien, Argentinien, Armenien, Indien, im Iran, in Japan, Kanada, Neuseeland und in Pakistan. In den letzten Jahrzehnten sind in diesen Ländern Tausende von Menschen ums Leben gekommen, und zwar durch Erdbeben, die möglicherweise durch verborgene Verwerfungen ausgelöst wurden.
Wissenschaftler sind nun gefordert, herauszufinden, wo die aktiven Falten auftreten, und vorauszusagen, inwieweit sie eine Erdbebengefahr darstellen. Bis dahin wird man die zerstörerische Macht eines scheinbar friedlichen, sanft gewellten Hügels nicht unterschätzen.
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Schrumpft Los Angeles?
Ein ausgedehntes Netz von Verwerfungen und Falten unter Los Angeles (Kalifornien) bewirkt, daß jenes Gebiet extrem erdbebengefährdet ist. Vermutlich fängt das Los-Angeles-Becken einen Großteil des Druckes auf, der durch den in der Nähe vorbeiführenden Knick der San-Andreas-Störung hervorgerufen wird. (Siehe Erwachet! vom 22. Juli 1994, Seite 15 bis 18.) Geologen vor Ort schätzen, daß das Los-Angeles-Becken — bedingt durch den Faltungsprozeß, der aus dieser Pressung resultiert — jährlich ein zehntel Hektar Land verliert.
[Bildnachweis auf Seite 21]
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