Ein Dorf auf Pfählen
Von unserem Korrespondenten in Benin
IN EINEM Reiseführer über Westafrika heißt es: „Ganvié gehört zu den touristischen Hauptattraktionen von Benin.“ In einem anderen Werk kann man lesen: „Die Afrikaner sind selbst ganz fasziniert von Ganvié; man sieht genauso viele afrikanische wie westliche Touristen.“
Ganvié ist wirklich einzigartig. Das Dorf mit 15 000 Bewohnern, das auf Pfählen über den Wassern des Lac Nokoué errichtet wurde, liegt nördlich von Cotonou (Benin). Es gibt in Ganvié weder Fahrräder noch Autos, weder Bürgersteige noch Straßen. Wenn die Einwohner zur Schule, auf den Markt, in die Buschklinik, zum Nachbarn oder sonstwohin möchten, steigen sie in einen Einbaum, der aus einem Irokobaumstamm hergestellt wurde.
Die meisten Familien besitzen mehrere Boote: eins für den Vater, eins für die Mutter und manchmal auch eins für die Kinder. Die Kinder lernen schon früh paddeln. Im Alter von fünf Jahren kann ein Kind den Einbaum ganz allein steuern. Schon bald traut sich der Junge oder das Mädchen zu, im Boot zu stehen, um ein kleines Netz auszuwerfen. Manche Kinder geben vor den Augen der Besucher gern ein bißchen an, indem sie in ihrem Einbaum einen Kopfstand machen.
Auf Ganviés schwimmendem Markt haben die Händler, meist Frauen, in ihren Booten die Waren vor sich aufgetürmt: Gewürze, Früchte, Fische, Medizin, Feuerholz, Bier und sogar Kofferradios. Durch Strohhüte mit riesigen Krempen vor der Tropensonne geschützt, verkaufen sie die Waren an diejenigen, die zum Einkaufen zu ihnen gepaddelt kommen. Manche Verkäuferinnen sind kleine Mädchen. Man lasse sich jedoch nicht durch das Alter täuschen. Sie beherrschen schon früh die dem Händler eigene Kunst des Feilschens.
Während die Frauen auf dem Markt kaufen und verkaufen, beschäftigen sich die Männer mit dem Fischen oder besser gesagt mit der Fischzucht. Zu ihrer Fischfangmethode gehört es, Hunderte von Zweigen in den schlammigen Grund der Lagune zu stecken, wodurch ein dichtes Flechtwerk aus Stöcken entsteht. Die Fische kommen in Schwärmen zu den vermodernden Zweigen, die ihnen als Nahrung dienen. Nach einigen Tagen kehren die Männer mit Netzen zurück, um die Fische zu fangen.
Vom Versteck zur Touristenattraktion
Die Tofinu von Ganvié waren nicht immer „Wassermenschen“, wie sie heute genannt werden. Anfang des 18. Jahrhunderts flohen sie zu dem See und seinen Sumpfgebieten, um der Verfolgung durch ein benachbartes afrikanisches Königreich zu entgehen. Gemäß der Aussage von Gelehrten spiegelt sich diese Geschichte im Namen Ganvié wider, denn in der Sprache der Tofinu kann das Wort gan mit „wir sind gerettet“ wiedergegeben werden, und das Wort vie bedeutet „Gemeinschaft“. Frei übersetzt, bedeutet der Name des Hauptdorfes der Seesiedlungen daher „die Gemeinschaft von Menschen, die endlich Frieden gefunden haben“.
Zuflucht in der Sumpfgegend um den Lac Nokoué zu suchen war eine erfolgreiche Taktik, weil die Religion des verfeindeten Königreiches jedem Soldaten verbot, sich in Gewässer zu wagen oder in überschwemmungsgefährdete Gebiete. Der See bot also zum einen die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, zum anderen war er ein Zufluchtsort vor dem Feind. Es ist schon paradox, daß dieses heute so berühmte Dorf, das von Strömen von Touristen in Motorbooten besucht wird, einst ein Versteck war.