Sichelzellenanämie — Wissen ist die beste Verteidigung
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN NIGERIA
IN DEM Konferenzraum sind 32 Personen versammelt, hauptsächlich Frauen und Kinder. Die sechsjährige Tope, ein zerbrechlich wirkendes, in Rosa gekleidetes Mädchen, sitzt ganz ruhig auf einem Holzstuhl neben ihrer Mutter. Sie hört der Krankenschwester zu, die erklärt, was zu tun ist, wenn der Schmerz einsetzt.
Tope kennt diesen Schmerz. Er setzt urplötzlich mit einer heftigen Intensität ein, und es dauert Tage, bis er nachläßt. Vielleicht ist es dieser Schmerz, der sie ernster sein läßt als andere Kinder in ihrem Alter.
„Sie ist mein ältestes Kind“, sagt ihre Mutter. „Von Geburt an war sie immer krank. Ich bin mit ihr in viele Kirchen gegangen, und man betete für sie. Aber sie wurde immer wieder krank. Schließlich brachte ich sie in ein Krankenhaus. Bluttests ergaben, daß sie an Sichelzellenanämie leidet.“
Was ist Sichelzellenanämie?
Wie Topes Mutter im Zentrum für Sichelzellenanämie in Benin City (Nigeria) erfuhr, ist Sichelzellenanämie eine Erkrankung des Blutes. Im Gegensatz zu abergläubischen Vorstellungen hat die Krankheit nichts mit Hexerei oder mit den Geistern Verstorbener zu tun. Kinder mit Sichelzellenanämie haben die Krankheit von beiden Elternteilen geerbt. Sie ist nicht ansteckend. Es gibt keinen Übertragungsweg, durch den man sie sich zuziehen könnte. Entweder man wird damit geboren oder nicht. Topes Mutter erfuhr auch, daß es zwar keine Heilung gibt, daß aber die Krankheitssymptome behandelt werden können.a
Es sind größtenteils Menschen afrikanischer Herkunft, die an Sichelzellenanämie leiden. Dr. I. U. Omoike, Direktor des Zentrums für Sichelzellenanämie, sagte gegenüber Erwachet!: „Von allen Staaten hat Nigeria die größte schwarze Bevölkerung und daher auch von allen Staaten die höchste Zahl an Sichelzellenanämiekranken. Damit ist Nigeria die ‚Hochburg‘ der Sichelzellenanämie.“ Wie die in Lagos erscheinende Zeitung Daily Times berichtete, leiden rund eine Million Nigerianer an Sichelzellenanämie, und jährlich sterben etwa 60 000 daran.
Eine Erkrankung des Blutes
Man muß die Aufgabe des Blutes kennen und wissen, wie es im Körper zirkuliert, um zu verstehen, was Sichelzellenanämie ist. Dazu eine Veranschaulichung: Stellen wir uns ein Land vor, das auf importierte Nahrungsmittel angewiesen ist, um die auf dem Land lebenden Menschen mit Nahrung zu versorgen. Lastwagen fahren in die Hauptstadt, wo sie mit Nahrungsmitteln beladen werden. Sie verlassen die Stadt auf großen Hauptstraßen, doch sobald sie in ländliche Gegenden kommen, werden die Straßen enger.
Alles läuft optimal, die Lastwagen erreichen ihren Bestimmungsort, laden die Nahrungsmittel ab und fahren dann in die Stadt zurück, um Nahrungsmittel für die nächste Lieferung zu holen. Wenn jedoch etliche Lastwagen eine Panne haben, verderben die Nahrungsmittel, und die anderen Lastwagen werden am Weiterfahren gehindert. In diesem Fall haben die Leute in den Dörfern wenig zu essen.
Nun übertragen wir die Veranschaulichung. Die roten Blutkörperchen strömen zur Lunge und nehmen dort Sauerstoff auf — die Nahrung für den Körper. Dann verlassen sie die Lunge und strömen schnell durch die großen Arterien in alle Teile des Körpers. Schließlich werden die „Straßen“ so eng, daß die roten Blutkörperchen nur noch einzeln durch die winzigen Blutgefäße hindurchgelangen. Dort geben sie den Sauerstoff ab, der als Zellnahrung dient.
Ein normales rotes Blutkörperchen ist rund wie eine Münze und bewegt sich mit Leichtigkeit auch durch die feinsten Blutgefäße. Bei Sichelzellenanämiekranken haben die roten Blutkörperchen eine „Panne“. Sie verlieren ihre runde Form und nehmen die Form einer Banane oder einer Sichel an, dem Arbeitsgerät von Bauern. Die sichelförmigen Blutkörperchen bleiben in den Äderchen stecken wie ein Lastwagen im Schlamm und blockieren andere rote Blutkörperchen. Kann das Blut nicht mehr ungehindert in einen Teil des Körpers fließen, wird die Sauerstoffzufuhr unterbrochen, und die Folge davon ist eine Schmerzkrise.
Bei einer typischen Krise leidet der Kranke unter unerträglichen Knochen- und Gelenkschmerzen. Die Krisen sind nicht vorhersagbar; sie können selten auftreten oder aber jeden Monat. Eine Schmerzkrise bringt sowohl für die Eltern als auch für das Kind eine große Belastung mit sich. Ihunde ist Krankenschwester und arbeitet in einem Zentrum für Sichelzellenanämie. „Der Umgang mit einem Kind, das Sichelzellenanämie hat, ist nicht leicht“, sagt sie. „Ich weiß das, denn meine Tochter hat diese Krankheit. Der Schmerz kommt ganz plötzlich. Sie schreit und weint dann, und ich weine auch. Erst nach zwei oder drei Tagen läßt der Schmerz nach, manchmal aber auch erst nach einer Woche.“
Die Symptome
Oftmals treten die Symptome auf, wenn das Kind sechs Monate alt ist. Ein erstes Anzeichen ist das schmerzhafte Anschwellen der Hände oder Füße; manchmal schwellen beide gleichzeitig an. Das Kind weint möglicherweise oft und ißt wenig. Das Weiße in den Augen kann gelb erscheinen. Zunge, Lippen und Handflächen mögen blasser sein als normal. Ein Kind mit diesen Symptomen sollte ins Krankenhaus gebracht werden, wo sich durch einen Bluttest feststellen läßt, ob es an Sichelzellenanämie leidet.
Verstopfen Sichelzellen Blutgefäße, kommt es vorwiegend zu Gelenkschmerzen. Eine schwere Schmerzkrise kann auch die Tätigkeit des Gehirns, der Lunge, des Herzens, der Nieren oder der Milz unterbrechen — manchmal mit tödlichen Folgen. An den Beinen können sich in der Knöchelgegend Geschwüre bilden, die jahrelang bestehenbleiben. Kinder laufen Gefahr, einen Schlaganfall oder Krämpfe zu bekommen. Wer an Sichelzellenanämie leidet, ist besonders anfällig für Infektionskrankheiten, weil die Krankheit die Abwehrkräfte schwächt. Infektionen sind eine häufige Todesursache.
Natürlich zeigen sich nicht bei jedem Sichelzellenanämiekranken alle diese Symptome. Und bei einigen treten erst im späten Teenageralter Probleme auf.
Die Behandlung
Viele Eltern haben Zeit und Geld für Behandlungsmethoden verschwendet, von denen sie sich eine Heilung für ihr Kind versprachen. Gegenwärtig gibt es für Sichelzellenanämie jedoch keine Heilung; es ist eine lebenslange Krankheit. Durch einige einfache Maßnahmen läßt sich die Häufigkeit der Schmerzkrisen hingegen reduzieren, und es gibt Mittel und Wege, ihnen zu begegnen.
Bei einer Schmerzkrise sollten Eltern ihrem Kind reichlich Wasser zu trinken geben. Auch leichte Schmerzmittel können angebracht sein. Bei starken Schmerzen sind womöglich stärkere Medikamente erforderlich, die nur ein Arzt verordnen kann. Leider verschaffen manchmal selbst starke Arzneimittel keine Erleichterung. Es gibt jedoch keinen Grund zur Panik. Fast immer läßt der Schmerz einige Stunden oder Tage später nach, und der Kranke erholt sich wieder.
Wissenschaftler forschen nach Arzneimitteln zur Behandlung der Sichelzellenanämie. Wie das amerikanische Institut für Herz-, Lungen- und Blutkrankheiten Anfang 1995 verkündete, konnte durch Hydroxyharnstoff die Häufigkeit der Schmerzkrisen um die Hälfte reduziert werden. Der Wirkungsmechanismus soll darin bestehen, die roten Blutkörperchen davon abzuhalten, ihre Form zu verändern und die Blutgefäße zu verstopfen.
Solche Arzneimittel sind nicht überall sofort erhältlich, noch helfen sie in jedem Fall. Und trotz der bekannten Gefahren verabreichen Ärzte in Afrika und anderswo Patienten mit Sichelzellenanämie immer wieder im Notfall Bluttransfusionen.
Schmerzkrisen vorbeugen
„Wir sagen unseren Patienten, daß sie reichlich Wasser trinken sollen, um Krisen vorzubeugen“, sagt Alumona, eine Beraterin in Fragen Genetik in einem Zentrum für Sichelzellenanämie. „Wasser bewirkt, daß das Blut in den Gefäßen leichter strömen kann. Erwachsene mit Sichelzellenanämie sollten täglich drei bis vier Liter Wasser trinken. Kinder trinken natürlich weniger. Wir bringen den Kindern bei, Wasserflaschen in die Schule mitzunehmen. Lehrer sollten Verständnis haben, wenn diese Kinder öfter darum bitten, auf die Toilette zu gehen. Und Eltern müssen wissen, daß Kinder mit Sichelzellenanämie häufiger ins Bett machen als andere Kinder.“
Da Krankheiten eine gefährliche Schmerzkrise auslösen können, müssen Sichelzellenanämiekranke alles tun, um die ihnen verbliebene Gesundheit zu bewahren. Sie sollten daher anstrengende Arbeiten meiden, sich ausgewogen und gesund ernähren und auf Körperpflege achten. Als Nahrungsergänzung empfehlen Ärzte außerdem Multivitamine und Folsäure.
In Endemiegebieten der Malaria tun an Sichelzellenanämie Erkrankte gut daran, sich zu schützen. Sie müssen sich sowohl vor den Bissen der Stechmücken in acht nehmen als auch Medikamente zur Vorbeugung gegen Malaria einnehmen. Da Malaria die roten Blutkörperchen zerstört, kann sie für Sichelzellenanämiekranke besonders gefährlich sein.
Wer an Sichelzellenanämie leidet, sollte sich auch regelmäßig medizinisch untersuchen lassen. Jede Infektion, Krankheit oder Verletzung erfordert eine unverzügliche Behandlung. Ein genaues Befolgen dieser Richtlinien wird es vielen Betroffenen ermöglichen, ein normales und glückliches Leben zu führen.
Wie die Krankheit auf Kinder vererbt wird
Man muß etwas über die Hämoglobin-Genotypen wissen, um zu verstehen, auf welche Weise sich die Sichelzellenanämie von den Eltern auf die Kinder vererbt. Ein Hämoglobin-Genotypb ist etwas anderes als eine Blutgruppe; er hat etwas mit den Genen zu tun. Die meisten Menschen haben den Hämoglobin-Genotyp Hb-A/Hb-A. Diejenigen, die von dem einen Elternteil ein Hb-A-Gen und von dem anderen Elternteil ein Hb-S-Gen geerbt haben, haben den Hämoglobin-Genotyp Hb-A/Hb-S. Diese Menschen leiden selbst nicht an Sichelzellenanämie, sie können die Krankheit aber an ihre Nachkommen weitergeben. Ein Kind, das sowohl von der Mutter als auch vom Vater ein Hb-S-Gen erbt, hat den Hämoglobin-Genotyp Hb-S/Hb-S, den Genotyp der Sichelzellenanämie.
Somit hat ein Kind nur dann den Hb-S/Hb-S-Typ, wenn ihm jeder Elternteil das defekte Hb-S-Gen vererbt. Ebenso, wie zur Zeugung eines Kindes zwei Menschen erforderlich sind, so sind auch zwei Menschen zur Vererbung der Sichelzellenanämie erforderlich. In der Regel wird die Krankheit vererbt, wenn beide Elternteile den Hämoglobin-Genotyp Hb-A/Hb-S aufweisen. Heiraten ein Mann und eine Frau, die beide diesen Typ haben, ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein Kind der beiden den Hb-S/Hb-S-Typ haben wird, 1 zu 4.
Falls ein solches Ehepaar vier Kinder hat, bedeutet das allerdings nicht, daß drei Kinder gesund sind und ein Kind an Sichelzellenanämie leidet. Es ist möglich, daß eines der vier Kinder den Hb-S/Hb-S-Typ hat, doch genausogut kann dies bei zwei, drei oder sogar bei allen vier Kindern der Fall sein. Es wäre auch möglich, daß keines der Kinder den Hb-S/Hb-S-Typ hat.
Vor der Heirat eine fundierte Entscheidung treffen
Menschen afrikanischer Herkunft sollten vernünftigerweise schon lange bevor sie ans Heiraten denken, ihren Hämoglobin-Genotyp bestimmen lassen. Das kann durch einen Bluttest geschehen. Personen mit dem Hb-A/Hb-A-Typ können sicher sein, daß keines ihrer Kinder Sichelzellenanämie haben wird, ganz gleich, wen sie heiraten. Personen mit dem Hb-A/Hb-S-Typ sollten wissen, daß das Risiko, ein Kind mit Sichelzellenanämie zu bekommen, sehr hoch ist, wenn sie jemand heiraten, der ebenfalls den Hb-A/Hb-S-Typ hat.
Während viele Ärzte Personen mit dem Hb-A/Hb-S-Typ strikt davon abraten, jemand zu heiraten, der den gleichen Genotyp hat, lassen die Berater des Zentrums für Sichelzellenanämie die Betreffenden ihre eigene Entscheidung treffen. Dr. Omoike sagte: „Unsere Aufgabe besteht nicht darin, den Leuten angst zu machen oder ihnen zu sagen, wen sie heiraten sollen oder wen nicht. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob ein Mann und eine Frau, die beide den Hb-A/Hb-S-Typ haben, ein Kind mit dem Hb-S/Hb-S-Typ bekommen werden, denn das ist eine Sache des Zufalls. Selbst wenn das Kind diesen Typ haben sollte, mag es die Krankheit ohne übermäßig viele Probleme verkraften. Wir möchten jedoch, daß alle wissen, welchen Hämoglobin-Genotyp sie haben. Und wir möchten ihnen bereits im voraus behilflich sein, sich darüber im klaren zu sein, was geschehen könnte, damit sie, wenn ihr Kind den Hb-S/Hb-S-Typ aufweist, nicht überrascht sind. Auf diese Weise können sie nicht nur eine Entscheidung treffen, die auf fundiertem Wissen beruht, sondern sie können sich auch emotional darauf einstellen, die Folgen ihrer Entscheidung zu akzeptieren.“
[Fußnoten]
a Weitere erbliche Arten der Sichelzellenanämie, die die Fähigkeit des Blutes, Sauerstoff zu transportieren, beeinträchtigen, sind die Sichelzellen-Hb-C-Krankheit und die Sichelzellen-Beta-Thalassämie.
b Abkürzung für Hämoglobin: Hb.
[Kasten auf Seite 24]
Wie wichtig Liebe ist
Joy, Anfang zwanzig, leidet an Sichelzellenanämie. Seitdem sie eine Zeugin Jehovas ist, lehnt sie Bluttransfusionen strikt ab. Ola, ihre Mutter, erzählt: „Ich habe immer darauf geachtet, daß sich Joy richtig ernährt, damit ihr Blut aufgebaut wird. Meiner Ansicht nach ist die liebevolle Zuwendung der Eltern sehr wichtig. Joys Leben ist für mich äußerst kostbar, genauso wie das Leben meiner übrigen Kinder. Natürlich braucht jedes Kind Liebe, aber wieviel mehr dasjenige, das mit einer Krankheit zu kämpfen hat.“
[Bilder auf Seite 23]
Tope hat Sichelzellen wie diejenigen, auf die die Pfeile deuten
[Bildnachweis]
Sichelzellen: Mit frdl. Gen.: American Society of Hematology Slide Bank (image # 1164)