Das Mondgebirge
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN KENIA
JAHRHUNDERTE ging das Gerede um, irgendwo in Zentralafrika gebe es schneebedeckte Berge, die die Quellflüsse des Nil speisten. Die Vorstellung, daß in Afrika nahe dem Äquator Schnee liegt, hatte allerdings etwas Befremdendes an sich. Doch schon Anfang des 2. Jahrhunderts u. Z. hatte der griechische Geograph Ptolemäus auf die Existenz dieser Berge hingewiesen und sie Lunae Montes genannt: Mondgebirge.a
Jahrhundertelang war alle Mühe, dieses Gebirge ausfindig zu machen, vergebens. Aber dann, an einem Tag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beobachtete der Forschungsreisende Henry Stanley — bekannt, weil er den verschollenen Dr. David Livingstone fand — zufällig ein Naturschauspiel. Die Wolkendecke, die das Gebirge vor den Augen früherer Forscher verborgen gehalten hatte, löste sich kurz auf und gab einen phantastischen Blick auf eine Gruppe schneebedeckter Gipfel frei. Er hatte das Mondgebirge entdeckt. Doch er gab ihm den Namen, den die Einheimischen damals gebrauchten: Ruwenzori, was „Regenmacher“ bedeutet.
Heute ist man sich generell einig, daß der Ruwenzori nur eine untergeordnete Rolle dabei spielt, den Nil zu speisen. Den Namen Mondgebirge hat er jedoch im Volksmund behalten. Und trotz zahlreicher Expeditionen umgibt dieses eindrucksvolle Gebirge immer noch eine geheimnisvolle Aura. Direkt nördlich vom Äquator gelegen, bildet der Ruwenzori eine natürliche Grenze zwischen Uganda und der Demokratischen Republik Kongo. Sie erstreckt sich über 130 Kilometer und ist 50 Kilometer breit.
Im Unterschied zu den meisten Bergen Ostafrikas, die vulkanischen Ursprungs sind, besteht der Ruwenzori aus einem riesigen Block Erdkruste, der vor Tausenden von Jahren durch gewaltigen Druck emporgehoben wurde. Obgleich das Gebirge an seinem höchsten Punkt 5 109 Meter erreicht, bekommt es nur selten jemand zu Gesicht. Die meiste Zeit ist es in Nebel und Wolken gehüllt.
Wie der Name ahnen läßt, gibt es im Ruwenzori überreichlich Regen und Schnee, wobei die Trockenzeit kaum trockener ist als die Regenzeit. Ein Fußmarsch in diesem Gebiet ist nicht ungefährlich; an manchen Stellen kann man bis zu den Hüften im Morast versinken. Die schweren Regenfälle haben eine Reihe bezaubernder kleiner Seen entstehen lassen, die die außergewöhnlich dichte Vegetation an den Hängen mit Feuchtigkeit versorgen. Der Ruwenzori beherbergt eine Anzahl bizarrer Pflanzen, die sich zum Teil durch Riesenwuchs auszeichnen.
Eine Lobelienart beispielsweise, die anderswo nicht einmal 30 Zentimeter hoch wird, kann im Ruwenzori 6 Meter erreichen und sieht wie behaarte Riesenfinger aus. Die Senecien, gigantische Vettern des Kreuzkrautes, muten wie Riesenkohlköpfe auf Baumstämmen mit Zweigen an. Moosbewachsene Baumheide schießt 12 Meter in die Höhe. Blumen mit den verschiedensten Farben und Duftnoten steigern die Schönheit der Landschaft. Und es gibt eine Vielfalt schöner Vögel, von denen einige nur im Ruwenzori vorkommen. An den unteren Hängen leben Elefanten, Schimpansen, Buschböcke, Leoparden und Stummelaffen.
Ein herrlicher Blick
Wer die Bergpfade hinaufsteigt, streift durch einen tropischen Regenwald und überquert mehrmals den Bujuku. Wenn er sich in einer Höhe von 3 000 Metern umschaut, hat er einen phantastischen Blick auf den Zentralafrikanischen Graben.
Weiter oben liegt das mit Tussockgras und Baumheide bewachsene untere Bigomoor. Man versinkt dort oft knietief im Morast. Ein steiler Aufstieg zum oberen Bigomoor und zum Bujukusee oberhalb des Bujukutals in etwa 4 000 Meter Höhe gibt einen herrlichen Blick auf Mount Baker, Mount Luigi di Savoia, Mount Stanley und Mount Speke frei, die bekanntesten Gipfel des Massivs.
Noch höher liegt das ewige Eis des Elenagletschers. Um ihn zu besteigen, braucht man Steigeisen, ein Seil und Eispickel. Als nächstes folgt eine Wanderung über das Stanleyplateau zum Margheritagipfel (an der Spitze des Mount Stanley), dem höchsten Gipfel der Ruwenzorigebirgskette. In dieser Höhe hat man einen geradezu überwältigenden Blick auf die umliegenden Berge, Täler, Wälder, Flüsse und Seen.
Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß dieses Gebirge bezwungen ist. Der Ruwenzori hat gerade erst begonnen, seine Geheimnisse preiszugeben. Seine geologische Beschaffenheit und seine Flora und Fauna sind noch weitgehend unbekannt. Der Ruwenzori bleibt also von Geheimnissen umgeben, die nur sein weiser und allmächtiger Erschaffer genau kennt. Ja, er ist es, „dem die Gipfel der Berge gehören“ (Psalm 95:4).
[Fußnote]
a Wie Emil Ludwig in seinem Buch Geheimnisvoller Nil schreibt, konnten sich die Eingeborenen früher den Schnee auf den Bergen nicht erklären. So glaubten sie, „der Berg habe das Licht des Mondes auf sich herabgezogen“.
[Bilder auf Seite 17]
1 Meistens ist der Ruwenzori in eine dichte Wolkendecke gehüllt
2 Die heftigen Güsse des „Regenmachers“ halten die moosbedeckten Hänge feucht
3 Entlang dem Pfad gibt es viele Blumen zu betrachten und Düfte wahrzunehmen