Ecuador — Ein Land zu beiden Seiten des Äquators
ALS Touristen aus Europa fiel meiner Frau und mir in Ecuador als erstes der Äquator auf. Es handelt sich zwar um eine unsichtbare Linie, aber sein Einfluß auf Ecuador ist unverkennbar.
„Ecuador“ ist das spanische Wort für Äquator. Man könnte meinen, daß der Äquator auch das Klima des Landes regiert. Doch kaum waren wir angekommen, stellten wir schon fest, daß Hitze oder Kälte hier mehr mit der Höhenlage zu tun hat als mit der geographischen Lage. Da die Sonne in diesen Breiten das ganze Jahr über hoch am Himmel steht, ist die Höhe über dem Meeresspiegel einer der besten Anhaltspunkte dafür, wie viele Schichten Kleidung man anziehen sollte.
Während der Äquator das Land prägt, geben die Anden dem Land Charakter. Diese majestätischen Berge, die das Rückgrat von Ecuador bilden, zaubern unendlich viele Landschaftsbilder hervor.
Buntes Farbenspiel
Das zweite, was uns an Ecuador beeindruckte, waren die Farben. Bald nach unserer Ankunft saßen wir eines Morgens im Schatten einiger großer Bäume. Die Flötenmelodien der Trupiale, das anhaltende Gezänk der Kaktuszaunkönige und die schrillen Laute der kecken Ameisenpittas hießen uns willkommen. Doch ihre Farben waren noch eindrucksvoller als ihr Gesang.
Wie ein grellroter Blitz schoß ein Rubinköpfchen von seinem Sitzplatz aus auf eine Mücke zu. Eine Schar hellgrüner Feuerflügelsittiche machte lautstark auf sich aufmerksam, als sie einen vorbeiziehenden Truthahngeier ankeifte. Die gelb-schwarzen Trupiale und die blau schillernden Morphofalter setzten dem unvergeßlichen Bild noch zusätzliche Farbtupfer auf.
Während unserer Reise durch das Land fiel uns auf, daß die leuchtenden Farben der Vögel und Schmetterlinge in der Kleidung und im Kunsthandwerk Ecuadors wiederkehrten. Das helle Rot des Rubinköpfchens zum Beispiel begegnete uns auf den Röcken der Indianerinnen von Cañar wieder. Und die bunten Wandteppiche der Indios aus Otavalo schienen alle Farben Ecuadors eingefangen zu haben.
Klimatische Unterschiede
Die Kombination von Äquator und Anden verursacht in Ecuador krasse Klimaunterschiede. Auf einer Strecke von einigen Kilometern Luftlinie kann das Klima von der feuchten tropischen Hitze des Amazonastieflands zur Kälte der schneebedeckten Berggipfel wechseln.
An einem Tag fuhren wir von den Andenausläufern am Rand des Amazonastieflands, des Oriente, zu den hohen Bergen bei Quito. Während unser Auto immer höher kroch, beobachteten wir den allmählichen Übergang vom tropischen Regenwald zum Nebelwald, der von einem urwüchsigen Moorland, dem Paramo, abgelöst wird. Durch die abrupt wechselnden Kulissen hatten wir den Eindruck, innerhalb von Stunden von Äquatorialafrika bis ins schottische Hochland zu reisen.
Viele ecuadorianische Dörfer und Städte liegen in Tälern, die in die Berge eingebettet sind, und haben das ganze Jahr über ein als frühlingshaft beschriebenes Klima. In den hochgelegenen Andenstädten herrscht dagegen ständig Aprilwetter, und manchmal fallen alle vier Jahreszeiten auf einen Tag. Ein erfahrener Ecuadorreisender hat einmal gesagt: „Das einzige, worauf man sich beim Wetter in Ecuador verlassen kann, ist seine Unzuverlässigkeit.“
Kolibris und Kondore
Die unterschiedlichen Klimabedingungen sorgen für eine reiche Fauna und Flora. In Ecuador gibt es über 1 500 Vogelarten — doppelt so viele wie in den Vereinigten Staaten und Kanada zusammengenommen und ein Sechstel aller bekannten Arten der Welt. Sie alle kommen in einem Land vor, das kleiner ist als Italien.
Die kleinen Kolibris hatten es uns besonders angetan; sie sind mit etwa 120 Arten in Ecuador vertreten. Als erstes sahen wir sie in Parks, wo sie schon in aller Frühe blühende Sträucher absuchten. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich von den dichten Regenwäldern des Oriente bis zu den windgepeitschten Hängen der Anden.
In dem Ort Baños brachten wir eine geschlagene Stunde damit zu, einem Veilchenohrkolibri zuzusehen, wie er sich an einem Büschel roter Hibiskusblüten labte. Während er unermüdlich im Schwirrflug vor einer Blüte nach der anderen verharrte und den köstlichen Nektar geschickt einsog, kam ein Konkurrent daher, ein Victoria-Sylphe, der es auf die einfachere Tour versuchte. Wenn ein Victoria-Sylphe mit seinem langen schwarzen Schwanz durch sein Revier schießt und Rivalen verscheucht, sieht er aus wie ein schwarzer Komet. Statt vor den Blüten in der Luft zu schwirren, setzte sich dieser Kolibri auf einen Ast und pikste von hinten in die Blüten, um an den Nektar heranzukommen.
Nicht alle ecuadorianischen Vögel sind so klein. Der prachtvolle Kondor, der größte aller Greifvögel, gleitet immer noch über den Anden, obwohl seine Zahl stark zurückgegangen ist. Wir suchten mit unseren Blicken unentwegt die hohen Gipfel nach seiner unverkennbaren Silhouette ab, doch vergebens. Die im Oriente lebende Harpyie — der stärkste Greifvogel der Erde — ist ebensoschwer zu entdecken. Einen Großteil des Tages sitzt sie in der Ungestörtheit des Regenwaldes unauffällig im Geäst eines Baumriesen und wartet auf die Gelegenheit, auf ein ahnungsloses Faultier oder Äffchen herabzustoßen.
Heilpflanzen
Viele Pflanzen, die in Ecuador wachsen, besitzen nicht nur Heilkraft, sondern sind auch schön anzusehen. Bei unserem Ausflug in den Podocarpus-Nationalpark im Süden des Landes deutete unser Begleiter auf ein Bäumchen mit roten Beeren. „Das ist ein Chinarindenbaum“, erklärte er. „Aus der Rinde wird seit Jahrhunderten Chinin gewonnen.“ Vor 200 Jahren hatte Chinin im nahe gelegenen Loja eine adlige Spanierin, die schwer an Malaria erkrankt war, vor dem Tod bewahrt. Der Ruhm dieses Heilmittels, das den Inkas schon lange bekannt war, breitete sich bald über die ganze Welt aus. Auf den ersten Blick wirkt der Chinarindenbaum zwar unscheinbar, doch sein Rindenextrakt hat schon viele Menschenleben gerettet.
Im Nebelwald, wo diese Pflanze wächst, stehen viele alte Bäume, deren knorrige Äste mit zum Teil hellrot blühenden stachligen Ananasgewächsen geschmückt sind. Die entlegenen Wälder bieten außerdem dem Brillenbär, dem Ozelot und dem Puma Zuflucht und beherbergen unzählige Pflanzenarten, deren Katalogisierung die Botaniker beschäftigt hält.
Wissenschaftler befassen sich eingehend mit einem kleinen ecuadorianischen Pfeilgiftfrosch in der Hoffnung, bessere Schmerzmittel entwickeln zu können. Seine Haut sondert ein Analgetikum ab, das 200mal wirksamer sein soll als Morphium.
Hoch in den Anden sahen wir Pflanzen, die sich von allen, die wir kannten, unterschieden. Die Puya, ein Ananasgewächs, das Kolibris anlockt, wirkte auf uns wie ein riesiger Besen aus Großmutters Zeiten, der nur darauf wartete, geschnappt zu werden, um die Umgebung zu fegen. In geschützten Senken des kargen Paramo wachsen Zwergwälder des quinua, eines robusten Baumes, der zusammen mit den im Himalaja wachsenden Kiefern den Höhenrekord hält. Diese buschigen Bäume, die nur 2 bis 3 Meter hoch werden, bilden fast undurchdringliche Dickichte, in denen Vögel und andere Tiere Unterschlupf suchen.
Im Regenwald des Oriente dagegen sind die Bäume hoch und haben ein dichtes Blattwerk. Bei unserem Besuch in der biologischen Forschungsstation Jatun Sacha standen wir unter einem Waldriesen, der gut 30 Meter maß. Plötzlich erschraken wir, als sich in der Nähe der riesigen Stützwurzeln etwas regte. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich eine Spalte im Wurzelwerk als das Zuhause einer Familie winziger Fledermäuse. Die Entdeckung erinnerte uns daran, daß der Wald von vielen solcher symbiotischen Beziehungen abhängig ist. Die Fledermäuse, die im Regenwald eine wichtige Rolle beim Bestäuben und beim Verbreiten von Samen spielen, sind wichtige Verbündete der Bäume, die ihnen wiederum Schutz bieten.
Märkte in den Bergen
Die Bevölkerung Ecuadors besteht etwa zu 40 Prozent aus Indios. Die verschiedenen ethnischen Gruppen — jede mit ihrer typischen Kleidung — geben den meisten Andentälern ein charakteristisches Gepräge. Wir sahen wiederholt Indianerinnen, die steile Bergpfade hinaufstiegen und im Gehen Schafwolle spannen. Wie es schien, war den Indios kein Hang zu abschüssig, um etwas anzubauen. Wir besahen uns ein Maisfeld, das wohl eine Neigung von mindestens 45 Grad hatte.
Die Märkte von Ecuador, wie zum Beispiel der von Otavalo, sind zu Berühmtheit gelangt. Es sind Zentren, wo die einheimische Bevölkerung Tiere, landwirtschaftliche Erzeugnisse, die traditionellen Webwaren oder kunsthandwerkliche Gegenstände kaufen oder verkaufen kann. Da die Einheimischen in ihrer Tracht zum Markt gehen, bietet sich bei diesen Gelegenheiten ein Schauspiel, das viele Touristen herbeilockt. Auch Zeugen Jehovas nutzen die Markttage, um den Leuten die biblische Botschaft näherzubringen.
Der Reiz der indianischen Webkunst liegt in ihrer weit zurückreichenden Geschichte und dem Reichtum an traditionellen Farben und Motiven. Die Andenbewohner webten ihre berühmten Ponchos, schon lange bevor die Spanier kamen. Die Verfahrenstechnik wurde zwar modernisiert, doch die arbeitsamen Indios stellen nach wie vor ausgezeichnete Strickwaren und Wandteppiche her.
Berge im Nebel
Für jemand, dem es beim Autofahren schlecht wird, ist eine Fahrt durch die Anden nicht unbedingt ein Vergnügen. Es geht abwechselnd steil bergauf und steil bergab, und die Straßen schlängeln sich an den Flanken gewundener Täler entlang. Doch der wagemutige Reisende wird mit einem ständig wechselnden Panorama belohnt, das man nur als überwältigend beschreiben kann.
Als wir zum erstenmal in die Anden fuhren, waren wir von Nebel umgeben, einem treuen Begleiter. Manchmal tauchten wir aus dem Nebel auf und sahen, wie sich bis in weite Ferne wellenförmig ein nebelverhangenes Tal an das andere reihte. Auf unserer Fahrt entlang der Bergkette schien uns der Nebel Streiche zu spielen. Ein Dorf, durch das wir fuhren, war völlig in Nebel gehüllt, und das nächste, das wir ein paar Minuten später erreichten, war in gleißendes Licht getaucht.
Manchmal stieg der Nebel wie ein Wirbel von unten auf, ein andermal rutschte er die Gipfel hinunter. Wenn es auch ärgerlich war, daß er uns die Sicht auf herrliche Landschaften nahm, verlieh er doch den Gipfeln, die aus ihm aufragten, etwas Erhabenes und Geheimnisvolles. Was noch wichtiger ist, er erhält den Nebelwald am Leben, dem er kostbare Feuchtigkeit zuführt.
Am Vormittag unseres letzten Tages in Ecuador verzog sich der Nebel. Mehrere Stunden lang hatten wir einen phantastischen Blick auf den Cotopaxi — ein nahezu vollkommen symmetrischer schneebedeckter Kegel. Dieser höchste aktive Vulkan der Erde bildet das Kernstück eines Nationalparks. Als wir uns dem Gipfel näherten, waren wir erstaunt, einen großen Gletscher zu sehen, der sich von einem der oberen Hänge nach unten zog. In einer Höhe von fast 6 000 Metern trotzt er der kräftigen Äquatorsonne.
Am nächsten Tag, als wir von Quito aus die Heimreise antraten, erhielten wir vom Flugzeug aus einen letzten Eindruck von Ecuador. Der Cayambé, ein weiterer schneebedeckter Vulkan, stieg aus dem Nebel empor und glitzerte in der Morgensonne wie Gold. Dieser Vulkan, dessen Gipfel sich fast genau über dem Äquator erhebt, erschien uns als passendes Abschiedssymbol für das faszinierende Land, das wir bereist hatten. Wie der Cayambé liegt Ecuador zu beiden Seiten des Äquators. (Eingesandt.)
[Bilder auf Seite 25]
Andenlandschaft mit dem Vulkan Cotopaxi im Hintergrund
Indianische Blumenverkäuferin
[Bilder auf Seite 26]
1 „Heliconia“
2 Tukan-Bartvogel
[Bildnachweis]
Foto: Zoo de Baños