Warum Seminare den Glauben schwächen
EIN häufig erscheinender Besucher des Brooklyn-Heights-Königreichssaales am Donnerstagabend während des Winters 1952/53 war ein Psychologe, der als „Rev. ———, Ph. D.“ zeichnete. Warum besuchte er diese Versammlungen von Jehovas Zeugen? Weil er die Wahrheit suchte? Anscheinend nicht, denn er war Protestant und davon überzeugt, daß seine Kirche die wahre sei wegen ihrer „apostolischen Nachfolge von Bischöfen, Ältesten und Diakonen“. Warum kam er aber dann? Weil er erkannte, daß eine machtvolle Kraft unter Jehovas Zeugen wirkt. Er sah bei allen Ernst, Aufrichtigkeit, Zuversicht, Überzeugung und Enthusiasmus. Sie hatten etwas, das weder seine noch andere religiöse Organisationen hatten. Er wollte das kennenlernen und die Ursache wissen, um somit Gebrauch davon in seiner religiösen Organisation machen zu können.
Aus der Unterhaltung mit ihm wurde offensichtlich, daß er ganz und gar nicht mit dem Geisteszustand der Christenheit zufrieden war. Besonders war er der Geistlichkeit gegenüber kritisch, die ihre Pflichten in einer automatischen, mechanischen und lauwarmen Weise verrichtete. Und über einen Lehrgang, an dem er sich nach der Studienzeit an einem hervorragenden theologischen Seminar beteiligte, sagte er, es schiene der Zweck des Kurses gewesen zu sein, den Glauben der Teilnehmer zu zerstören, damit diese ausziehen und den Glauben anderer zunichte machen.
Während das eine sehr starke Erklärung zu sein scheint, ist dieser Königreichssaalbesucher nicht der einzige, der erkennt, daß Seminare eine schlechte Wirkung auf solche haben, die sie besuchen. Beachte zum Beispiel den Artikel „Wo bleibt das ‚Glühen‘?“, der in der Zeitschrift The Christian Century vom 29. April 1953 erschien. Unter der Überschrift „Heiß hineingehen, kalt herauskommen“ erklärt Mr. Samuel M. Shoemaker, der sich selbst als jemand beschreibt, der „beständig die Forderungen des christlichen Dienstamtes vor jungen Männern in der Hochschule klarlegt“, das Folgende:
„Wie kommt es, daß ein Mann, der warm oder gar heiß in seiner Überzeugung auf ein theologisches Seminar geht, es oft kühl oder gar kalt verläßt? In einigen der größeren und intelligenteren Seminare nimmt ein ziemlich erschreckender Prozentsatz Menschen (mehr als ein Viertel, wird mir gesagt) das Dienstamt überhaupt nicht auf. Ist das etwa das Ausrotten der Unbrauchbaren, das Abschütteln derjenigen, die den intellektuellen Ansprüchen nicht gewachsen sind? Oder ist ein großer Teil auf das geistige Versagen des Seminars zurückzuführen? Unter solchen, die den Weg schließlich zum Dienstamt finden, gibt es eine beträchtliche Gruppe, die mehr verlegen sind als leuchtend, die sich mehr der Probleme bewußt sind, die die Religion hervorruft, als der sich bietenden Lösungen, wenn sie aufrichtig ausgeübt wird. … Ich mache mir Sorge darüber, was die Seminare aus so vielen von ihnen machen.“
Indem er diesen Punkt veranschaulicht, erzählte dieser Schreiber weiter von einem enthusiastischen und hervorstechenden Studenten einer der ersten Universitäten, der auf eine in gutem Ansehen stehende theologische Schule ging, wo er in „den durchschnittlichsten, glanzlosesten und allgemeinsten Geistlichen umgewandelt wurde, den man sich denken kann. … Er war einmal glänzend. Aber jetzt hat er keinen Glanz mehr, oder nur wenig. Wo ist er geblieben?“
Welch ein Kommentar über die Ergebnisse der Schulung durch theologische Seminare! Wenn es einen Platz gibt, wo ein Mensch seinen Glauben, seinen Fleiß, seinen Enthusiasmus, seine „geistige Glut“, seine Lebhaftigkeit und seinen Eifer für Gottes Dienst vermehrt, sollte es gewißlich in einer Einrichtung sein, die der Erziehung von Predigern gewidmet ist. Doch hier ist der Beweis, daß gerade das Gegenteil der Fall ist. Warum?
Mr. Shoemaker, unser Kritiker der theologischen Seminare, möchte uns glauben machen, der Fehler liege in dem mangelnden Verkehr mit den Studenten auf der Seite der Lehrer, ebenso in einer mangelnden Zwanglosigkeit und Wirkung, wenn sie persönlich mit den Studenten verkehren. Er sehe auch eine Schwäche in der Betonung des Kopfwissens, das zur Vernachlässigung der erfahrungsmäßigen Religion führt. Er weist auf die persönliche Unterweisung hin, die Jesus seiner kleinen Schar engster Nachfolger während der etwa drei Jahre gegeben haben muß, die er mit ihnen war.
Wahrlich, die Berichte des irdischen Predigtdienstes Jesu sind voller Hinweise, daß er persönliche Unterweisung gab. Wir können sicher sein: Er gab seinen zwölf Aposteln während der Zeit, die sie mit ihm zusammen waren, weit mehr Belehrung, als darüber aufgezeichnet ist, ohne darüber zu sprechen, wie er Nikodemus, die Frau am Brunnen und andere unterwies. Aber was war der Grund, weshalb er so wirksam lehrte? War es etwa wegen seines Glaubens an die Hebräischen Schriften als Gottes inspiriertes Wort, wegen seines Verständnisses und seiner Erkenntnis über sie oder wegen seiner Fähigkeit, sie anderen deutlich zu machen?
Seine Art war deswegen so wirkungsvoll, weil er starken Glauben und Zuversicht besaß. Deswegen „erstaunten die Volksmengen sehr über die Art, wie er lehrte; denn er lehrte sie wie einer, der Autorität hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten“. Er sprach eindrucksvoll, weil er Gottes Wort verstand und es seinen Hörern erklärte, wie man aus der Bemerkung ersehen kann, die von den beiden gemacht wurde, mit denen er am Morgen seiner Auferstehung auf dem Wege nach Emmaus sprach: „Haben unsere Herzen nicht gebrannt, als er zu uns auf der Straße sprach und er uns die Schriften völlig eröffnete?“ (Matth. 7:28, 29; Luk. 24:32, NW) Und was man von Christus sagen konnte, war auch von seinen Aposteln und anderen Jüngern der ersten Zeit, wie Stephanus und Apollos, wahr.
Wenn ein moderner Student der Theologie „heiß“ auf sein Seminar geht und es „kalt“ verläßt, ist etwas mit seinem Glauben geschehen. Was? Kann es sein, daß er geschwächt wurde, weil die Lehrer sich als unfähig erwiesen, seine Fragen zu beantworten, wie etwa: Warum das Geheimnis der Dreieinigkeit? Da nur ein Name unter dem Himmel Errettung verbürgt, was ist das Geschick der Volksmengen, die nie von ihm hörten? Warum ein zukünftiger Gerichtstag, wenn jemand bei seinem Tode in seine ewige Belohnung geht? Warum gestattet man, daß kleinliche Unterschiede die sogenannten christlichen Organisationen spalten?
Wird ein Studium höherer Kritik — das die Ansprüche der Bibel über Ursprung, Bewahrung und Echtheit mit starkem Mißtrauen ansieht — den Glauben stärken oder schwächen? Und wie steht es mit der Evolution? Der Bibelbericht über die Schöpfung befriedigt die Vernunft und inspiriert zur Dankbarkeit, können aber die wechselnden und widersprechenden Theorien und Spekulationen es tun? Und wie stärken die Kurse der Psychologie mit dem Labyrinth der Ungewißheit und der Verwirrung den Glauben?
Ist es in Anbetracht des Vorangehenden ein Wunder, daß die theologischen Studenten nach ihrer Graduation jedes mögliche ‚Glühen des Geistes‘, das sie vielleicht gehabt haben, als sie auf das Seminar gingen, verloren haben? Was den Dienern Jehovas ihr geistiges Glühen gibt, erkennt man aus dem Schrifttext: „Das Wort Gottes ist lebendig und übt Macht aus.“ — Heb. 4:12, NW.