War Jesus ein Gottmensch?
UNTER Inkarnation versteht man in der Christenheit die Lehre, nach der „in der Person Jesu Christi Gott Mensch und der Mensch Gott gewesen“ sei. Dieser Glaubenssatz wird als „die Zentrallehre des Christentums“ bezeichnet. Die katholische Kirche und die meisten protestantischen Kirchen lehren deshalb, daß Jesus ein Gottmensch gewesen sei. Aber wie verschiedene andere Lehren der Geistlichkeit, so entbehrt auch diese jeder Vernunft und Folgerichtigkeit. Selbst Theologen geben zu, daß keine menschliche Philosophie sie völlig erklären könne. Sie ist widerspruchsvoll und verwirrend. Die Bibel sagt jedoch, daß ‚Gott nicht der Urheber von Verwirrung ist‘. Deshalb mögen folgende Fragen unser Interesse finden: Wie ist die Lehre von der Inkarnation entstanden? Lehrt die höchste Autorität, Gottes Wort, tatsächlich, daß Jesus der allmächtige Gott in der Gestalt eines Menschen gewesen sei? — 1. Kor. 14:33.
Die Lehre, daß Jesus ein Gottmensch gewesen sei, tauchte erst lange nach seinem Tode auf und entwickelte sich allmählich. Auf dem Konzil zu Nizäa, im Jahre 325, nahm sie dann feste Formen an. Dieses Konzil tagte unter dem Vorsitz des heidnischen Kaisers Konstantin. Merrill sagt in seinen Essays in Early Christian History (Abhandlungen über die Geschichte des Urchristentums): „Es hat nicht den Anschein, daß Konstantin viel daran gelegen war, welche Lehre bei den Diskussionen und Abstimmungen den Sieg davontragen würde. Er trachtete auch nicht, wie Heinrich VIII. von England, danach, Theologe zu sein, sondern war aus politischen Gründen auf die Eintracht innerhalb der Kirche bedacht … Er hoffte zweifellos von vornherein, daß man zu Entscheidungen komme, die für beide Seiten annehmbar wären.“
Ein bekannter amerikanischer Theologe, Henry P. Van Dusen, wirft in seinem Buch World Christianity (Weltchristentum, S. 72) noch mehr Licht auf das, was seinerzeit in Nizäa geschah: „Im Osten gärte es; denn es waren noch heftigere Auseinandersetzungen in bezug auf die genaue theologische Erklärung der Person Christi entstanden. Deshalb forderte Konstantin im Jahre 325 sämtliche Bischöfe der Kirche auf, sich in Nizäa zu versammeln. Die 318 Bischöfe, die der Aufforderung Folge leisteten, stellten nur etwa ein Sechstel der Bischöfe des ganzen Reiches dar. Wie auf allen ökumenischen Konzilen kamen sie vornehmlich aus dem Osten. Konstantins oberster Ratgeber in Kirchenangelegenheiten, Bischof Hosius von Spanien, hatte den Vorsitz inne. Der Kaiser saß zu seiner Rechten. Das Gewicht des kaiserlichen Einflusses machte sich bei den Entscheidungen geltend. Das Ergebnis war die ursprüngliche Form des Nizäischen Glaubensbekenntnisses.“ Der heidnische Kaiser Konstantin — dem es mehr um die Politik als um die Religion ging — machte also ‚seinen Einfluß bei den Entscheidungen geltend‘ und legte das fest, woran die Christenheit im allgemeinen heute noch glaubt. Somit hat die Christenheit die Annahme der Lehre, daß Jesus ein Gottmensch gewesen sei, einem heidnischen Kaiser zu verdanken.
Erst im Jahre 451 wurde auf dem Konzil zu Kalchedon (oder Chalcedon) die Lehre von der Inkarnation näher bestimmt. Aufschlußreich ist, daß bei diesem und auch bei dem Konzil zu Nizäa die Angelegenheiten durch die Übernahme gewisser schon bestehender Ansichten geregelt wurden. Einige sagten, Jesus sei ein Mensch gewesen. Andere behaupteten, er sei Gott gewesen. Das Konzil, das aus bereits abgefallenen Christen bestand, entschied, daß Jesus ein Gottmensch gewesen sei. So konnten die sich befehdenden Parteien die Formel mit vernunftgemäßer Befriedigung annehmen, indem jede einfach den Ausdruck unterstrich, der seinem eigenen Interesse entsprach. Dr. Van Dusen sagt in seinem Werk World Christianity: „Das Ergebnis der hitzigen Kontroverse, die sich über drei Jahrhunderte erstreckte und in zwei aufeinanderfolgenden Etappen geführt wurde, war die absolute Weigerung der katholischen Kirche, eine Wahl zu treffen, und ihre Entgegnung auf das beharrliche ‚entweder … oder‘ des Gegners mit einem bestimmten, wenn auch etwas verwirrenden ‚sowohl … als auch‘. Nizäa, Konstantinopel, Kalchedon sind die Meilensteine der gewundenen Straße entlang … In Kalchedon, etwa hundertfünfzig Jahre nach Nizäa, wurde dieselbe Methode der Lösung des Problems noch unverblümter angewandt — wiederum entschied man sich nicht für ein ‚entweder … oder‘, sondern für ein ‚sowohl … als auch‘, also für eine Lösung, die eher auf einer Übernahme der bestehenden Ansichten beruhte als auf einer Verwerfung derselben, und dies auf Kosten des logischen Zusammenhangs und vernünftigen Denkens.“
Stehst du mit deinen Ansichten über Jesus Christus unter dem Einfluß des durch das Konzil von Kalchedon festgelegten Glaubenssatzes? Die meisten sogenannten Christen wissen nicht einmal, daß dieses Konzil die Verantwortung trägt für die Festlegung der betreffenden Lehre, und doch, so schreibt Dr. Van Dusen auf Seite 75, zog man sich aus dem Dilemma „durch die Kalchedonensische Formel, indem man die widerspruchsvollen Behauptungen der beiden Gegenparteien nebeneinander gelten ließ, ohne einen ernsthaften Versuch zur Versöhnung zu machen“. Auch ein Ausweg aus einem Dilemma! Und so ist die Kalchedonensische Definition der Natur Christi („zwei Naturen unvermischt, ungeteilt und ungetrennt … nicht einen in zwei Personen zerteilten oder zerrissenen, sondern Einen“), wie Dr. Van Dusen sagt, mit Recht als ein „für einen logisch denkenden Menschen konzentrierter Unsinn“ bezeichnet worden.
„DER ANFANG DER SCHÖPFUNG GOTTES“
Ungeachtet was ein Konzil oder ein Mensch über die Natur Jesu sagen mag, ist Gottes Wort selbst die einzige zuverlässige Autorität, und Jesus sagte: „Dein Wort ist Wahrheit.“ (Joh. 17:17, NW) Dieses Wort Gottes offenbart, daß Jesus der Sohn Gottes, nicht Jehova Gott selbst ist. Über sein Verhältnis zu seinem Vater erklärte Jesus: „Der Vater ist größer als ich.“ (Joh. 14:28, NW) Jesus verurteilte Heuchelei; doch welch krasser Heuchelei hätte er sich schuldig gemacht, wenn er der mit Fleisch überkleidete Gott, der Allmächtige, gewesen wäre. Jesus war nicht Gott selbst, denn auch in seiner vermenschlichen Existenz war er ein erschaffener Geist, „das Wort“ genannt. Das „Wort“ war ein mächtiges Geistgeschöpf und kann so mit Recht als „ein Gott“ bezeichnet werden, nicht aber als „der Gott“. Deshalb sagt eine genaue Übersetzung von Johannes 1:1 (NW): „Ursprünglich war das WORT, und das WORT war bei GOTT, und das WORT war ein Gott.“
Dieser Text sagt nicht, daß das Wort immer existiert habe. Nur Jehova Gott ist „von Ewigkeit zu Ewigkeit“. (Ps. 90:2) Zu einer bestimmten Zeit wurde das „Wort“ erschaffen. Jesus sprach die Wahrheit, als er von sich sagte, wie wir es in Offenbarung 3:14 (NW) lesen: „Diese Dinge sagt der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes [der durch Gott hervorgerufenen Schöpfung].“
Demnach war Jesus in seiner vormenschlichen Existenz der Uranfang der Schöpfung Jehovas. Danach gebrauchte Jehova das „Wort“, um alle anderen Geschöpfe hervorzubringen: „Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung, denn durch ihn wurden alle anderen Dinge erschaffen.“ (Kol. 1:15, 16, NW) Als Gottes „Erstgeborener“ auf die Erde kam, wurde die Lebenskraft des „Wortes“ vom Himmel in eine Eizelle des Mutterleibes Marias übertragen. Dies bedeutete, daß das „Wort“ seine himmlische Herrlichkeit, sein geistiges Leben aufgeben mußte, was es auch tat: „Christus Jesus, der, obwohl in Gestalt Gottes existierend, nicht daran dachte, etwas an sich zu reißen, nämlich das Gottgleichsein. Nein, er entäußerte sich selbst, nahm Sklavengestalt an und wurde den Menschen gleich.“ — Phil. 2:5-7, NW.
„EIN WENIG UNTER DIE ENGEL ERNIEDRIGT“
Da Jesus als das Wort sich seiner himmlischen Herrlichkeit „entäußerte“, war er nicht ein mächtiger Geist, der sich mit der fleischlichen Hülle eines kleinen Kindes überkleidet und nur so getan hätte, als wäre er so unwissend wie ein Neugeborenes. Jesus war wirklich Fleisch geworden. Sein Apostel Johannes schreibt: „So wurde das Wort Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh. 1:14, NW) Als das Wort ‚Fleisch wurde‘, war er kein Geistgeschöpf mehr. Ja, er mußte im wahren Sinne ein Mensch sein, um folgende Schriftstelle zu erfüllen: „Wir sehen Jesus, der ein wenig unter die Engel erniedrigt worden ist, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“ Wenn Jesus ein Gottmensch gewesen wäre, hätte er nicht wirklich „ein wenig unter die Engel erniedrigt“ sein können. Auch ist es nicht vernünftig, anzunehmen, daß der große Souverän des Universums, von dem geschrieben steht, daß ‚zu keiner Zeit jemand Gott sah‘, Menschengestalt angenommen hätte und „unter die Engel erniedrigt“ worden wäre. — Heb. 2:9; 1. Joh. 4:12, NW.
Es gab Zeiten, in denen Engel als Menschen erschienen, zum Beispiel als zwei Engel zu Lot kamen. (1. Mose 19:1) Das ist ein Fall einer richtigen Inkarnation. Beachtenswert dabei ist, daß jene Engel, die Lot besuchten, sich als erwachsene Männer und nicht als kleine Kinder verkörperten. Wenn Jesus bloß eine Inkarnation gewesen wäre, dann hätte Gott dessen Leben nicht in den Schoß einer Jungfrau zu verpflanzen brauchen, und Jesus hätte nicht als hilfloses Kind, das auf seine Eltern angewiesen war, geboren werden müssen; er hätte ein Geistgeschöpf bleiben und sich in einem vollentwickelten Fleischesleib verkörpern können, gleichwie dies der Fall war bei den Söhnen Gottes in den Tagen Noahs und beim Engel Gabriel vor Maria.
DIE INKARNATION MACHT DAS LÖSEGELD WIRKUNGSLOS
Eine der Hauptlehren der Bibel ist die Lehre vom Lösegeld. Sünde und Tod kamen über die Menschheit, als ein vollkommener Mensch, Adam, Jehovas Gesetz übertrat. Damit gehorsame Menschen von der Verurteilung, die die Sünde mit sich brachte, und vom Tode befreit werden können, mußte ein Lösegeld bezahlt werden. Dieses mußte der genaue Gegenwert des vollkommenen Menschen Adam sein, denn Gottes Gesetz fordert das genau Entsprechende: „Du sollst Seele für Seele geben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.“ Damit also Jesus das Lösegeld beschaffen konnte, mußte er ein vollkommener Mensch sein, nicht mehr und nicht weniger. Wenn überdies Jesus ein in Fleisch gehüllter Geist gewesen wäre, dann hätte er nicht durch Menschenhand tatsächlich sterben können; und wenn er nicht wirklich gestorben wäre, dann hätte — wie wir wiederum sehen — das Lösegeld nicht erbracht werden können. Aber die Bibel zeigt klar, daß Jesus das Lösegeld beschaffte und daß er ein Mensch und nicht Gott im Fleische war: „Denn da ist e i n Gott und e i n Mittler zwischen Gott und Menschen, ein Mensch Christus Jesus, der sich selbst als ein entsprechendes Lösegeld für alle dahingegeben hat.“ — 2. Mose 21:23, 24; 1. Tim. 2:5, 6, NW.
Wie steht es aber mit 1. Timotheus 3:16, wo es gemäß der Luther-Bibel heißt: „Gott ist offenbart im Fleisch“? Dieser Teil ist nicht genau. In Wirklichkeit heißt es in beinahe allen alten Manuskripten und Übersetzungen, auch in der lateinischen Vulgata: „Er, der“ anstelle von „Gott“. Die meisten modernen Übersetzungen sagen „Er“. Somit gibt die Neue-Welt-Übersetzung (engl.) den Text richtig wieder: „Er wurde kundgemacht im Fleische“, nämlich das „Wort“, das der Mensch Jesus Christus wurde.
Was haben wir also gelernt? Folgende Punkte sind völlig klar geworden: 1. Das Konzil von Kalchedon hat, anstatt die falsche Auffassung, daß Jesus Gott gewesen sei, zu verwerfen, diesen Irrtum mit der Wahrheit, daß er ein Mensch war, vermischt und so „konzentrierten Unsinn“ gezüchtet; 2. Jesus war in seiner vormenschlichen Existenz nicht Gott, sondern er war Gottes Sohn, „der Anfang der Schöpfung Gottes“; 3. Jesus mußte, um „unter die Engel erniedrigt“ zu sein, ein richtiger Mensch, kein Gottmensch werden; 4. wäre Jesus ein Geist gewesen, der sich nur mit Fleisch überkleidete, dann hätte er nicht als kleines Kind geboren werden müssen; und 5. um das Loskaufsopfer zu beschaffen, mußte Jesus als ein vollkommener Mensch sterben und durfte nicht mehr und nicht weniger sein.
Die unumgängliche Schlußfolgerung lautet also, daß Gottes Wort nicht lehrt, daß Jesus ein Gottmensch war. Es lehrt, daß er auf Erden ein vollkommener Mensch, ein vollkommener menschlicher Organismus war. Jene, die lehren, er sei ein Gottmensch gewesen, lehren falsche Religion. Sie verletzen den Grundsatz, den ein Apostel Christi aufgestellt hat: „Geht nicht über das hinaus, was geschrieben steht.“ — 1. Kor. 4:6, NW.