Mein Lebensziel verfolgend
Von Ragna S. Ingwaldsen erzählt
DER 25. Dezember 1959 war für mich ein Freudentag, aber nicht, weil ihn die Welt feierte, sondern weil es an dem Tag elf Jahre her waren, seitdem ich als Missionarin nach Venezuela gekommen war. Es waren elf glückliche Jahre, reich an wunderbaren Erfahrungen, die ich in Verbindung mit der Verkündigung der Botschaft von Gottes Königreich unter den freundlichen Menschen dieses südamerikanischen Landes machte.
Ich begann jedoch nicht erst vor elf Jahren, Jehova zu dienen, sondern schon viel früher; ja ich hatte das gesegnete Vorrecht, im Dienste Gottes erzogen zu werden. Im Jahre 1906, als ich noch ein kleines Mädchen war, nahm mich meine Mutter zu einem Kongreß in Minneapolis mit, bei dem sie ihre Hingabe an Gott durch die Wassertaufe symbolisierte. Von da an nährte sie in mir eine starke Liebe zu Gott und zu seiner sichtbaren Organisation. Ich erkannte bald, wie wichtig es ist, Jehova durch regelmäßige Teilnahme am Zeugniswerk zu dienen. Ich freute mich stets, mit meiner Mutter von Haus zu Haus zu gehen und bei der Verteilung der „Schriftforscher“-Traktate mitzuhelfen.
Im Jahre 1914 begann das große Werk in Verbindung mit dem Photo-Drama der Schöpfung. Obwohl ich noch zu jung war, um einen großen Anteil daran zu haben, verteilte ich doch Einladungen und wohnte den Vorführungen bei. Ich ergötzte mich immer wieder aufs neue an diesen Filmen und Lichtbildern über die biblischen Geschehnisse.
Stets stand unser Heim den Pionieren, die damals Kolporteure genannt wurden, offen. Für mich waren die Kolporteure Menschen, die sich durch eine besonders tiefe Wertschätzung für die Wahrheit Jehovas auszeichneten. Da auch meine Mutter und meine Tante im Kolporteurdienst waren, wollte ich später auch einmal Kolporteurin werden. Ich gab mich Jehova hin und wurde im Jahre 1918 getauft.
Noch während ich zur Schule ging, hatte ich das Vorrecht, an der Verbreitung des berühmten Buches Das vollendete Geheimnis teilzunehmen, das Anlaß gab, daß einige unserer Brüder ungerechterweise ins Gefängnis kamen. Beim Sammeln von Unterschriften für eine Petition, in der um ihre Freilassung ersucht wurde, war ich über die unchristliche Haltung meiner Lehrer, die sich weigerten, ihre Unterschrift zu geben, höchst erstaunt. Ich wurde dadurch in meinem Entschluß, mein Lebensziel als Vollzeitverkündiger der guten Botschaft von Jehovas Königreich zu verfolgen, noch mehr bestärkt.
Auf dem Kongreß, der im Jahre 1922 in Cedar Point stattfand, wurde mir der Weg geöffnet, auf dem sich mein Wunsch erfüllen sollte. Auf diesem Kongreß wurden alle Anwesenden eingeladen, sich am gruppenweisen Zeugnisgeben zu beteiligen. So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben. Ich werde den ereignisreichen Tag nie vergessen. Ich war beglückt, daß ich unter den vielen sein durfte, die sich zu Autogruppen zusammenschlossen und dann vom Gelände aus in den Felddienst zogen. Von da an war es eine Freude, den König und sein Königreich zu verkündigen. Bis zum Jahre 1941 konnte ich den Pionierdienst gesundheitshalber nicht ununterbrochen tun, doch seither habe ich ohne Unterbrechung im Dienste gestanden und so mein Lebensziel verfolgen können.
Mein erstes Wirkungsfeld, in dem ich Jehova als Pionierin diente, war meine Heimatstadt. Nach und nach dehnte ich meine Tätigkeit auf umliegende Orte aus. Später erhielt ich Gelegenheit, in anderen Gliedstaaten zu wirken, unter anderem in Kentucky, wo ich von 1933 bis 1936 tätig war. Die Bevölkerung in jenen Landgebieten wohnt größtenteils in ziemlich primitiven Verhältnissen, und ein großer Prozentsatz kann weder schreiben noch lesen. Meine Tätigkeit dort gab mir einen kleinen Vorgeschmack von dem, was ich später im Missionardienst im Ausland erleben sollte.
Zu vielen Häusern in diesem Gebiet in Kentucky mußten wir, so weit wir konnten, durch Schluchten hinauffahren, um dann zu Fuß weiterzugehen. Manchmal mußten wir die Schuhe ausziehen und barfuß durch Flüsse waten, um ein Haus zu erreichen. In dieser zerklüfteten Gegend machte ich die Erfahrung, daß man da, wo man die größten Beschwerden überwinden muß, oft die größten Freuden im Dienste Gottes erleben kann.
Nachdem ich im Jahre 1941 den Pionierdienst wiederaufgenommen hatte, wirkte ich fünf Jahre in der Umgebung von Chikago. Dort erhielt ich zu meiner Freude die Einladung zum Besuch der neunten Gileadklasse. Ich war schon immer gern zur Schule gegangen, und nun sollte ich noch einmal die erregende Freude haben, in einem Schulzimmer zu sitzen, allerdings in einem ganz anderen. Hier sollte ich in den biblischen Wahrheiten unterwiesen werden und lernen, wie man ein guter Missionar wird.
Die Unterweisung und die Ratschläge, die ich in Gilead empfing, dienten dazu, daß ich den Schwierigkeiten, denen ich seither begegnete, trotzen konnte. Sie waren für mich gleichsam ein Reservoir geistiger Erkenntnis, aus dem ich immer wieder von neuem schöpfte. In seiner Güte sorgte Jehova dafür, daß ich in Gilead das Rüstzeug erhielt, das mir die Kraft verlieh, die ich in den vielen Jahren, die seit der Graduierung vergangen sind, benötigte.
Nach der Graduierung wirkte ich ein Jahr in Brooklyn als Pionierin. Dann erhielt ich, zusammen mit fünf anderen Gileadabsolventen, meine Zuteilung: Maracaibo, Venezuela! Der Tag, an dem wir an Bord der schönen Santa Sofia von New York abfuhren, war für uns ein glücklicher Tag. Nach einer achttägigen entzückenden Reise kamen wir in unserem Gebiet an. Zum erstenmal setzten wir unseren Fuß auf ausländischen Boden. Eine Menge Fragen stieg in uns auf. Welchen Eindruck würden die fremden Menschen und die fremden Sitten dieses Landes auf uns machen? Würden wir in unserem Missionargebiet bleiben können? Ich wußte, daß die kommenden Jahre diese Fragen beantworten würden, und so war es auch.
Hier, in diesem fremden Land, lernte ich zum erstenmal die wahre Bedeutung des Wortes „Pionier“ kennen. Hier, in diesem fremden Land, konnte ich den anderen Schafen des Herrn den Weg zu einer Erkenntnis der Wahrheit erschließen und ihnen helfen, den Weg zu ewigem Leben zu finden. Maracaibo war eine Stadt von über 200 000 Einwohnern, die noch sehr wenig von der Königreichsbotschaft gehört hatten. Ich werde jenen Abend, an dem wir zum erstenmal mit einigen Menschen guten Willens dort versammelt waren, nie vergessen.
Einer der Gründe, warum ich in diesem Land, das so ganz anders ist als meine Heimat, stets glücklich sein konnte, war der, daß ich mir von Anfang an vornahm, die Menschen lieben zu wollen. Jehova hatte so viel Liebe zu ihnen, daß er uns hierher sandte, damit wir ihnen zu einer Erkenntnis seines wunderbaren Vorhabens verhelfen konnten; folglich sollten auch wir sie lieben.
Durch unsere Predigttätigkeit von Haus zu Haus fanden wir die anderen Schafe allmählich. Wie glücklich waren wir, wenn wir sahen, wie jede Woche neue Besucher zu unseren Zusammenkünften erschienen! Wir erlebten die große Freude, Interessierte aus den Kinderschuhen heraus zu Gliedern einer reifen Versammlung der Zeugen Jehovas heranwachsen zu sehen.
Wie zu erwarten war, hatten wir auch Schwierigkeiten zu überwinden. Dazu gehörte der Umstand, daß ein großer Prozentsatz der Bevölkerung aus Analphabeten bestand. Mit viel Geduld konnten wir einer ganzen Anzahl Menschen guten Willens nicht nur zu einer Erkenntnis der Wahrheit verhelfen, sondern sie auch lesen lehren. Wie wir feststellten, herrschte sowohl unter denen, die lesen konnten, als auch unter denen, die es nicht konnten, eine große Unkenntnis der Bibel. Es war deshalb für uns eine große Genugtuung, zu sehen, wie sich die Menschen guten Willens, nachdem wir kurze Zeit mit ihnen studierten, in der Bibel zurechtfanden. Wenn jemand zu mir sagte: „Stellen Sie sich vor, wenn Sie nicht nach Venezuela gekommen wären, hätten wir diese kostbare Wahrheit nicht kennengelernt“, freute ich mich in dem Bewußtsein, daß sich die Opfer, die ich dadurch brachte, daß ich hierhergekommen war, wirklich lohnten. Als wir nach dreieinhalb Jahren in eine andere Stadt versetzt wurden, konnten wir zu unserer Freude eine ansehnliche Versammlung von aktiven Verkündigern als Frucht unserer Werke der Liebe zurücklassen.
Unser neues Arbeitsfeld war Barquisimeto, die drittgrößte Stadt Venezuelas. Da diese Stadt ein ideales Klima hat, begrüßten wir diesen Wechsel, denn in Maracaibo herrscht ständig große Hitze. Wir fanden eine kleine Versammlung von sechs Verkündigern vor, außer den Missionaren, die sich bereits dort befanden. Auch hier sahen wir zu unserer Freude durch unsere Tätigkeit unter der Bevölkerung wiederum eine Versammlung heranwachsen. Sie entwickelte sich zu einer Gruppe, die sechzig Verkündiger zählte, als wir in eine andere Stadt übersiedelten. Am letzten Tag, an dem wir bei ihnen waren, weihten sie einen neuen, schönen Königreichssaal ein, und damit hatte sich ein fünfjähriger Wunschtraum erfüllt! Es fiel uns sehr schwer, uns von den Freunden, die wir so sehr lieben gelernt hatten, zu trennen, aber das Werk des Herrn mußte noch weiter ausgedehnt werden, und so zogen wir in unser drittes Gebiet, nach Cumaná, einem Städtchen im Osten Venezuelas.
Auch hier fanden wir viele Menschen guten Willens, was aus der Mehrung ersichtlich ist, die wir in unserer Versammlung bereits erzielt haben. Zwei neue Verkündiger der guten Botschaft von dieser Stadt besuchten den wunderbaren internationalen Kongreß der Zeugen Jehovas, der im Jahre 1958 in New York unter dem Motto „Göttlicher Wille“ stattfand, und ließen sich dort taufen.
Wie segensreich waren diese Jahre doch für mich! Sie brachten zwar auch ihre Prüfungen und Sorgen mit sich, aber diese wurden durch die Freuden, die ich im Vollzeitdienst unseres himmlischen Vaters erlebte, bei weitem aufgewogen. Wenn man sich abends in dem Bewußtsein zur Ruhe begeben kann, daß man den Tag im Dienste der Lobpreisung Jehovas verbracht hat, verspürt man eine Freude und eine Zufriedenheit, die mit Worten kaum zu beschreiben ist! Ich frage mich oft, warum viele, die frei wären, noch zögern, den Pionierdienst aufzunehmen. Jehova sorgt heute für jene, die seine Interessen an die erste Stelle setzen, genauso, wie er in den Tagen Elias einst das Öl im Kruge der Witwe nicht ausgehen ließ. Das haben wir Missionare in den vielen Jahren unseres Vollzeitdienstes beobachten können!
Die Erfahrungen, die ich in meinem Auslandsgebiet machte, haben mein Leben bereichert und mich im Glauben und Vertrauen zu Jehova gestärkt. Ich bin so froh, daß ich den Pionierdienst nicht lange hinausschob, sondern den Sprung wagte und diesen Dienst in dem vollen Vertrauen aufnahm, daß Jehova mir helfen würde, mein Lebensziel zu verfolgen.
ARTIKEL IN DER NÄCHSTEN AUSGABE
● Hunderttausende in vielen Ländern der Welt hörten den begeisternden biblischen Vortrag „Sicherheit während des ‚Krieges des großen Tages Gottes, des Allmächtigen‘“, der anläßlich der Bezirksversammlung „Jage dem Frieden nach“, die Jehovas Zeugen dieses Jahr durchführten, gehalten wurde. Nun kann er in der nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift gelesen werden.
● Wie lautet der Name Gottes? Weshalb ist es wichtig, jetzt Gottes Namen zu ehren? Lies „Den Namen Gottes nicht vergessen“.
● Der Herr Jesus sagte, daß wir, wenn man uns geschlagen habe, die andere Wange hinhalten sollten. Wie kann dieser Rat in dieser rauhen Welt angewandt werden? Lies den Artikel „Hältst du die andere Wange hin?“.