„Vergiß nicht alle seine Wohltaten!“
Erzählt von ALBERT WANDRES
ALS ich sieben Jahre alt war, starb meine Mutter in Straßburg. Mein Vater ging ganz im Geschäftsleben auf und hatte wenig Zeit für uns Kinder. Trotzdem war es Sitte, daß wir oft abends ein Kapitel aus der Bibel vorlesen mußten. Es wurden keine Kommentare gegeben, aber allmählich übte dieses Buch einen starken Einfluß auf mich aus. Psalm 103 bewegte mich sehr, und ich mußte später oft daran denken: „Preise Jehova, meine Seele, und vergiß nicht alle seine Wohltaten!“
Zur Zeit meiner Schulentlassung im Jahre 1916 verherrlichte man den Krieg und ermunterte die Jugend, sich freiwillig zum Wehrdienst zu melden. Dies stimmte aber mit dem, was ich in der Bibel gelesen hatte, nicht überein. Liebe war das Thema des Wortes Gottes, nicht Haß. In einer sternklaren Nacht betete ich inbrünstig: „Tue mir kund den Weg, den ich wandeln soll, denn zu dir erhebe ich meine Seele! Lehre mich tun dein Wohlgefallen! denn du bist mein Gott, dein guter Geist leite mich in ebenem Lande!“ (Ps. 143:8, 10) Wie ein Alpdruck legte es sich auf mich, als ich hörte, daß auf den Schlachtfeldern Hunderttausende fielen. Mein Gedanke war: „Wenn man an Gott glaubt, muß man ihm doch in erster Linie gehorchen. Warum tun die Menschen das nicht, obwohl sie vorgeben, an ihn zu glauben?“
DURCH NACHT ZUM LICHT
Plötzlich war der Erste Weltkrieg zu Ende. Im Jahre 1919 wurde in Kehl das Photo-Drama der Schöpfung aufgeführt, ein herrlicher Film, der das Vorhaben Gottes mit den Menschen schilderte. Er begann mit der Zubereitung der Erde für den Menschen und zeigte dann die Geschichte der Menschheit von ihrem Ursprung bis in die noch bevorstehende Zeit, in der ihr die ewigwährenden Segnungen des Königreiches Gottes in Fülle zuteil werden sollen. Voller Begeisterung nahm ich diese Botschaft an. Das war gerade das, was ich gesucht hatte! Ich bestellte sogleich eine Elberfelder Bibel und die sieben Bände der Schriftstudien. Immer und immer wieder las ich die wunderbaren Kapitel im ersten Band, betitelt Der göttliche Plan der Zeitalter, in dem gezeigt wurde, wie die Sündennacht der Erde in einem Freudenmorgen enden wird. Wie ich mich freute, eine unmißverständliche Erklärung über die himmlische Berufung zu erhalten! Ich lernte manche Abschnitte auswendig.
Nach einigen Wochen erhielt ich den Besuch eines Predigers, der mir beistand. Von da an besuchte ich regelmäßig die Zusammenkünfte, in denen die Bibel erklärt wurde. Als ich einmal bis Mitternacht studierte, brach mein Vater meine Tür auf und forderte mich auf, sofort das Licht auszumachen. Er war als Großkaufmann weit im Umkreis bekannt und hatte keine Lust, sich meinetwegen bespötteln zu lassen. Er drohte, mich aus dem Haus zu jagen.
Ich nahm mir vor, an den Wahrheiten, die ich kennengelernt hatte, festzuhalten, und gab mich Jehova hin. Ein Jahr später wurde ich getauft. Mein Vater bedrängte mich immer mehr, doch Psalm 27:10 stärkte mich: „Hätten mein Vater und meine Mutter mich verlassen, so nähme doch Jehova mich auf.“
Im Jahre 1920 lernte ich einen Vollzeitprediger kennen, der die gute Botschaft in meiner Heimatstadt verkündete. Er stärkte mich sehr. Nach einiger Zeit war ich gezwungen, das Elternhaus zu verlassen, aber in Mannheim fand ich gleich Arbeit. Ich dankte Jehova dafür, daß er mir die geistige Kraft verlieh, als ich sie am meisten benötigte.
Nun hatte ich viel Zeit, studierte fleißig und nahm den Predigtdienst auf. Ich merkte, daß mich der Widerstand in meinem Entschluß, in dem zu bleiben, was ich gelernt hatte, bestärkt hatte. Ich war voller Dankbarkeit und wollte nie vergessen, was mir Jehova durch die Erkenntnis der Wahrheit an Wohltaten erwiesen hatte. In Mannheim traf ich wieder mit dem Prediger zusammen, der in meiner Heimatstadt tätig gewesen war und mir so viel geholfen hatte. Wir arbeiteten oft gemeinsam im Felddienst. Er starb später im Konzentrationslager Mauthausen. Er blieb Gott treu bis zum Tod.
Nun faßte ich den Entschluß, ein Vollzeitprediger der guten Botschaft zu werden. Der herzergreifende Artikel im Wachtturm vom 15. Januar 1923, betitelt „Das Königreich der Himmel ist nahe gekommen“, hatte mich dazu angespornt. Es hieß dort:
„Seit 1914 hat der König der Herrlichkeit seine Macht an sich genommen, und er herrscht. Er hat die Lippen der Glieder der Tempelklasse gereinigt und sendet diese mit der Botschaft aus ... Seid treue und wahrhaftige Zeugen für den Herrn! Geht mutig vorwärts im Kampfe, bis Babylon, ohne jede Spur zurückzulassen, wüst und öde gemacht ist! Verkündet die Botschaft weit und breit! Die Welt muß wissen, daß Jehova Gott ist und daß Jesus Christus der König der Könige und Herr der Herren ist! Dies ist der Tag aller Tage. Siehe, der König regiert! Ihr seid seine öffentlichen Verkündiger ... Deshalb verkündet, verkündet, verkündet den König und sein Königreich.“ Dieser Wachtturm war viele Monate mein ständiger Begleiter, bis er nur noch aus losen Blättern bestand.
DEM RUF FOLGEN
Mit 22 Jahren trat ich am 1. Januar 1924 in den Vollzeitpredigtdienst ein und war sehr froh, meine ganze Kraft und Zeit dafür einzusetzen, anderen die biblischen Wahrheiten zu übermitteln. Auf diese Weise wollte ich zeigen, daß ich nicht vergessen hatte, welche Wohltaten Jehova mir erwiesen hatte.
Anläßlich einer Taufe drangen die Brüder von Mainz und Wiesbaden in mich, ich sollte doch zu ihnen kommen und ihnen helfen, eine Versammlung zu organisieren, was ich auch gern tat. Bald darauf wurde ich zum Versammlungsaufseher von Mainz und Wiesbaden ernannt und blieb es bis 1933. Ich arbeitete wiederholt das gesamte Gebiet mit der Königreichsbotschaft durch und hielt Vorträge über biblische Themen.
Es entstanden weitere Studiengruppen, und einige der Personen, denen wir damals Zeugnis gaben, gehören heute noch zu den Versammlungen Wiesbaden, Mainz und Bad Kreuznach — viele aber sind im Tode entschlafen. Wir hatten damals noch keine Autos; alles wurde mit Fahrrädern bewältigt. Oft fuhren wir mit dem Fahrrad 50 bis 90 Kilometer an einem Tag. Die Begeisterung, diese Arbeit durchführen zu dürfen, war immer sehr groß.
In den folgenden Jahren predigte ich in Rheinhessen, Hessen-Nassau, im Taunus und Hunsrück, im Nahetal und zum Teil in Saarbrücken. Zurückblickend kann ich nur sagen, daß Jehova wunderbar für meine Bedürfnisse gesorgt hat. Nie litt ich Mangel, und ich wurde reichlich entschädigt für das, was ich aufgegeben hatte, wie es der Herr nach Matthäus 19:29 zum Ausdruck brachte: „Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird vielmal mehr empfangen und wird ewiges Leben ererben.“ Heute sehe ich das wunderbare Wachstum der Organisation Gottes. Aus jedem mir zugeteilten Gebiet sind Verkündiger hervorgegangen, von denen etliche im Vollzeitpredigtdienst stehen. So freue ich mich an dem Anteil, den mir Jehova an dieser Mehrung gegeben hat.
UNTERGRUND-PREDIGTTÄTIGKEIT
Das Jahr 1933 kennzeichnete den Beginn des Hitler-Regimes und brachte eine völlige Umstellung unserer Tätigkeit. Im Sommer 1934 mußten wir zur Untergrundtätigkeit übergehen. Es war mir klar, daß es ein harter Kampf werden würde, aber die Verheißung in Offenbarung 2:11 stärkte mich: „Wer siegt, der wird keinesfalls vom zweiten Tode Schaden erleiden.“
Es galt, da, wo der Feind durch Verhaftungen tiefe Wunden in die Versammlungen geschlagen hatte, zu trösten, aufzurichten und die Brüder mit der so notwendigen geistigen Speise zu versehen, mit der uns Jehova weiter treu versorgte. So mancher setzte hierfür sein Leben ein. Aber Jehova war unser Zufluchtsort und unsere Kraftquelle in allen Nöten. — Psalm 46:1.
Wir holten bibelerklärende Schriften aus der Schweiz, aus Holland und aus dem Saargebiet, und zwar nicht nur den Wachtturm, sondern auch gebundene Bücher wie Bewahrung, Rüstung usw. Die Brüder offenbarten tiefe Wertschätzung für diese geistige Speise, und ihre Freude belohnte uns für alle Strapazen und Gefahren. Mehrere Male bot man mir an, in der schönen Schweiz zu bleiben. Ich erwiderte jedoch stets, ich könne meine Brüder, die ihre Knie nicht vor dem Baal gebeugt hätten, unmöglich im Stich lassen.
Da ich von der Gestapo steckbrieflich gesucht wurde, war es für mich schwierig, die Grenze zu überschreiten. Einmal marschierten wir zu zweit, auf der Mundharmonika spielend, über die grüne Grenze. Ein Schweizer Posten rief uns an, wir legitimierten uns als „verirrte“ Spaziergänger, und weiter ging der Marsch. Oft wußte ich nicht, wo ich mein Haupt hinlegen sollte, da ich unter Brüdern verkehrte, die unter ständiger Beobachtung standen. Oft schlief ich im fahrenden Eisenbahnzug, aber auch dort wurden Kontrollen durchgeführt. Oft konnte ich die schützende Hand Jehovas erkennen. Immer fester wurde ich durch den Glauben an ihn gebunden, da ich mich ja nur auf ihn verlassen konnte. Auch der Apostel Paulus sagte: „Wir werden auf jede Weise bedrängt, doch nicht bewegungsunfähig eingeengt; wir sind ratlos, doch nicht gänzlich ohne Ausweg.“ — 2. Kor. 4:8.
MIT KNAPPER NOT DAVONGEKOMMEN
Einmal besuchte ich meine Schwester in Karlsruhe, die auch die Bibel studierte. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich einen Herrn in Zivil davorstehen. Ich ging an ihm vorbei durch den Hof zum Haus. Da ging die Haustür auf, und ein zweiter Herr kam heraus. Ich rief ihm zu, er möchte die Tür offenhalten, und ging hinein. Als meine Schwester mich sah, fiel sie fast in Ohnmacht. Ich verstand sofort die Situation, machte kehrt, ging an den zwei Herren, die noch im Hof standen, vorbei zum Bahnhof. Später erzählte mir meine Schwester, daß die beiden Herren Gestapobeamte gewesen seien, die mich gesucht hätten!
Bei den vielen Gerichtsverhandlungen der Brüder wurde oft mein Name genannt, da ich den meisten infolge meiner langjährigen Predigttätigkeit bekannt war. Die Gestapo war mir ständig auf den Fersen und hätte manchmal nur die Schlinge zuziehen brauchen, aber Jehova bewies immer wieder seine schützende Macht.
Einmal sollte ich je einen Koffer mit bibelerklärenden Schriften, die über die Grenze gebracht worden waren, nach Bonn und nach Kassel bringen. Spätabends kam ich in Bonn an und stellte die Koffer vorsichtshalber beim Versammlungsdiener in den Keller. Am anderen Morgen um halb sechs klingelte es. Wer kam? Die Gestapo. Der Versammlungsdiener klopfte an meine Tür und sagte mir, sie seien da. Da zum Verschwinden keine Möglichkeit mehr war, ließen wir die Dinge an uns herankommen.
Als sie an meine Tür kamen, fragten sie mich, was ich hier tue. Ich erwiderte, ich sei auf einer Rheintour und wolle den Botanischen Garten in Bonn besuchen. Darauf wurden meine Papiere kontrolliert und nachdenklich wieder zurückgegeben. Der Versammlungsdiener wurde aufgefordert, sich fertigzumachen und mitzugehen. Später erzählte er mir, der Beamte auf dem Polizeipräsidium habe bei ihrer Ankunft gefragt: „Es war doch noch ein anderer da. Wo habt ihr den?“
„Den haben wir nicht mitgenommen“, war die Antwort. „Sollen wir ihn noch holen?“ „Holen?“ fragte der Beamte, erstaunt über soviel Dummheit. „Glaubt ihr, daß er wartet, bis ihr wiederkommt?“
Ich wartete auch tatsächlich nicht, sondern nahm sofort den einen Koffer mit den Schriften und fuhr nach Kassel ab.
Ein anderes Mal brachte ich zwei schwere Koffer mit Literatur nach Burgsolms bei Wetzlar. Es war 23 Uhr und pechschwarze Nacht. Ich sah und hörte niemand; trotzdem überkam mich das Gefühl, daß mich jemand beobachte. Als ich in dem Haus ankam, bat ich den Bruder, die Koffer sofort in Sicherheit zu bringen. Am anderen Morgen um halb sechs kam der Gendarmeriewachtmeister. Ich stand mitten im Zimmer und war gerade im Begriff, mich zu waschen.
„Da ist doch gestern abend ein Mann mit zwei großen, schweren Koffern gekommen. Da habt ihr doch sicher wieder Bücher bekommen. Wo sind sie?“
Die Frau des Hauses, die an die Tür gegangen war, erwiderte: „Mein Mann ist bereits auf der Arbeit, und was gestern abend geschah, weiß ich nicht, da ich nicht zu Hause war.“
Darauf sagte der Wachtmeister: „Wenn Sie die Koffer nicht herausgeben, muß ich eine Haussuchung vornehmen.“ Als sie nicht reagierte, sagte er drohend: „Sie dürfen das Haus nicht verlassen. Ich hole schnell den Bürgermeister, denn ohne ihn darf ich keine Haussuchung durchführen.“
Während dieser Unterredung stand ich mitten im Zimmer und wunderte mich, warum er mich nicht sah. Ich muß annehmen, daß er mit Blindheit geschlagen war. Sobald er weggegangen war, um den Bürgermeister zu holen, ging ich hinten hinaus. Wie ich später erfuhr, sollen Nachbarn das beobachtet und sich über mein Entkommen gefreut haben. Im Wald zog ich mich dann fertig an, lief bis zur nächsten Bahnstation und reiste weiter.
VERHAFTUNG UND EINKERKERUNG
Im Sommer 1937 hatte ich das Vorrecht, am Kongreß in Paris teilzunehmen. Ich hatte Gelegenheit, mit J. F. Rutherford, dem damaligen Präsidenten der Watch Tower Society, über das Werk in Deutschland zu sprechen. Inzwischen waren die meisten Brüder in Sachsen verhaftet worden. Ich bemühte mich daher nach meiner Rückkehr, dort das Werk wiederaufzubauen. Aber bereits am zweiten Tag wurde ich mit dem mich begleitenden Bruder auf der Straße verhaftet und mitten aus der Tätigkeit gerissen. Man fuhr uns zur Gestapo nach Berlin, wo wir vierzig Tage verhört wurden. Die ersten zehn Tage waren die grausamsten. Dann wurden wir zum Sondergericht Frankfurt (Main) überführt, und ich wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Während der Gerichtsverhandlung wurde mir auch die Frage gestellt, warum ich nicht Adolf Hitler dienen würde. Ich antwortete: „Soviel ich weiß, verlangt Adolf Hitler 100 %igen Einsatz.“ Man antwortete: „Jawohl!“ Ich entgegnete: „Dann möchte mir der Herr Richter sagen, was für Gott noch übrigbleibt, wenn geschrieben steht: ‚Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist.‘“ Nur ein verlegenes Hüsteln war die Antwort. Ich war Jehova sehr dankbar, daß er mir den Mut gab, ihn mit Freimut der Rede zu vertreten. Mein früheres regelmäßiges Studium der Bibel war mir nun eine Kraftquelle.
Ich war dankbar, daß ich auch in meiner Zelle, in der ich zweieinhalb Jahre in Einzelhaft war, das gebetsvolle Bibellesen weiter pflegen konnte, denn ich hatte auf meine Bitte von der Gefängnisleitung eine Heilige Schrift erhalten. Zweimal las ich sie ganz durch, und die Christlichen Griechischen Schriften las ich etwa zehnmal.
Später war ich mit 15 Mann in der Gefängnisschneiderei tätig. Da gab es reichlich Gelegenheit, Zeugnis zu geben. Einmal mußte ich über das Thema „Wo sind die Toten?“ sprechen, und ein katholischer Geistlicher, ebenfalls ein Häftling, sollte anschließend dazu Stellung nehmen. Vielen gingen die Augen auf, als sie hörten, wie der Geistliche zuletzt verzweifelt sagte: „Alle Heiden glauben an ein Weiterleben nach dem Tode; warum sollen wir nicht auch daran glauben?“ Man antwortete: „Ja, lesen diese denn auch die Bibel?“
Kurz vor Ablauf meiner Strafzeit beschäftigte ich mich noch ganz intensiv mit bestimmten Bibeltexten, denn ich erwartete, nochmals vor die Gestapo gebracht zu werden. So war es auch, und ich konnte drei Tage, von morgens bis mittags, die Argumente der Gegner gründlich zerschlagen, wie Jesus es verheißen hatte: „Denn ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher alle eure Gegner zusammen nicht zu widerstehen oder zu widersprechen vermögen.“ — Luk. 21:15.
Nun kam ich ins Konzentrationslager Mauthausen. Man bemerkte, das geschehe, „um mich von der Erde auszulöschen“. Aber auch hier war die Hand Jehovas nicht zu kurz, und ich werde nie vergessen, welche Wohltaten er mir während dieser Zeit erwies. Ich wurde im Straßenbau eingesetzt, wo meine Kraft bei Steckrüben und schwarzem Kaffee in drei Monaten verbraucht war. Ich wog nur noch 75 Pfund und rechnete täglich mit meinem Ableben. Plötzlich kam der Befehl: „21 Häftlinge aus Baracke I in die Küche!“ Ich war mit dabei. Nun ging es mit meinen Kräften langsam wieder aufwärts, und ich dankte Jehova für die gnädige Führung. Nach achteinhalb Jahren öffneten sich 1945 die Tore, und wir waren wieder frei.
DAS WIEDERAUFBAUWERK
Im August traf ich in Wiesbaden ein, und im September begannen wir mit dem Wiederaufbauwerk. Da in den vergangenen zwölf Jahren viele neue Organisationsanweisungen herausgegeben worden waren, wurden wir zuerst zu einem Auffrischungskurs ins Bethel Magdeburg eingeladen. Es wurde dafür gesorgt, daß die Versammlungen regelmäßig von Kreis- und Bezirksdienern besucht wurden. Die Anwendung der empfangenen Richtlinien trug dazu bei, daß das Predigtwerk in Deutschland wunderbare Fortschritte machte. Auch hier erkannte ich Jehovas unverdiente Güte und sah, wie er sein Volk durch seine theokratische Organisation leitet.
Seit unserer Entlassung aus Hitlers Konzentrationslagern sind nun zwanzig Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte ich das Vorrecht, im Bezirks- und Kreisdienst zu wirken. Es war ein Dienst, der von Jehova reich gesegnet wurde und der mich sehr glücklich machte. Oft sagen Brüder: „Erinnerst du dich noch daran, wie du mir das erste Buch in die Hände legtest?“ oder: „Du hast mich als erster besucht!“ Von Zeit zu Zeit erhielten wir Gelegenheit, weitere segensreiche Auffrischungskurse durchzumachen, doch der eindrucksvollste und belehrendste war die Königreichsdienstschule, die ich im Jahre 1960 besuchen durfte. Wie schätzten wir die liebevollen Ausführungen des Unterweisers! Wir haben uns seither bemüht, das Gelernte zum Segen der Brüder anzuwenden.
Eine besondere Freude und Überraschung war, als ich eine Einladung zum Kongreß „Mehrung der Theokratie“ bekam, der 1950 in New York stattfand. Der Flug über den Atlantischen Ozean, die gewaltige Stadt New York mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten, der herrliche Mammut-Kongreß im Yankee Stadion, acht volle Tage wunderbarer Belehrungen — all das ist unvergeßlich. Eine Schwester übersetzte uns die Vorträge sogleich in die deutsche Sprache, und wir machten viele Notizen. Auf diese Weise konnten wir auch unseren Brüdern daheim viel geben. Da ich in Deutschland schon bei der Vorbereitung von Kongressen mitgeholfen hatte, interessierte mich besonders der so reibungslose Ablauf dieses Kongresses, und ich hielt überall die Augen offen.
Zwei Jahre später las ich zu meiner Freude, daß Jehovas Volk im Sommer 1953 in New York einen weiteren Kongreß durchführen werde. Durch Jehovas unverdiente Güte durfte ich wieder dabei sein. Wahrlich, hier war ein Volk, abgesondert von der Welt, um den Interessen Jehovas zu dienen. Auf einem Kongreß, der kurz danach (1953) in Nürnberg stattfand, lernte ich eine fleißige und tüchtige Schwester kennen, die im Vollzeitpredigtdienst stand. Im Jahre 1954 heirateten wir, und seither hat sie mich im Kreisdienst begleitet. Wir hatten dann gemeinsam das Vorrecht, den unvergeßlichen Kongreß „Göttlicher Wille“, der 1958 in New York durchgeführt wurde, zu besuchen. Auch hier empfingen wir Segnungen, die uns zur Wachsamkeit und zu treuer Pflichterfüllung anspornten und bewirkten, daß wir die Wohltaten, die Jehova uns erwiesen hat, nie vergessen werden.
Auf diesen drei Weltkongressen in New York erlebte ich die glücklichsten Stunden meines Lebens. All das Gute hätte ich nie geschmeckt, wenn ich nicht schon in jungen Jahren den Vollzeitdienst ergriffen hätte. Immer wieder sah ich, daß es Jehova nicht schwerfällt, uns mit vielem oder wenigem zu helfen.
All die Jahre seither haben mir vollauf bewiesen, daß ich Herzensfrieden und Zufriedenheit habe, wenn ich mein Bestes tue und meinen Verpflichtungen nachkomme, indem ich die Königreichsinteressen an die erste Stelle setze. Es gibt Hindernisse, doch wenn diese überwunden werden, tragen sie entschieden zu unserer geistigen Stärkung bei.
So ist es mein aufrichtiger Wunsch und mein Gebet, daß meine Liebe und Treue weiter zunehmen mögen, damit ich, wenn ich älter werde und Gesundheit und Kraft nachlassen, weiter reich sein möge an guten Werken zur Lobpreisung Jehovas, der mir so viele Wohltaten erwiesen hat.