Ich wohnte im Hause Jehovas alle Tage meines Lebens
Erzählt von W. ELDON WOODWORTH
ALS ich im Mai 1911 die Einladung zu dem biblischen Vortrag las, der in meiner kleinen Heimatstadt in Illinois gehalten werden sollte, hatte ich noch keine Ahnung, was das für mich schließlich bedeuten würde. Wie hätte ich wissen können, daß ich dadurch auf einen Weg geführt würde, auf dem ich 45 Jahre den gesegneten, freudigen Dienst im Zentrum der sichtbaren Organisation Gottes genießen dürfte?
Doch während ich mir jenen Vortrag anhörte, erkannte ich, daß das, was ich hörte, etwas Gutes war — es war zweifellos die Wahrheit! Am darauffolgenden Sonntag nahm ich deshalb meine Mutter und meinen achtjährigen Bruder mit in das Theater, wo der nächste Vortrag gehalten wurde. Wir erhielten bei dieser Gelegenheit Antwort auf Fragen, die viele Menschen, die den Schöpfer wirklich lieben, beschäftigen. Als wir hörten, daß Gott Abraham verheißen hatte: „In deinem Samen werden sich segnen alle Nationen der Erde“, wußten wir sogleich, daß wir an der Erfüllung dieser Verheißung teilhaben wollten. — 1. Mose 22:18.
Es dauerte nicht lange, bis wir drei mit der Straßenbahn in die umliegenden Orte fuhren, um keinen der sonntäglichen Vorträge zu versäumen. Konnte ich die biblischen Wahrheiten, die ich kennenlernte, für mich behalten? Niemals! Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal meinen Sonntagsschullehrer, der Baptist war, ansprach und ihn fragte, ob er mir Matthäus 11:11 erklären könne: „Wahrlich ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist kein Größerer erweckt worden als Johannes der Täufer; doch jemand, der ein Geringerer ist im Königreich der Himmel, ist größer als er.“ Da seine Kirche sehr viel von Johannes dem Täufer hielt und Jesus mit diesen Worten zeigte, daß Johannes nicht in den Himmel kommt, war diese Frage eines Zwanzigjährigen für ihn peinlich. Natürlich konnte er sie nicht beantworten.
Da ich als Junge getauft worden war, dachte ich nie daran, daß ich nötig hätte, nochmals getauft zu werden. Im Jahre 1913 fuhr ich jedoch nach Madison (Wisconsin), wo ich zum erstenmal einem Kongreß der Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, beiwohnte. Bei dieser Gelegenheit konnte ich auch Bruder Russell, den Präsidenten der Watch Tower Society, hören. Ich hatte schon oft von den reisenden Rednern aus dem Bethel, dem Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn, gelesen und freute mich deshalb, nun einmal einen von ihnen zu hören. Als ich Bruder Russells Ansprache über die Taufe hörte, erkannte ich, daß meine Taufe in der Kirche nicht meine völlige Hingabe an Jehova versinnbildlichte. Ich schloß mich daher denen an, die zum See gingen, um sich taufen zu lassen, und symbolisierte das, was in meinem Leben vor sich gegangen war. Ich kann ehrlich sagen, ich habe es in den vergangenen 53 Jahren nie bereut, daß ich mich Gott hingegeben habe.
Damit wir uns am Ort regelmäßig versammeln konnten, mieteten wir einen kleinen Raum über einem Süßwarengeschäft und hängten ein Schild mit dem Hinweis, daß sich hier die Internationalen Bibelforscher versammeln würden, ins Fenster. Die Versammlung wuchs, und schließlich wohnten dreizehn Personen den Zusammenkünften bei. Meine Gedanken waren jedoch auf das Bethel gerichtet. Ich wußte, daß es das irdische Zentrum der theokratischen Tätigkeit war. Ob ich wohl jemals im „Hause Jehovas“ wohnen könnte? (Ps. 27:4) Ich konnte es nur hoffen.
Einige Jahre arbeitete ich bei der Post als Hilfsbriefträger. Im Jahre 1918 wurde ich jedoch zum Militärdienst eingezogen. Damals verstanden wir die Verpflichtungen, die ein Christ den „obrigkeitlichen Gewalten“ gegenüber hat, noch nicht ganz, und so nahm ich als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen einen beschränkten Dienst an. Ich wurde der Militärpost zugeteilt, die nicht weit von unserem Ort stationiert war. Ich erinnere mich noch gut an den 11. November 1918, an dem der Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Es war nach 22 Uhr, und im ganzen Lager war es dunkel. Auf einmal flammten die Lichter auf, die Männer brachen in ein Freudengeschrei aus, und alles geriet in Aufregung. Ja, die Menschen sehnten sich nach einem Weltfrieden. Auch ich sehnte mich danach, aber ich wußte genau, daß Jehova ihn herbeiführen würde, nicht Menschen.
IM „HAUSE GOTTES“ WOHNEN
Auf einem Kongreß in Chicago, im Jahre 1920, sagte ich zu einem Bruder, ich möchte gern ins Bethel. Auf seine Anregung hin schrieb ich dem Präsidenten der Gesellschaft. Zu meiner Überraschung erhielt ich innerhalb von vier Tagen einen Brief, in dem ich eingeladen wurde zu kommen. Ich habe diesen Brief heute noch und hüte ihn wie ein kostbares Gut. Stell dir vor, schon fünfzehn Tage nachdem ich meine Bewerbung eingesandt hatte, trat ich in den Betheldienst ein, und dank der unverdienten Güte Jehovas bin ich heute noch ein Glied der Bethelfamilie. Welch ein Vorrecht! Welche Güte Jehovas, mich im Bethel wohnen zu lassen! Dieser Name bedeutet nämlich „Haus Gottes“. Man kann diese würdige Stätte erst richtig schätzen, wenn man eine Zeitlang hier gewohnt hat. Menschen mögen dich gelegentlich enttäuschen; das Bethel ist jedoch stets besser, als man es sich vorstellen kann, und es wird immer noch besser.
„Man leistet hier Unmögliches“, dachte ich oft, wenn ich sah, wie die treuergebenen Diener Gottes hier Aufgaben unternahmen, an die sich jemand anders kaum herangewagt hätte. Ein Beispiel hierfür erlebte ich, kurz nachdem ich in der Druckerei der Gesellschaft zu arbeiten begonnen hatte. Unsere Druckerei befand sich zuerst in einem Geschäftshaus an der Myrtle Avenue. Im Jahre 1922 zogen wir dann in die Concord Street um. Bis dahin hatten wir die runden Druckplatten für unsere Rotationsmaschine bei einer weltlichen Firma herstellen lassen. Die Galvanoplastik ist ein sehr kompliziertes Verfahren, und wir fragten uns deshalb, ob wir das je lernen und unsere Platten selbst herstellen könnten. „Unmöglich“, dachten manche Geschäftsleute. Die Galvanoplastiker waren gewerkschaftlich organisiert, und niemand wollte uns anlernen.
Jehova kam uns jedoch zu Hilfe. Ein Bruder aus Kanada, ein Galvanoplastiker, kam nach Brooklyn und brachte uns die grundlegenden Kenntnisse bei. Dann besichtigten einige Glieder der Bethelfamilie einige galvanische Anstalten, wobei sie die Augen offen und den Mund geschlossen hielten. Kurz darauf stellten wir unsere Platten selbst her. Der Mann, von dem wir die erste Lieferung von Chemikalien für die Stereotypie erhielten, sagte später, er habe gedacht, das sei unsere erste und letzte Bestellung. Er glaubte, es sei unmöglich, daß Amateure, wie wir es ohne Zweifel waren, diese Technik ohne jahrelange Ausbildung erlernen könnten. Er hatte aber nicht mit Jehovas Geist gerechnet. Wir stellten von da an unsere Platten selbst her, und wir tun es heute noch.
EINE STÄTTE DER ARBEIT
Eine Zeitlang arbeitete ich in der Stereotypie und half sogar beim Drucken der Harfe Gottes, des ersten Buches, das die Gesellschaft in ihrer Druckerei selbst druckte und band, mit. Meine Hauptbeschäftigung im Bethel war jedoch in der Setzerei. Nachdem die Zeilen auf der Linotype gesetzt sind, müssen sie „umbrochen“, das heißt zu Zeitschriften- oder Buchseiten zusammengestellt werden. Siebzehn Jahre von 1938 bis 1955, machte ich den Umbruch für sämtliche fremdsprachigen Zeitschriften, die damals in Brooklyn gedruckt wurden. Das waren mindestens zwölf verschiedene Zeitschriften im Monat. Ich war nie ein schneller Arbeiter, aber ich war stets fleißig. Ich hatte jedenfalls am Ende des Tages nie das beschämende Gefühl, nicht mein möglichstes geleistet zu haben. Wir sind stets bestrebt, in der Organisation des Herrn unser Bestes zu tun.
Nun habe ich eine Arbeit, bei der ich nicht mehr den ganzen Tag stehen muß, denn für einen Fünfundsiebzigjährigen wäre das etwas zuviel. Ich habe jedoch immer noch genug zu tun. Beim Sortieren und Entziffern der Namen und Adressen auf handgeschriebenen Abonnementszetteln kann ich meine bei der Post gesammelten Erfahrungen gut anwenden.
Im vergangenen September durften alle, die im Bethelheim und in den Büros arbeiten, eines Nachmittags an einer mehrstündigen Führung durch die Druckerei teilnehmen. Statt der drei gemieteten Stockwerke, in denen die Druckerei der Gesellschaft in einem Geschäftshaus untergebracht war, als ich im Jahre 1920 kam, nimmt sie heute drei große Gebäude ein, und der Bau eines vierten Gebäudes ist geplant. Als ich durch die Setzerei ging, sagte ein junger Mitarbeiter zu mir: „Na, Bruder Woodworth, hättest du nicht Lust, diesen Satz zu säubern?“ Obwohl ich in den vergangenen elf Jahren andere Arbeit getan habe, könnte es für mich nichts Selbstverständlicheres geben, als Linotype-Zeilen vom Grat zu säubern.
Das Leben im Bethel ist sehr abwechslungsreich. Es gibt stets viel und alles mögliche zu tun. Solange man bereit ist zu arbeiten, und ich meine, fleißig zu arbeiten, ist das Leben im Bethel sehr interessant. Die Aufgaben im Heim oder in der Druckerei, die Zusammenarbeit mit einer New Yorker Versammlung, Dienstreisen am Wochenende, um Vorträge zu halten — ja, man hat stets viel zu tun. Ich liebe jedoch das Bethel, und es hat mich nie enttäuscht.
Im Jahre 1923 beteiligte ich mich an einer besonderen Arbeit, die mir sehr zum Segen wurde. Die Gesellschaft hatte auf Staten Island ein Grundstück erworben, um die Radiostation WBBR zu errichten. Viele Glieder der Bethelfamilie halfen an Sonnabendnachmittagen und Sonntagen mit, das Land zu roden und die Station zu bauen. An einem dieser Wochenenden begegnete ich dort Florence Parker. Auf einem Kongreß in Philadelphia sahen wir uns wieder. Sie hoffte, sich bei dieser Gelegenheit taufen zu lassen, verpaßte dann aber die Taufe. Wir hatten damals im Bethel ein kleines Taufbecken, und ich erwähnte, daß wir am folgenden Sonntag im Bethel eine Taufe durchführen würden. Sie sagte, sie würde kommen.
Der Bruder, der die Taufansprache hielt, fragte mich, ob ich die Taufhandlung vornehmen würde, und so kam es, daß ich Florence, die mir von da an sehr viel bedeutete, taufte. Im Jahre 1928 heirateten wir, und Florence diente danach als Vollzeitprediger im Stadtgebiet New Yorks. Sie predigte Geschäftsleuten im Empire State Building und in anderen Wolkenkratzern am unteren Broadway. Mir schien das fast unmöglich zu sein, aber sie konnte es tun. Vierunddreißig Jahre war sie für mich alles, was eine gute Frau sein kann. Im August 1962 wurde sie krank und starb schließlich. Sie blieb der himmlischen Hoffnung, für die sie wirkte, bis zum Tode treu.
DAS ZENTRUM DER ORGANISATION GOTTES WERTSCHÄTZEN
Seit ihrem Tod habe ich das Bethel noch mehr schätzengelernt. Wie bereits erwähnt, kann das Bethel als ein Zentrum, als das Zentrum des Volkes Jehovas, betrachtet werden. Wir kommen hier ständig mit Leuten zusammen, die von überallher kommen und die überallhin gehen. Zweimal im Jahr treffen 100 Studenten ein, um die Gileadschule zu besuchen. Missionare und reisende Vertreter der Gesellschaft kommen zu Besuch. Dann lernen wir natürlich auch alle Glieder der Familie kennen. Das ist gar nicht so einfach, denn aus den 107 Personen, die sie zählte, als ich im Jahre 1920 kam, sind fast 700 geworden. Du siehst also, ich habe alle Hände voll zu tun. Von sechs Gliedern der Familie kann ich aber immerhin fünf mit Namen grüßen.
Ich freute mich stets, Menschen kennenzulernen. Unser ausgefülltes Arbeitsprogramm hier läßt uns zwar wenig Zeit, Besuche zu machen. Stell dir aber vor, wie schön es ist, sich abends bei Tisch mit Menschen aus aller Welt zu unterhalten. Erst vor kurzem erhielt ich eine Karte von einigen Missionaren, die nach Taiwan (Republik China) gesandt worden waren. Da ich nun 45 Jahre hier bin, begegne ich ständig Menschen, die ich kenne oder die Bekannte von mir kennen. Meine Familie von Freunden erstreckt sich rund um den Erdball.
Große Dinge werden hier unternommen. Man denke nur an die Kongresse, deren Größe alle Vorstellungen übertrafen. Bei manchen Kongressen half ich bei der Taufe mit. Zu sehen, wie zwei- bis dreitausend Menschen ihre Hingabe an Gott symbolisieren, ist ein überwältigender Anblick.
Der Betheldienst hat mich nicht daran gehindert, zu Kongressen zu reisen. Im Gegenteil! Im Jahre 1947 konnte ich die lange Reise nach Kalifornien machen, um einem Kongreß beizuwohnen. Im Jahre 1955 hatte ich das Vorrecht, eine Reihe europäischer Kongresse zu besuchen. Wir fuhren nach Kanada, wo unsere Reise mit der „Arosa Star“ begann. Nach neun Tagen trafen wir in England zum ersten Kongreß ein. Dann fuhren wir nach Paris, Rom, Bern und Nürnberg, wo unser Kongreß auf dem Gelände stattfand, auf dem Hitler jeweils seine Truppenparaden abgehalten hatte. Wie wunderbar war es doch, unsere christlichen Brüder aus aller Herren Ländern in ihren Volkstrachten zu sehen und zu wissen, daß auch sie sich dem Hause Jehovas zugewandt haben und sich in seinem geistigen Tempel belehren lassen möchten! Ob der Briefträger aus Illinois wohl solche Reisen gemacht hätte, wenn er Briefträger geblieben wäre? Wahrscheinlich kaum. Nein, ich kann mit Überzeugung sagen, daß man als Glied einer Bethelfamilie nie etwas verliert.
Das Leben an dieser interessanten Stätte ist so vielseitig, daß ich mich im Laufe der Jahre immer mehr zum Bethel, zum „Hause Gottes“, hingezogen fühlte. Stell dir vor, was es bedeutet, jeden Wochentag mit einer reifen Betrachtung eines Bibeltextes am Frühstückstisch zu beginnen. Ja, das ist sogar ein „Muß“, wenn wir stark genug sein wollen, um dem Druck der vielen Arbeit und der eifrigen Predigttätigkeit standzuhalten. Der Leiter der Bethelfamilie betont immer wieder, daß man den Tag mit einer Bibelbetrachtung beginnen sollte.
Mehrere Glieder der Familie hier haben fast ihr ganzes Leben lang dem wahren Gott gedient. Wie bei mir lassen auch bei ihnen zufolge des hohen Alters die physischen Kräfte nach, aber sie sprechen immer noch von Jehovas Königtum, „um den Menschenkindern kundzutun seine Machttaten und die prachtvolle Herrlichkeit seines Reiches [Königtums, NW]“. (Ps. 145:12) Der Apostel Paulus schrieb: „Wenn auch der Mensch, der wir äußerlich sind, verfällt, wird gewißlich der Mensch, der wir innerlich sind, von Tag zu Tag erneuert.“ (2. Kor. 4:16) Das macht uns große Freude. Vor kurzem stand ich zum Beispiel an einer belebten Straßenecke und bot den Vorübergehenden unsere Zeitschriften an. Ein Mann blieb stehen und nahm die Zeitschriften entgegen. Dann sagte er: „Ich freue mich immer, euch Zeugen Jehovas zu sehen. Ihr seid wirklich glückliche Menschen.“
Ich schätze mich ganz besonders glücklich, weil ich das Vorrecht gehabt habe, 45 Jahre im Hause Jehovas zu wohnen. Ich bin dankbar, daß ich jene erste Zusammenkunft besuchte, die mir den Weg zu diesem inhaltsreichen Leben erschloß. Ja, wie lieblich war es doch, „im Hause Jehovas [zu wohnen] alle Tage meines Lebens“! — Ps. 27:4.
„Jehova, wer wird in deinem Zelte weilen? Wer wird wohnen auf deinem heiligen Berge? Der in Lauterkeit wandelt und Gerechtigkeit wirkt und Wahrheit redet von Herzen, nicht verleumdet mit seiner Zunge, kein Übel tut seinem Genossen und keine Schmähung bringt auf seinen Nächsten; in dessen Augen verachtet ist der Verworfene, der aber die ehrt, welche Jehova fürchten; hat er zum Schaden geschworen, so ändert er es nicht; der sein Geld nicht auf Zins gibt und kein Geschenk nimmt wider den Unschuldigen. Wer solches tut, wird nicht wanken in Ewigkeit.“ — Psalm 15.