Von Kindheit an Gottes Wege kennenlernen
Von Kathryn Glass erzählt
„DU HAST nun angefangen, die Bibel zu studieren, und lernst Jehovas Vorhaben kennen; doch gibt es noch etwas, was du tun solltest. Sprich mit deinen Kindern über diese Dinge.“
„Aber sie sind doch noch zu klein! Das Mädchen ist ja erst vier, und der Junge ist gerade erst ein Jahr alt. Was wir hier lernen, ist zu schwer für sie!“
Wie oft äußern sich Eltern so! Aber stimmt es, daß kleine Kinder die Lehren der Bibel nicht verstehen können? Nun, ich habe oft Sprüche 22:6 angewandt, um vielen Müttern diese Frage zu beantworten. Dort heißt es: „Erziehe den Knaben seinem Wege gemäß; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird.“ Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß sich dies in der heutigen Zeit als ein vernünftiger Rat erwiesen hat.
FRÜHE ERZIEHUNG
Im Jahre 1911 begannen meine Eltern, anhand der als „Schriftstudien“ bezeichneten Bücherserie, die von der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung herausgegeben worden war, die Bibel zu studieren. Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt. Ich hatte einen kleinen Bruder, und meine Eltern lehrten uns von Anfang an, welche frohe Hoffnung Gottes Königreich bietet und was Jehova von kleinen Kindern fordert. Später bekamen wir noch einen Bruder und eine Schwester, und auch sie lernten mit uns zusammen. Während wir heranwuchsen, hatten wir daher stets Gottes Vorhaben und seine Verheißungen im Sinn.
Bevor wir ins schulpflichtige Alter kamen, versammelte Mutter uns und einige Nachbarkinder im Sommer jeden Morgen, und wir sangen ein Lied aus dem Buch Hymns of Millennial Dawn (Millenniumtagesanbruchs-Hymnen). Dann sprach sie ein kurzes Gebet mit uns und erzählte danach eine biblische Geschichte. Ja noch mehr, sie regte zu einem kleinen Gespräch an, damit wir den tieferen Sinn erfaßten. Wir hatten dabei sehr viel Freude! Und dies half uns, zu erkennen, welche Rolle die verschiedenen biblischen Personen im Vorhaben Jehovas spielten.
Die Versammlung des Volkes Jehovas in unserer Stadt, Vincennes (Indiana), kam in unserer Wohnung zusammen. Wir Kinder mußten lernen, vor jeder Zusammenkunft etwas zu trinken und zur Toilette zu gehen, damit wir später niemand störten. Wir lernten, still zu sitzen und zuzuhören. Als ich dann im dritten Schuljahr war, bekam ich mein eigenes Exemplar des Bibelstudienhilfsmittels, und ich las die Absätze, wenn die Reihe an mich kam.
Unsere Wohnung war stets ein „offenes Haus“ für die Pioniere (damals als Kolporteure bekannt), die ihre ganze Zeit einsetzten, um die Schriften der Watch Tower Society zu verbreiten, und für die reisenden Vertreter der Gesellschaft, die wir damals als „Pilgerbrüder“ kannten. Wir hörten ihre Erfahrungen und zogen aus ihren Besuchen großen Nutzen.
ENTSCHEIDUNG IM ALTER VON ZEHN JAHREN
Ich erinnere mich noch deutlich an einen solchen Besuch. Damals war ich zehn Jahre alt. Der Besucher war ein „Pilgerbruder“ namens W. J. Thorn. Aus irgendeinem Grund waren bei einer seiner Zusammenkünfte nur Mutter und wir Kinder zugegen, und daher beschloß er, seine Worte besonders an uns Kinder zu richten. Er sprach über die Hingabe, und er machte dies so klar und wünschenswert, daß ich tief beeindruckt war. Als ich an jenem Abend zu Bett ging, bestand mein Gebet zum Teil darin, daß ich mich Gott zur Verfügung stellte, um so gebraucht zu werden, wie er es für passend erachtete. Ich sprach nie zu irgend jemand über diese Hingabe, aber in meiner ganzen Jugendzeit nahm sie in meinem Sinn den ersten Platz ein und war mir oft bei meinen Entscheidungen eine Hilfe.
Etwa zwei Jahre später zogen wir in eine kleine Stadt in Ohio, wo es keine Versammlung des Volkes Jehovas gab. Obwohl wir immer noch die Bibel studierten, taten wir es nicht mehr regelmäßig. Krankheit, der Kampf, die Familie zu ernähren, die Sorgen des Lebens und die Tatsache, daß Vater oft geschäftlich unterwegs sein mußte, hinderten uns einige Jahre lang daran, die geistig heilsame Gemeinschaft mit anderen Gliedern des Volkes Gottes zu pflegen. Aber jene frühe Erziehung hatte eine tiefe Wirkung auf uns Kinder gehabt. Sie hatte tief in unserem Herzen Wurzel gefaßt. Einer nach dem anderen von uns gab sich Gott hin. Ich ließ mich zusammen mit meiner Schwester 1936 taufen. Unsere Brüder hatten bereits den Vollzeitpredigtdienst, den Pionierdienst, aufgenommen, und Gertrude und ich planten es ebenfalls.
EIN LEBENSWERK BEGINNT
Im Dezember 1938 nahmen wir beide den Pionierdienst auf und predigten während unserer ganzen Zeit Gottes Wort. Damals wohnten wir in Cleveland (Ohio), und so dienten wir dort einige Monate, bevor wir die Zuteilung annahmen, in Brookville (Pennsylvanien) zu arbeiten. Es waren damals bewegte Zeiten. Jehovas Zeugen waren während des Zweiten Weltkrieges an vielen Orten das Ziel von Verfolgung. Gertrude und ich brachten, weil wir Gottes Wort predigten, mehrere Tage im Gefängnis zu. Dann erwirkte die Gesellschaft eine gerichtliche Verfügung gegen mehrere Städte in Pennsylvanien, und wir durften unser Predigtwerk ungehindert verrichten.
Als wir in Warren (Pennsylvanien) dienten, gab der damalige Präsident der Gesellschaft, J. F. Rutherford, eine neue Vorkehrung für „Sonderpioniere“ bekannt, unter der die Gesellschaft diesen Pionieren, die in Orte gehen würden, wo es besonders nötig war, das Königreich zu predigen, eine gewisse finanzielle Unterstützung gewähren würde. Wir waren wirklich begeistert, als wir Briefe mit der Einladung erhielten, uns an dieser besonderen Predigttätigkeit zu beteiligen!
Im Dezember 1941 begannen wir zu vier Pionieren, in Salamanca (New York) unter der neuen Vorkehrung zu arbeiten. Später schloß sich uns dort ein fünftes junges Mädchen an. Bald wurde eine Versammlung gegründet, es wurde ein Königreichssaal ausfindig gemacht und eingerichtet, und nun kam für uns die Zeit, in ein anderes Gebiet zu ziehen. Inzwischen fand es meine Schwester Gertrude ratsam, nach Hause zurückzukehren, um sich unserer Mutter während ihrer Krankheit, von der sie sich nicht mehr erholte, anzunehmen. Dorothy Lawrence und ich wurden 1944 nach Penn Yan (New York) gesandt, wo wir jedoch nicht lange blieben. Wir wurden beide eingeladen, die vierte Klasse der Schule der Watch Tower Society für die Ausbildung von Missionaren, nämlich der Gileadschule, zu besuchen. Von da an sind wir immer zusammen gewesen.
GILEAD UND DANACH
Uns fiel auf, daß viele in unserer Klasse in Gilead das Vorhaben Jehovas seit ihrer Kindheit kannten. Dort trafen wir auch den früheren „Pilgerbruder“ W. J. Thorn wieder. Obwohl alt und bei schlechter Gesundheit, konnte er noch täglich auf der Königreichsfarm der Watchtower Society arbeiten, wo sich damals die Gileadschule befand. Als ich ihn an seine Worte erinnerte, die in meiner frühen Kindheit einen solchen Einfluß auf mich ausgeübt hatten, sagte er mir, er hätte dieses Thema oft behandelt, wenn er mit Kindern gesprochen hätte.
Ich könnte ein Buch über unsere großartigen Erfahrungen in Gilead schreiben, aber Gilead war erst das Sprungbrett zu noch Größerem, was uns bevorstand. Unsere erste Zuteilung war Kuba, wo wir am ersten Tag des Jahres 1946 eintrafen. Wir sollten mithelfen, eine kleine Versammlung in einem Ort namens Cienfuegos zu stärken. Der Königreichssaal oder die Versammlungsstätte war das große Wohnzimmer unseres Missionarheimes. Unter einigen in der Versammlung herrschte Verwirrung; andere hatten aufgrund schlechter Einflüsse aufgehört, mit der Versammlung Gemeinschaft zu pflegen, und so bestand unsere Aufgabe darin, so viele wie möglich zu besuchen und zu erbauen. Mit Jehovas Hilfe gelang uns dies bis zu einem gewissen Grade.
EINE ANDERE ZUTEILUNG
Unsere nächste bedeutendere Zuteilung war die Dominikanische Republik. Kaum hatten wir uns niedergelassen und die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt bekommen, da begannen die Schwierigkeiten. Unser Werk wurde verboten. Der Diktator Trujillo ordnete die Schließung aller Königreichssäle an, und unser Predigtwerk wurde untersagt. Einige der Missionare wurden zurückgezogen, aber Dorothy und ich konnten glücklicherweise bleiben. Das Werk wurde nach neuen Richtlinien reorganisiert. Wir erhielten den Rat, eine weltliche Beschäftigung aufzunehmen und wie gewöhnliche Bewohner des Landes zu leben.
Das war ein ziemlicher Wechsel. Wir fanden eine bequeme Wohnung, von der aus man auf das Karibische Meer blicken konnte, und gaben Englischunterricht, um bleiben zu können. Unsere Schüler waren zum größten Teil Geschäftsleute und Diplomaten aus verschiedenen Ländern. Gleichzeitig wurde uns eine kleine Gruppe von Zeugen Jehovas zugeteilt, und wir hatten in unserer Wohnung Zusammenkünfte und Bibelstudien. Auf diese Weise waren die Polizeispione nie sicher, ob die Leute, die bei uns aus und ein gingen, richtige Englischschüler oder unsere geistigen Schwestern waren.
Wir hatten in unserer Wohnung eine große Badewanne, und sie erwies sich als sehr nützlich, da es in jenen Verbotsjahren nicht möglich war, öffentliche Taufen durchzuführen. Aus der ganzen Stadt kamen die Taufbewerber zu uns, um getauft zu werden, und ganz nebenbei konnten wir mit anderen Teilen der Stadt und des Landes in Verbindung bleiben und wissen, was dort geschah. Ich weiß von fünfzig oder noch mehr Personen, darunter viele junge Leute, die in jener Badewanne untergetaucht wurden.
Einmal war unsere Wohnung zur Feier des Gedächtnismahls voll von Zeugen Jehovas. Es regnete sehr stark, und alle waren, als sie ankamen, naß bis auf die Haut, aber wir hatten Handtücher bereit, damit sie sich abtrocknen konnten. Und jener Regen erwies sich als ein Segen, denn dadurch war es den Spionen der Behörden nicht möglich, sich auf die kleine Mauer vor unserem Haus zu setzen, um zu beobachten, was vor sich ging.
DANN NACH PUERTO RICO
Im Jahre 1957 wurden alle Missionare aus der Dominikanischen Republik ausgewiesen; als nächstes wurde uns daher Puerto Rico zugeteilt, und unsere genaue Zuteilung war die kleine Stadt Adjuntas in den Bergen. Wir arbeiteten tüchtig und hatten trotz Widerstandes Erfolg. Sowohl die katholische als auch die protestantische Geistlichkeit übte Druck auf die Menschen aus. Die Leute sollten bei der Kirche bleiben, in der sie großgeworden waren. Selbst die Bemühungen der griechisch-orthodoxen Kirche, dort Fuß zu fassen, wurden vereitelt. Aber für Jehovas Volk war es anders, denn wir erwiesen vielen Menschen Freundschaft, und wir hatten viele, die mit uns sympathisierten, darunter sogar führende Persönlichkeiten.
Ein freudiges Erlebnis hatte ich hier mit einem vierzehnjährigen Jungen, der in eine Wohnung kam, in der ich ein Bibelstudium durchführte, und sagte, er sei gekommen, um zu studieren. Er gab viele Kommentare und stellte eine Menge Fragen. Er war von Natur vergnügt und plauderte und lachte fast die ganze Zeit. Da ich nicht ganz sicher war, ob er aufrichtig war, stellte ich einige Fragen und fand heraus, daß seine Lehrerin bereits mit mir die Bibel studierte und daß sie sein Interesse geweckt hatte. Sie versicherte mir, daß er aufrichtig sei.
Und so war es; er machte beachtliche Fortschritte. Als er in eine größere Stadt ging, um seine Ausbildung zum Abschluß zu bringen, setzte er das Bibelstudium fort, beteiligte sich am Predigtdienst und ließ sich schließlich taufen. Er mußte eine Zeitlang bei seinen Angehörigen bleiben, um mitzuhelfen, mehrere jüngere Geschwister zu ernähren. Nach einer bestimmten Zeit richtete er es so ein, daß er den Vollzeitpionierdienst aufnehmen konnte. Später wurde er eingeladen, Sonderpionier zu werden, und jetzt ist er Aufseher der Versammlung, in der er als Pionierprediger dient.
Ich muß euch noch eine andere Erfahrung erzählen, die von einem jungen Mädchen in unserem Gebiet handelt. Diesem Mädchen war während seiner Erziehung ziemlich viel erlaubt worden. Seine Offenheit konnte, obwohl es aufrichtig und ehrlich war, bei den Menschen den Eindruck erwecken, es sei respektlos, ja unverschämt. Die Mutter war um ihre Tochter wirklich besorgt. Eines Tages kam die Tochter von der Schule heim und verkündete, die katholische Kirche sei für sie erledigt, obwohl ihre Mutter damals noch zur Messe ging. Von sich aus verließ sie die katholische Schule und entschied sich, ihre Ausbildung an einer öffentlichen Schule zum Abschluß zu bringen.
Als dann aber die Mutter anfing, mit uns die Bibel zu studieren, verurteilte die Tochter dies heftig. Bemühungen, sie zu bewegen, wenigstens das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt zu lesen, waren nutzlos. In ihrer Verzweiflung traf die Mutter ein Abkommen mit ihrer Tochter. Der Tochter war wohl eine Reise nach Spanien versprochen worden, und daher sagte ihr die Mutter nun, wenn sie das Buch vor der Abreise studieren würde, gäbe sie ihr noch einen zusätzlichen Geldbetrag für Reiseauslagen. Die Mutter sagte ihr, sie brauche nicht zu glauben, was in dem Buch stehe, bis sie es in einem regelmäßigen Studium zu Ende betrachtet hätte. Die Tochter war einverstanden, und die Mutter bat mich, das Studium durchzuführen.
Es war schwierig. Die Tochter versuchte, die einfachsten Darlegungen zu widerlegen. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben und auf all ihre Einwände zu antworten, und da sie einen guten Sinn für Humor hatte, versuchte ich, das Studium aufzulockern, wobei ich aber die der „guten Botschaft“ angemessene Würde aufrechterhielt. Als wir das Buch nahezu abgeschlossen hatten, hatte ich das Empfinden, sie hätte die biblische Botschaft des Buches nicht angenommen. Statt dessen bezweifelte ich die Vernünftigkeit der Mutter, die mit der Tochter ein solches Abkommen getroffen hatte. Doch zu meiner Überraschung fragte sie mich eines Tages, welches Buch wir als nächstes studieren würden! Jehova hatte gewiß dafür gesorgt, daß der Same aufgegangen war! — 1. Kor. 3:7.
Wenn ich auf die vergangenen einunddreißig Jahre des Vollzeitdienstes für die Interessen des Königreiches zurückblicke, muß ich mich einfach über das reiche Leben freuen, das ich gehabt habe. Ja, in einem gewissen Sinne bin ich reicher als König Salomo. Und wenn ich hier in der Versammlung Río Piedras in San Juan Familien mit kleinen Kindern im Königreichssaal sehe, muß ich einfach an die Segnungen denken, die Eltern empfangen werden, die den Rat aus Sprüche 22:6 beachten.
Ich zum Beispiel danke Jehova und meinen Eltern für eine so gute, gründliche Erziehung von Kindheit an, eine Erziehung, die mich so geformt hat, daß ich an Gottes Weg Freude habe.