Siehst du bei anderen nur die Schwächen?
EIN christlicher Prediger in den Achtzigerjahren sagte einmal: „Ich habe es mir zur Regel gemacht, meinen Freunden wenigstens zwei Fehler zuzugestehen.“ Er hatte Verständnis dafür, daß alle Menschen Schwächen haben, und erwartete daher nicht, daß seine Freunde vollkommen waren. Er machte nicht den Fehler, die guten Seiten seiner Mitmenschen wegen der Schwächen, die sie haben mochten, nicht zu sehen.
Doch die unvollkommene menschliche Natur neigt dazu, gerade das zu tun, nämlich anstatt der guten Seiten eines Menschen nur seine Schwächen zu sehen. Ein Redner hat einmal bei einem öffentlichen Vortrag einen Tintenfleck auf ein weißes Blatt Papier gemacht, es hochgehalten und die Anwesenden gefragt, was sie sähen. Alles, was sie sahen, war der Tintenfleck, nicht das weiße Blatt Papier.
Hast du jemals eine Frau als „herrisch“ verurteilt, weil du den Eindruck hattest, daß sie ihren Mann stets schulmeisterte oder ihm Vorschriften machte? Natürlich sollte sich ein Christ bemühen, eine solche Schwäche abzulegen. Wenn du an dieser Frau aber nur diese Schwäche gesehen hast, kann es sein, daß du für ihre vielen guten Seiten blind warst. Eine Frau, die ebenfalls mit dieser Schwäche behaftet war und ihre Wünsche nicht immer auf taktvolle Weise zum Ausdruck brachte, war jedoch eine treue Lebensgefährtin; sie war fleißig und selbstlos und war eine tüchtige Hausfrau. Interessanterweise störte offenbar ihre anscheinend herrische Art ihren Mann nicht annähernd so sehr wie andere. Sie sahen nur ihre Schwäche; doch ihr Ehemann wußte, daß sie auch gute Eigenschaften besaß, und erkannte diese Tatsache an.
Ähnlich verhält es sich mit dem israelitischen König David; anstatt auch seine guten Seiten zu sehen, sehen viele nur seine Fehler. Sie bringen seinen Namen nur mit dem Ehebruch in Verbindung, den er mit Bathseba beging, der Frau Urias, eines Mannes im Heere Israels. (2. Sam. 11:1-27; 1. Chron. 11:26, 41) So heißt es in dem Werk Jewish Encyclopedia darüber: „An Davids Charakter ist oft Kritik geübt worden, doch nur wer blind und voreingenommen ist, wird bestreiten, daß er im wesentlichen ein edler Mensch war“ (Bd. 4, S. 458).
Ja, David besaß viele vortreffliche Eigenschaften; über ihn wird vorwiegend Gutes berichtet. Welch einen Glauben er doch offenbarte, als er auszog und den Riesen Goliath tötete, der Jehova und die Schlachtreihen Israels verhöhnt hatte! (1. Sam. 17:4-54) Welche Großmut David doch zeigte, als er das Leben des Königs Saul, der entschlossen war, ihn zu töten, zweimal verschonte! (1. Sam. 24:4-22; 26:1-25) Welch eine Wertschätzung für die Anbetung Jehovas er doch dadurch bekundete, daß er den Wunsch hatte, Jehova einen Tempel zu bauen, der seiner würdig wäre, und daß er, als ihm dieses Vorrecht verwehrt wurde, dennoch eine riesige Summe spendete und andere dazu ermunterte, ebenfalls reichlich für den Bau des Tempels zu spenden! (1. Chron. 28:1 bis 29:19) Und welch große Liebe zu Jehova und welche Dankbarkeit für seine Güte doch durch die mehr als fünfundsiebzig Psalmen, die er schrieb, zum Ausdruck kommen!
In bezug auf Davids Sünde mit Bathseba sei noch erwähnt, daß David als hervorragender Musiker sehr wahrscheinlich ein Gefühlsmensch war. Er war auch ein Dichter und schilderte die Wunder und Schönheiten der Schöpfung mit bewegten Worten. So war es nur natürlich, daß er auch durch weibliche Schönheit in Erregung geriet. David war wie alle anderen Nachkommen Adams in Sünde empfangen worden. (Ps. 51:5) Nachdem er einmal gestrauchelt war und seine erste Sünde begangen hatte, fiel es ihm in seinem nutzlosen Bestreben, den Folgen seiner ersten Sünde zu entgehen, nicht mehr schwer, weitere Sünden zu begehen. Als ihm Urias Frau berichtete, sie sei schwanger, bemühte sich David, die Sache zu vertuschen. Doch dies mißlang ihm, und nun fürchtete er das Geschick, das ihr widerfahren würde, wenn ihr Mann sie des Ehebruchs beschuldigte. (Spr. 6:32-35) Als David aber zurechtgewiesen wurde, bereute er aufrichtig und beging nie wieder Ehebruch. Wie ihm von Jehova Gott vorhergesagt wurde, mußte er wegen seiner Sünde großes Leid erdulden, doch wurde er von ihm nicht verworfen. — 2. Sam. 12:1-12.
In unserer Zeit ist es leicht, solche Beispiele ebenfalls zu finden. Ein Büroangestellter mag gegenüber Kritik außerordentlich empfindlich sein, er mag außerdem dazu neigen, sich lautstark zu äußern und sich leicht aufzuregen. Dadurch mag er dir lästig werden. Ein anderer mag arrogant erscheinen, und auch ein solches Verhalten magst du wahrscheinlich nicht. Wir wollen diese Wesenszüge nicht rechtfertigen; beide Personen sollten sich bemühen, sich zu ändern. Dessenungeachtet haben beide auch ihre guten Seiten. Vielleicht sind sie gewissenhafte Arbeiter. Wenn du sie richtig kennenlernst oder sie unter anderen Verhältnissen beobachtest, magst du feststellen, daß sie ganz andere Menschen sind als du dachtest.
Besonders im Familienkreis sollte man auf der Hut sein: Ehepartner, Eltern und Kinder dürfen nicht zulassen, daß sie die guten Seiten der anderen wegen deren Schwächen übersehen. Das fällt uns leichter, wenn wir beachten, daß eine Schwäche oft nur eine gute Eigenschaft ist, die übertrieben wird oder die der Kontrolle entglitten ist, wie wir das sogar im Falle des Apostels Petrus beobachten können. Was für einen Eifer und was für einen Glauben er doch bekundete! In welchem Maße er doch von Gott gebraucht wurde! Aber wegen seiner herzlichen, feurigen und gefühlsbetonten Wesensart machte er manchmal auch Fehler, die andere, die nicht so impulsiv und hitzig waren wie er, nicht begingen. Wie falsch wäre es jedoch, würde man wegen dieser Fehler seine guten Seiten nicht sehen!
Es ist einem viel besser möglich, die guten Eigenschaften anderer zu schätzen, wenn man Einfühlungsvermögen oder Mitgefühl hat. Man sollte auch daran denken, daß die Schwächen anderer auf eine schlechte Gesundheit, auf ihre Erziehung oder auf andere Umstände, mit denen man nicht vertraut ist, zurückzuführen sein mögen.
Eine negative Einstellung würde sowohl dir als auch deinen Mitmenschen schaden. Sie würde trennend statt vereinend wirken. Damit würdest du der Freundschaft und der gegenseitigen Hilfeleistung die Tür verschließen.
Denke an die „Goldene Regel“. Auch du hast Schwächen. Du möchtest nicht, daß andere gegenüber deinen guten Seiten blind sind, nicht wahr? Bemühe dich daher, die guten Seiten und die lobenswerten Eigenschaften anderer zu sehen. Sie mögen zunächst nicht so offensichtlich sein wie ihre Schwächen, doch wenn du sie herausfindest, wirst du dich wahrscheinlich darüber sehr freuen. — Luk. 6:31.