Fragen von Lesern
● Ich weiß, daß eine Abtreibung vom biblischen Standpunkt aus verkehrt ist, da dadurch willentlich Leben vernichtet wird. Mir ist auch bekannt, daß der Text aus 2. Mose 21:22, 23 eine Stütze dafür ist. Doch kürzlich las ich in einer Bibelübersetzung, in der diesen Versen eine andere Bedeutung gegeben wird. Wie lauten und was bedeuten diese Verse in Wirklichkeit?
Die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift gibt 2. Mose 21:22, 23 wie folgt wieder: „Und falls Männer miteinander raufen sollten und sie eine Schwangere tatsächlich verletzen und ihre Kinder wirklich abgehen, aber es entsteht kein tödlicher Unfall, so soll ihm unbedingt gemäß dem, was der Besitzer der Frau ihm auferlegen mag, Schadenersatz auferlegt werden, und er soll ihn durch die Schiedsrichter geben. Sollte aber ein tödlicher Unfall entstehen, dann sollst du Seele für Seele geben.“
In verschiedenen anderen Übersetzungen werden diese Worte indes so wiedergegeben, daß einige zu der Ansicht gelangen könnten, eine Abtreibung sei nichts Schwerwiegendes. Gemäß der Einheitsübersetzung lautet der Text beispielsweise: „Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, daß sie eine Fehlgeburt hat, ohne daß ein weiterer Schaden entsteht, dann soll der Täter eine Buße zahlen ... Ist weiterer Schaden entstanden, dann mußt du geben: Leben für Leben.“ Hier könnte der Eindruck entstehen es sei nur von Belang, was mit der Frau geschieht, nicht aber, was dem Fetus zustößt. Aufgrund einer solchen Übersetzung könnte jemand schlußfolgern, der Schuldige sollte, falls die Verletzung zu einer Fehlgeburt führte, doch der Frau kein weiterer Schaden entstand, lediglich mit einer Geldstrafe belegt werden. Eine Abtreibung mag daher nicht als etwas Schwerwiegendes angesehen werden.
Diese Wiedergaben sind wahrscheinlich durch die Interpretation beeinflußt worden, die der jüdische Historiker Flavius Josephus, der im ersten Jahrhundert lebte, diesen Versen gab: „Wer eine schwangere Frau mit dem Fuße tritt, so daß die Frau fehlgebiert, er möge eine Geldstrafe zahlen, wie die Richter entscheiden werden, da er die Menge [des Volkes] durch die Vernichtung dessen, was in ihrem Mutterleib war, vermindert hat; und er soll auch dem Mann der Frau, die er getreten hat, Geld geben; wenn sie aber an dem Schlag stirbt, soll auch er getötet werden, denn das Gesetz betrachtet es für gerecht, daß Leben für Leben genommen wird.“ Professor William Whiston, von dem diese Wiedergabe der Schriften des Josephus stammt, weist darauf hin, daß dieser Kommentar zu 2. Mose 21:22, 23 „die Auslegung der Pharisäer zur Zeit des Josephus“ erkennen läßt (Jüdische Altertümer, Buch IV, Kapitel VIII, Absatz 33 und Fußnote).
Die Übersetzer der griechischen Septuaginta vertraten wiederum einen anderen Standpunkt. Ihre Wiedergabe von 2. Mose 21:22, 23 lautet: „Wenn zwei Männer miteinander streiten und eine schwangere Frau schlagen, und ihr Kind wird unvollkommen ausgebildet geboren [oder: „sie verliert einen Embryo“], soll er gezwungen werden, eine Strafe zu zahlen.“ Somit würde nach ihrer Auffassung eine Geldstrafe genügen, wenn die abgegangene Frucht noch nicht zu erkennbarer menschlicher Gestalt ausgebildet wäre. Wenn aber der Fetus „vollkommen ausgebildet“ oder „vollständig entwickelt“ wäre, sollte der Mann, der die Fehlgeburt verursacht hat, Leben für Leben geben. (Siehe die englischen Übersetzungen der Septuaginta von Sir L. L. Brenton und Charles Thomson.)
Da so viele verschiedene Ansichten bestehen, ist es sicherlich vernünftig, auf den hebräischen Originaltext zurückzugreifen, um festzustellen, was darin gesagt bzw. was nicht darin gesagt wird.
Der Text aus 2. Mose 21:22, 23 gehört zu dem Teil des mosaischen Gesetzes, der vom Ersatz bei Verletzungen handelt. Wie die nachfolgenden Verse zeigen, war der wichtigste Grundsatz „Auge für Auge, Zahn für Zahn“. Doch was sollte getan werden, wenn eine Schwangere verletzt wurde?
Eigentlich konnte die Verletzung verschiedene Folgen haben. Die Frau konnte einen vorübergehenden oder sogar einen dauernden Schaden davontragen, ohne daß sie daran starb. Die Verletzung konnte aber auch zu ihrem Tode führen. Was konnte mit dem ungeborenen Kind (oder den ungeborenen Kindern) geschehen? Wenn die Frau hochschwanger war, konnte der Schlag oder der Schock vorzeitige Wehen auslösen, so daß es zu einer Frühgeburt kam. Oder die der Mutter zugefügte Verletzung konnte zu einer Fehlgeburt führen, das heißt zu einer Vernichtung des sich im Mutterleib entwickelnden Lebens. Das, was das mosaische Gesetz über den einer schwangeren Frau zugefügten Schaden sagte, mußte sich offensichtlich auf verschiedene Möglichkeiten beziehen.
Wie ist nun der genaue Wortlaut dieses Textes aus dem mosaischen Gesetz? Wir führen nachstehend die wörtliche Übersetzung der hebräisch-englischen Zwischenzeilenübersetzung von Dr. G. R. Berry an (von rechts nach links zu lesen):
22 וְכִי־יִנָּצוּ אֲנָשִׁים וְנָגְפוּ
schlagen sie und ,Männer raufen wenn Und
אִשָּׁה הָרָה וְיָצְאוּ יְלָדֶיהָ
,Kind ihr ab geht und ,1schwangere 2Frau eine
וְלאֹ יִהְיֶה אָסוֹן עָנוֹשׁ יֵעָנֵשׁ
werden belegt soll er bestimmt ;Verletzung ist nicht und
,Geldstrafe einer mit
כַּאֲשֶׁר יָשִׁית עָלָיו בַּעַל
von Mann der ihn auf legen mag wie
הָאִשָּׁה וְנָתַן בִּפְלִלִים ׃
.Richtern den bei geben soll er und ,Frau der
23 וְאִם־אָסוֹן יִהְיֶה וְנָתַתָּה נֶפֶשׁ
Seele geben sollst du (und) ,ist Verletzung wenn Und
תַּחַת נָפֶשׁ ׃
,Seele für
Das hebräische Wort, das im Deutschen mit „Verletzung“ („Unfall“, „Schaden“, Hamp, Stenzel, Kürzinger; „Schaden“, Einheitsübersetzung) wiedergegeben wird, ist asón. Gemäß dem Lexikon von William L. Holladay bedeutet asón „tödlicher Unfall“. Das geht aus dem Gebrauch des Wortes asón an drei anderen Stellen der Bibel hervor (1. Mose 42:4, 38; 44:29). Somit ermöglicht die in der Neuen-Welt-Übersetzung gebrauchte Wiedergabe „tödlicher Unfall“ ein genaueres Verständnis dessen, was das mosaische Gesetz hier sagte.
Doch dann entsteht die Frage: Auf wen bezieht sich der Ausdruck „tödlicher Unfall“? Bezieht er sich auf das Kind, auf die Mutter oder auf beide? Einige Übersetzungen interpretieren den Text. So lauten die Verse in der Jerusalemer Bibel: „Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau stoßen, daß eine Fehlgeburt eintritt, sie aber nicht stirbt, dann soll der Schuldige eine Geldbuße leisten ... Stirbt sie aber daran, dann gilt: Leben um Leben“ (2. Mose 21:22, 23, Kursivschrift von uns). Diese Übersetzung läßt deutlich erkennen, daß es um einen tödlichen Unfall geht, doch das als Auslegung eingeschobene Wort „sie“ läßt den Eindruck entstehen, es sei lediglich eine Geldbuße auferlegt worden, falls die Frau aufgrund des Schlags eine Fehlgeburt hatte, sie selbst aber am Leben blieb. Kommt dies jedoch wirklich durch den hebräischen Text zum Ausdruck?
Die oben angeführte Zwischenzeilenlesart beweist, daß im Hebräischen die Anwendung des Wortes „Verletzung“ (tödlicher Unfall) nicht nur auf die Mutter beschränkt wird. In dem anerkannten Kommentar von C. F. Keil und F. Delitzsch wird daher gesagt, daß eine Geldbuße nur dann in Frage kam, wenn „keine Beschädigung [tödlicher Unfall] weder dem Weibe noch dem zur Geburt gekommenen Kinde“ zustieß. Dieser Kommentar weist in einer Fußnote darauf hin, daß im hebräischen Text das Wort lah, „ihr [Dativ von sie]“, hinzugefügt worden wäre, wenn das Gesetz in dem Sinne zu verstehen wäre, daß jeder Schaden einfach durch eine Geldstrafe abgegolten werden könnte, sofern die Mutter am Leben bliebe. Dann hätte der Vers gelautet: „Wenn zwei Männer streiten, und sie schlagen eine schwangere Frau, und ihr Kind geht ab, und ihr wird kein Schaden zugefügt [widerfährt kein tödlicher Unfall], so muß eine Geldbuße gezahlt werden.“ Doch die erwähnten Kommentatoren schlußfolgern: „Die Worte auf Beschädigung des Weibes allein zu beziehen, erscheint wegen des Fehlens von לָהּ [lah] untunlich.“
Folglich wurde eine Geldbuße dann auferlegt, wenn die Beschädigung zu einer Frühgeburt führte und weder die Mutter noch das Kind starb. Wenn indes der Schlag entweder zum Tod der Mutter oder zum Tod des Kindes in Form einer Fehlgeburt führte, forderte das mosaische Gesetz „Seele für Seele“.
Diese Auffassung stimmt mit anderen Bibeltexten überein, die zeigen, daß Jehova Gott einen lebenden menschlichen Embryo oder Fetus nicht lediglich als einen Klumpen Zellen im Mutterleib betrachtet (Ps. 139:13-16). Jehova unterstreicht dies durch seine Worte an den Propheten Jeremia: „Bevor ich dich im Mutterleibe bildete, kannte ich dich, und bevor du dann aus dem Mutterschoß hervorkamst, heiligte ich dich“ (Jer. 1:5). Außerdem stimmt die Forderung „Seele für Seele“ im Falle eines Mannes, der den Tod einer Frau oder eine Fehlgeburt verursacht, damit überein, daß in der ganzen Bibel Achtung vor dem Leben gelehrt und Totschlag verurteilt wird (1. Mose 9:6; 4. Mose 35:30, 31; Offb. 21:8).
In 2. Mose 21:22, 23 wird das schwerwiegende Vergehen einer Abtreibung somit keineswegs als etwas Geringfügiges hingestellt. Vielmehr zeigt diese Stelle, daß nach dem mosaischen Gesetz der Tod einer Frau oder der Tod des Kindes, mit dem sie schwanger war, durch die harte Strafe, die „Seele für Seele“ verlangte, gesühnt werden mußte.